Zur Frage der revolutionären Gewalt
Die Frage der Gewalt ist für viele eine rein moralische Frage. Dabei ist diese scheinbar „höhere Moral“, der Pazifismus, der Gewalt in jeder Situation per se ablehnt, bloße Sklavenmoral. Die Pazifisten hinterfragen nicht die Rechtmäßigkeit der bestehenden kapitalistischen Ordnung, die eben auch in letzter Konsequenz auf Gewalt beruht, um sie aufrechtzuerhalten, sondern lehnen nur eigene Gewalt zum Widerstand ab. Das macht sie zu perfekten Sklaven, nämlich jene, die ihr Joch tragen und sich auspeitschen lassen und nichts versuchen dagegen zu unternehmen. Es ist eine Form der bürgerlichen Ideologie, die auf die Werktätigen zugeschnitten wurde, um sie passiv zu machen. Die Bourgeoisie predigt dabei Wasser und trinkt selber Wein. Von der Polizeigewalt im eigenen Land bis hin zu militärischer Aggression im Ausland – all das wird auf alle erdenkliche Weise gerechtfertigt von der bürgerlichen Presse, nicht jedoch revolutionäre Gewalt. Wenn man das gegenüberstellt, so wird die Heuchelei augenscheinlich.
Über den einseitigen Gewaltverzicht
Einseitiger Gewaltverzicht führt nicht zum Gewaltverzicht beiderseits. Auch wenn man friedlich zur Macht kommen sollte, muss man dennoch vorbereitet sein, konterrevolutionäre Aufstände niederzuschlagen1. „Eine Revolution ist nur dann etwas wert, wenn sie sich zu verteidigen versteht.“2, war Lenin bewusst. Das geschieht mit der Waffe genauso, wie mit ideologischer Beeinflussung. Natürlich versucht eine jede herrschende Klasse die Massen in ihrem Sinne zu beeinflussen durch eine ideologische Hegemonie, wie eben der Pazifismus ein Teil der bürgerlichen ideologischen Hegemonie ist, um die eigene Macht zu stabilisieren. Letztendlich wird diese aber eben mit Gewalt aufrecht erhalten. Die Gewalt ist ein Mittel zum politischen Zweck, kein moralischer Selbstzweck.
Christlicher Glaube und die Gewalt
Auch in der Bibel gibt es Gewalt mit bestimmtem Zweck, im Alten Testament sowieso. Aber eben auch im Neuen Testament. Die bürgerlichen Kirchen versuchen Jesus als Pazifisten zu porträtieren, als sei er gegen Gewalt in jeder Situation gewesen. War dem wirklich so? Natürlich nicht. Es ist bekannt, dass Paulus schrieb: „Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat.“3 Martin Luther zitierte diese Aussage, um die bestehende Feudalordnung als „von Gott gewollt“ darzustellen4. Luther sagte, dass die weltliche Obrigkeit der Nichtchristen wegen bestehen müsste5 und dass „Christus kein Schwert“ geführt habe6. Natürlich ist bekannt: „Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen.“7 Friedfertigkeit heißt nicht, dass man immer pazifistisch ist. Es ist aber auch biblisch bekannt, dass Jesus bei der Tempelreinigung die Händler mit einer Peitsche vertrieb und ihre Tische umwarf8 und sprach: „Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, Frieden zu bringen auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert.“9 Thomas Müntzer wies auf diese Worte hin und dass man dies als Kampf gegen „die Bösen, die das Evangelium verhindern“ verstehen soll10. Jesus sagte tatsächlich nach dieser Aussage, dass jene es nicht wert seien, die seine Lehre nicht verwirklichen wollen, sondern andere Dinge vorziehen11. „Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.“12, sagte Jesus in der Bergpredigt. Und Paulus sagte: „Wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen.“13 Kann man das mit der Herrschaft einer Ausbeuterklasse, die eben nicht arbeitet, sondern nur herrscht und Mehrprodukt erhält, ohne zu arbeiten, konform gehen? Natürlich nicht. Das war auch Thomas Müntzer bewusst. Müntzer zitierte eben jenen Satz aus der Bergpredigt und attackierte, dass Luther eben die Reichtümer der Fürsten verteidigte14. Münster nannte die bestehende Kirche eine „alte Hure“ dafür, dass sie nicht wirklich das Christentum vertrat15. Müntzer erkannte, dass die Fürsten „die Grundsuppe des Wuchers, der Dieberei und Räuberei“ seien, weil sie „alle Kreaturen als Eigentum“ genommen hätten und „den armen Ackersmann, Handwerksmann und alles, was da lebt, schinden und schaben“16. Das erkannte Müntzer als die „Ursache des Aufruhrs“ an17. Außerdem trat Müntzer für die demokratische Kontrolle der weltlichen Macht durch die Gemeinde ein18. Damit schlug er sich auf die Seite der bürgerlichen Revolution gegen den Feudalismus und für die Etablierung einer Republik. Müntzer war auch bewusst, dass die Bauernschaft des Lesens nicht mächtig gewesen ist und dies dies von anderen ausgenutzt wurde. Er schrieb: „Da werden die armen bedürftigen Leute so sehr betrogen, daß es keine Zunge genug erzählen mag. Mit allen Worten und Werken machen sie es ja also, daß der arme Mann (aus lauter Sorge) um Nahrung nicht lesen lernte. Und sie predigen unverschämt, der arme Mann soll sich von den Tyrannen schinden und schaben lassen.“19 Dies kam durch die Auslegung der Aussage von Paulus „Der Glaube kommt durchs Hören.“20, welches seinem Römerbrief entnommen ist21. Luther nutzte dieses Zitat tatsächlich in seinen Ausführungen22. Müntzer führte an einer anderen Stelle aus, an der er auf das gleiche Thema zu sprechen kommt, dass die Bauern arm sind, weil sie den „erzgottlosen Tyrannen den Hals füllen“23 müssen, das heißt, den Feudalherren.
Wie sah es mit Luthers Ansichten aus? Luther sagte selbst, dass keine weltliche Macht, sondern nur Gott alleine bestimmen könne, wer in den Himmel gelangt und warnte mit den biblischen Worten „Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, doch die Seele nicht töten können; fürchtet euch aber viel mehr vor dem, der Leib und Seele verderben kann in der Hölle.“24 vor jenen, die nicht den Körper töten, sondern den Geist verderben25. Dabei war Luther selbst einer der Verderber des Geistes als ein Vordenker des Absolutismus. In seiner Rede vor dem Reichstag zu Worms im April 1521 nahm Luther Stellung für die deutschen Fürsten gegen die Katholische Kirche26. Luther lobte Herzog Georg von Sachsen als einen „allzu gütigen und sanften“ Fürsten27 und dieser half ihm später tatsächlich dabei, die revolutionäre Bauernschaft niederzuschlagen28. Dabei schrieb Luther einst: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“29 Dahinter steckt das kollektivistische Prinzip „Alle für einen, einer für alle!“. Auch Paulus, der von der Obrigkeit gegenüber der existierenden Herrschaft sprach, sagte dennoch: „Seid niemandem etwas schuldig, außer dass ihr euch untereinander liebt; denn wer den andern liebt, der hat das Gesetz erfüllt.“30 Also setzt auch er, wie Jesus es tat, die Nächstenliebe voran. Das ist natürlich ein Widerspruch zu seinen vorherigen Äußerungen, der weltlichen Obrigkeit Gehorsam zu zollen, obwohl diese nicht notwendigerweise mit den wesentlichen christlichen Idealen kompatibel ist, jedoch war Paulus eben nicht Jesus, dessen Wort unmittelbare Gültigkeit besitzt. Luther predigte dies in Worten, aber in seinen Taten sollten Christen bloß ihren feudalen Lehnsherren untertan sein. Deshalb kann man fragen:
Wo war die Nächstenliebe bei Luther? Wo war die Feindesliebe bei Luther? Es ging ihm nicht einmal darum, dass man die Revolution der Bauernschaft unterdrückte, weil er nicht-revolutionär gewesen wäre, etwa aus Reformismus, sondern weil er offen konterrevolutionär war. Luther behauptete, dass „ein Fürst den Himmel mit Blutvergießen verdienen kann“31, wenn er die revolutionären Bauern niedermetzeln würde. Luther behauptete, die Bauern hätten „zehnmal den Tod verdient“ und begingen „Frevel“ durch die „Beraubung und Plünderung von Klöstern und Schlössern“32. Er unterschlägt dabei, dass er die Katholische Kirche der Kirchen und Klöster beraubt hat, um sie den Feudalherren als Eigentum zu übertragen33. Thomas Müntzer kritisierte diese Tatsache34. Luther behauptete, die Bauern hätten nur vor die Feudalherren zu berauben35. Er unterschlägt natürlich, dass die Feudalherren nur vom von den Bauern geraubten Mehrprodukt leben. Luther rief auch aus: „So soll die Obrigkeit hier nun getrost fortdringen und mit gutem Gewissen dreinschlagen, solange sie eine Ader regen kann.“36 Damit stellte er sich bedingungslos hinter die weltliche Macht der Fürsten, gab ihnen den Vorrang, nicht der Bibel.
Martin Luther handelte damit nicht nur gegen biblische Grundsätze, er beanspruchte sogar darüber entscheiden zu können, wer in den Himmel gelangt und wer nicht. Dabei sagte er selbst einst, dass kein Mensch „Himmel und Hölle auf- oder zuschließen“ könne37. Er zitierte38 auch aus der Apostelgeschichte: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.“39 Auf dem Reichstag zu Worms sagte Luther noch: „Ich bin ein Mensch und nicht Gott. So kann ich meinen Schriften auch nicht anders beistehen, als wie mein Herr Christus selbst seiner Lehre beigestanden hat.“40 Luther lehnte es ab, dass man seine Strömung der Reformation nach ihm benennt: „Was ist Luther? Ist doch die Lehre nicht mein.“41 Später erklärte Luther einfach in einer Hetzschrift gegen Müntzer das Alte Testament für ungültig, weil Müntzer daraus Aussagen zitierte, die ihm widersprachen42. In der Praxis erklärte Luther auch noch das Neue Testament für ungültig, weil er sich auch der Lehre Jesu widersetzte. Es zeigt sich, dass Luther nicht ehrlich war, sondern eine eigene Agenda verfolgte, die er in Bibelpapier einwickelte. Thomas Müntzer warf Martin Luther vor im Hinblick auf dessen „Fürstenbrief“: „Er [Luther; L.M.] ist ein Herold, er will Dank verdienen mit der Leute Blutvergießen und (um) zeitlichen Gutes willen, welches doch Gott nicht (als seine Absicht) befohlen hat.“43 Müntzer warf Luther zurecht vor, dass dieser sich „an die Stelle des Papstes gesetzt“44 hätte, wenn man sich dessen Anweisungen betrachtet und in welch schroffem Widerspruch sie zum Christentum stehen. Luther ging es darum, eine geistliche Autorität zu sein, die willkürlich bestimmen konnte, was christlich bedeutet und was nicht, unter der Voraussetzung, dass es die Macht der Feudalherren aufrechterhielt. Deshalb warf Müntzer Luther auch zurecht Irrlehre vor45.
Wer Luthers blutrünstige Hetze gegen die Bauernschaft liest, wie er mit Lug und Trug die Feudalherrschaft verteidigte, so kann niemand ernsthaft behaupten wollen, er sei eine fortschrittliche Gestalt der deutschen Geschichte gewesen. Seine Äußerungen waren im Wesen nicht anders als diese Hitlers im Radio nach dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli 1944, dass die Beteiligten „unbarmherzig ausgerottet werden“ sollen46. So wie damals und heute die Herrschaft der Bourgeoisie erzreaktionär war und ist, so war es zur Zeit von Thomas Müntzer und Martin Luther die Feudalgesellschaft. Müntzer hingegen vertrat die revolutionäre Bourgeoisie in Form der Bauernschaft und Handwerker gegen den Feudalismus.
Wozu dieser längere Abriss der Spaltung der Reformation? Weil es auch im Christentum einen Kampf zwischen Reaktionären und Revolutionären gab und gibt. Es bestätigt die Lehre von Marx und Engels: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.“47 Die Reformation ist ein Beispiel von revolutionärer und konterrevolutionärer Gewalt in der deutschen Geschichte. Die Sklavenhaltergesellschaft zu Jesu Zeiten, die Feudalgesellschaft zu Zeiten von Martin Luther und Thomas Müntzer und die kapitalistische Gesellschaft heute stehen im antagonistischen Widerspruch zum christlichen Glauben. Die Reaktionäre versuchen durch Verfälschung die Bibel krampfhaft im Sinne der Ausbeuterklassen auszulegen, während die christlichen Revolutionäre den befreiungstheologischen Kern offenlegten.
Kommunistische Moral und die Gewalt
„Kein wahrer Kommunist kann per se für Gewalt sein. Kommunisten sind für eine friedliche Gesellschaftsform, die auf Gleichheit und Gerechtigkeit basiert.“48, stellte Azad richtigerweise fest als unseren prinzipiellen Standpunkt. Genauso aber auch, dass die Unterdrückung durch die Bourgeoisie eben der revolutionären Gewalt vorausgeht, sie nötig macht49. Ähnlich war es auch beim Roten Terror der Bolschewiki, dem der Weiße Terror der Weißgardisten vorausging. Nicht wir haben es in der Hand, wie viel Gewalt notwendig ist, sondern die Bourgeoisie. Würde die Bourgeoisie aufhören das werktätige Volk auszubeuten und zu unterdrücken, also vor uns kapitulieren – wozu bedürfte es dann der Gewalt bei der Machtergreifung? Dieser Fall wird aber nicht geschehen, oder wenn, dann nur aus temporärer Schwäche der Bourgeoisie, wie in Ungarn 1919. Im Juni 1919 brachte es die untergetauchte Bourgeoisie und ihre Anhänger zu einem konterrevolutionären Aufstand in Westungarn, obwohl die Machtergreifung des Proletariats im März desselben Jahres friedlich erfolgte. Zurecht stellte Lunatscharski fest: „Unsere Moral kann nicht intuitiv sein und aus kategorischen Vorschriften bestehen, sie muß ihre Richtigkeit erweisen.“50 Man kann die Gewaltfrage also nicht als Moralfrage stellen, sondern lediglich deren Notwendigkeit oder Nichtnotwendigkeit anhand der gegebenen Situation abschätzen. Mao Tsetung brachte es einst auf den Punkt: „Wenn es nach unserem Wunsch ginge, würden wir keinen einzigen Tag Krieg führen; aber wenn uns die Verhältnisse zum Kampf zwingen, können wir bis zum Ende kämpfen.“51 Unser Standpunkt muss also sein: So wenig Gewalt wie möglich, so viel Gewalt wie nötig. Üben wir zu viel Gewalt aus und in unnötigen Situationen, so erodieren wir unnötig unsere Massenbasis und tun Menschen Unrecht an, wenden wir zu wenig Gewalt an und keine, wo sie nötig wäre, dann geben wir uns selbst auf und machen uns vor den Werktätigen unseres Volkes und der ganzen Welt des Verrats schuldig. Das ist die dialektische Einheit der Gegensätze von Zuviel und Zuwenig, die wir in der Gewaltfrage zu beachten haben.
Politische Notwendigkeit der Gewalt
Klement Gottwald hat völlig recht, wenn er über die Rolle der Kommunistischen Partei sagt: „Ihr Ziel muß stets der Sturz der Herrschaft des Kapitalismus, die Errichtung der Diktatur des Proletariats sein.“52 Das benötigt die Vorbereitung der gewaltsamen Revolution, selbst wenn es dann zumindest bei der Machtergreifung laufen sollte, wie in Ungarn 1919, dass dies ohne einen Schuss abzufeuern erfolgt. Ohne diese Vorbereitung wird man einfach niedergeschlagen. Selbst wenn man eine parlamentarische Mehrheit hat, so ist dies wertlos, weil der bürgerliche Staat eben kein „neutraler Schiedsrichter“ ist, sondern trägt Klassencharakter. Die Bourgeoisie hat den Apparat in seinem Solde, unter anderem durch Parteispenden von Großkonzernen und anderen Formen der Bestechung. „Viele lassen sich mit Geld bestechen und es bewegt sogar das Herz der Könige.“53, besagte schon eine Weisheit der offiziösen Apokryphen. Das konnte nicht nur Allende erleben, sondern auch die Reformisten in Litauen 1926 und die Reformisten in Brasilien 1965. Das sind nicht einmal alle Fälle, sondern lediglich eine Auswahl. Es geht hier außerdem um ehrliche Versuche, den Sozialismus per Reform des bürgerlichen Staates einzuführen, nicht um sozialdemokratische Demagogen, die bloß den Kapitalismus stützten. Die Bourgeoisie wird entweder ihre Beziehungen innerhalb des bürgerlichen Staatsapparates spielen lassen, um gegen einen zu putschen, mit Unterstützung vom Militär und den Beamten oder, sollten diese sich im sehr unwahrscheinlichen Fall auf die Seite der Reformisten stellen, mithilfe von angeheuerten Kontra-Milizen. Das ist konterrevolutionäre Gewalt gegen friedlichen Reformismus. Genau deshalb ist es unsere Aufgabe, die gewaltsame Revolution durchzuführen, wie schon Marx und Engels sich dazu bekannten. Marx schrieb: „Die Revolution überhaupt – der Umsturz der bestehenden Gewalt und die Aufhebung der alten Verhältnisse – ist ein politischer Akt. Ohne Revolution kann sich aber der Sozialismus nicht ausführen.“54 Auch Engels schrieb von der „Notwendigkeit der gewaltsamen Revolution“55. Die Geschichte der zum Scheitern verurteilten Reformisten bestätigen seine Feststellung. Engels stellte schon in den „Grundsätzen des Kommunismus“ klar, dass ein friedlicher Übergang wünschenswert wäre, aber schätzte realistisch dessen Unwahrscheinlichkeit ein56.
Reformismus ist eine Vermengung des Sozialismus mit Liberalismus57. Die Grundbehauptung dessen ist, dass die bürgerliche Scheindemokratie schon völlige Freiheit der Werktätigen verwirklicht hätte. Das drückt sich unter anderem darin aus, den bürgerlichen Wahlen unmittelbare Aussagekraft zuzuschreiben und ihnen zu bescheinigen, „fair“ zu sein. Gramsci sprach zu recht dagegen aus: „Es ist notwendig, daß die Werktätigen die Macht übernehmen, aber sie werden das niemals erreichen können, solange sie sich einbilden, sie durch die Organe des bürgerlichen Staates erobern und ausüben zu können.“58 Es ist das obige Problem des Klassencharakters des bürgerlichen Staates zusammen mit der Unwahrscheinlichkeit, unter kapitalistischen Bedingungen überhaupt einmal eine parlamentarische Mehrheit zu erhalten. Die Bourgeoisie kann Wahlwerbung für ihre Parteien in viel größerer Menge als wir herausgeben, sie hat die Medien unter Kontrolle und das Bildungssystem. Es ist ein politischer Kampf von David gegen Goliath. David gewann mit einer Schleuder und nicht im Ringkampf. Wir können nur durch die Revolution unser Ziel erreichen, nicht durch Reformen.
August Bebel stellte einst fest: „Da keine unterdrückte Klasse frei werden kann, ohne daß sie ökonomisch frei wird, so ist in diesem Kampf der Geister stets das Ziel, eine neue ökonomische Grundlage zu schaffen, welche die Freiheit des Individuums ermöglicht. Diese Freiheit der Entwicklung allen zugänglich zu machen – also die Differenzierung der Individuen zu begünstigen – kann nur der Sozialismus, weil er uns Ausbeutung und Unterdrückung beseitigt.“59 Das Individuum kann nur im Kollektiv frei werden, nicht als Einzelperson. Ein Mensch ist immer Mitglied eines oder mehrerer Kollektive bzw. Gruppen. Das Primäre ist das Klassenkollektiv, die Arbeiterklasse und die anderen Werktätigen. Das Kollektiv und das Individuum bilden eine dialektische Einheit von Gegensätzen, was bei Bebel dadurch nicht so recht zum Verständnis kommt, weil er in diesen Ausführungen bloß den Nutzen des Sozialismus für das Individuum abhandelt. Lunatscharski brach es einmal auf folgende Formel herunter: „Der Mensch als Kollektivist ist unsterblich. Sterblich ist nur das Individuum.“60 Das Individuum kann alleine deshalb nicht im Mittelpunkt stehen, weil es vergänglich ist, relativ austauschbar und Individuen sich nur relativ unterscheiden, während sie die gleichen Grundbedürfnisse und Grundinteressen haben.
Mao Tsetung stellte schon als junger Marxist in Briefen an Cai Hesen die Frage, wie sich Reformisten vorstellen, dass es gerechtfertigt sei, die Ausbeutung der Bourgeoisie zu ertragen, obwohl diese die Minderheit der Bevölkerung ist; Mao erkannte, dass selbst, wenn der Reformismus möglich wäre, er sehr lange dauern würde und das kleinere Übel langfristig gesehen auch dann die Revolution wäre61. Diese Sichtweise ist korrekt. Selbst von einem „rein demokratischen“ Standpunkt aus gesehen ist es Unrecht, was durch die Bourgeoisie geschieht, denn es ist die Herrschaft einer ausbeutenden Minderheit über die werktätige Mehrheit, hauptsächlich der Arbeiterklasse, aber auch gegenüber der Kleinbourgeoisie. Die Diktatur der Bourgeoisie geht der Diktatur des Proletariats zuvor, also die reaktionäre Gewalt besteht bereits, die revolutionäre Gewalt folgt erst als Reaktion, als Abschüttelung der Ausbeutung und Unterdrückung. Das bedarf an Organisation und Klassenbewusstsein, um die Revolution zu verwirklichen. Packen wir es also an!
1https://www.die-rote-front.de/raeteungarn-im-kampfe-gegen-die-reaktion/ So zum Beispiel im Fall der Räterepublik Ungarn.
2„Bericht in der gemeinsamen Sitzung des Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitees, des Moskauer Sowjets, der Betriebskomitees und der Gewerkschaften“ (22. Oktober 1918) In: W. I. Lenin „Werke“, Bd. 28, Dietz Verlag, Berlin 1970, S. 115.
3Röm 13, 1 In: Neues Testament In: „Lutherbibel“, Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 2007, S. 185.
4Vgl. „Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei“ (1523) In: Martin Luther „Auswahl“, Deutsche Buch-Gemeinschaft, Berlin/Darmstadt/Wien 1961, S. 142.
5Vgl. Ebenda, S. 153.
6Ebenda, S. 147.
7Mat 5, 9 In: Neues Testament In: „Lutherbibel“, Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 2007, S. 6.
8Siehe: Joh 2, 13 ff In: Ebenda, S. 109.
9Mat 10, 34 In: Ebenda, S. 14.
10Vgl. „Die Fürstenpredigt“ (1524) In: Thomas Müntzer „Schriften und Briefe“, Diogenes Verlag, Zürich 1989, S. 76.
11Vgl. Mat 10, 37 ff In: Neues Testament In: „Lutherbibel“, Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 2007, S. 14.
12Mat 6, 24 In: Ebenda, S. 9.
132. Thess 3, 10 In: Ebenda, S. 238.
14Vgl. „Ausgedrückte Entblößung des falschen Glaubens“ (1524) In: Thomas Müntzer „Schriften und Briefe“, Diogenes Verlag, Zürich 1989, S. 88.
15Vgl. Ebenda, S. 102.
16Vgl. „Hochverursachte Schutzrede“ (1524) In: Thomas Müntzer „Schriften und Briefe“, Diogenes Verlag, Zürich 1989, S. 113.
17Siehe: Ebenda.
18Vgl. Ebenda, S. 112.
19„Ausgedrückte Entblößung des falschen Glaubens“ (1524) In: Ebenda, S. 85.
20Siehe: Ebenda.
21Siehe: Röm 10, 17 In: Neues Testament In: „Lutherbibel“, Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 2007, S. 183.
22Siehe: „Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei“ (1523) In: Martin Luther „Auswahl“, Deutsche Buch-Gemeinschaft, Berlin/Darmstadt/Wien 1961, S. 163.
23„Ausgedrückte Entblößung des falschen Glaubens“ (1524) In: Thomas Müntzer „Schriften und Briefe“, Diogenes Verlag, Zürich 1989, S. 94.
24Mat 10, 28 In: Neues Testament In: „Lutherbibel“, Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 2007, S. 14.
25Vgl. „Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei“ (1523) In: Martin Luther „Auswahl“, Deutsche Buch-Gemeinschaft, Berlin/Darmstadt/Wien 1961, S. 156/157.
26Siehe: „Rede auf dem Reichstag zu Worms“ (18. April 1521) In: Martin Luther „Auswahl“, Deutsche Buch-Gemeinschaft, Berlin/Darmstadt/Wien 1961, S. 96.
27Vgl. Martin Luther „Ein Brief an die Fürsten zu Sachsen von dem aufrührischen Geist“ (Juli 1524) In: Thomas Müntzer „Schriften und Briefe“, Diogenes Verlag, Zürich 1989, S. 175.
28Siehe: Ebenda, S. 174, Fußnote.
29„Von der Freiheit eines Christenmenschen“ (1520) In: Martin Luther „Auswahl“, Deutsche Buch-Gemeinschaft, Berlin/Darmstadt/Wien 1961, S. 74.
30Röm 13, 8 In: Neues Testament In: „Lutherbibel“, Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 2007, S. 186.
31Martin Luther „Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern“ (Mai 1525) In: Thomas Müntzer „Schriften und Briefe“, Diogenes Verlag, Zürich 1989, S. 188.
32Vgl. Ebenda, S. 185.
33Vgl. Martin Luther „Ein Brief an die Fürsten zu Sachsen von dem aufrührischen Geist“ (Juli 1524) In: Ebenda, S. 182.
34Vgl. „Hochverursachte Schutzrede“ (1524) In: Ebenda, S. 119.
35Vgl. Martin Luther „Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern“ (Mai 1525) In: Ebenda, S. 186.
36Ebenda, S. 187.
37Vgl. „Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei“ (1523) In: Martin Luther „Auswahl“, Deutsche Buch-Gemeinschaft, Berlin/Darmstadt/Wien 1961, S. 157/158.
38Siehe: Ebenda, S. 159.
39Apg 5, 29 In: Neues Testament In: „Lutherbibel“, Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 2007, S. 142.
40„Rede auf dem Reichstag zu Worms“ (18. April 1521) In: Martin Luther „Auswahl“, Deutsche Buch-Gemeinschaft, Berlin/Darmstadt/Wien 1961, S. 97.
41„Eine treue Ermahnung zu allen Christen, sich zu hüten vor Aufruhr und Empörung“ (1521/22) In: Ebenda, S. 109.
42Siehe: Martin Luther „Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern“ (Mai 1525) In: Thomas Müntzer „Schriften und Briefe“, Diogenes Verlag, Zürich 1989, S. 185. Luther schreibt dort: „Denn im Neuen Testament hält und gilt Mose nicht.“ Die Bücher Mose stammen aus dem Alten Testament.
43„Hochverursachte Schutzrede“ (1524) In: Thomas Müntzer „Schriften und Briefe“, Diogenes Verlag, Zürich 1989, S. 113.
44Ebenda, S. 116.
45Vgl. Ebenda, S. 122.
47„Manifest der Kommunistischen Partei“ In: Karl Marx/Friedrich Engels „Werke“, Bd. 4, Dietz Verlag, Berlin 1977, S. 462.
48„Maoisten in Indien“ (14. Oktober 2006) In: Azad (Cherukuri Rajkumar) „Maoists in India – Writings and Interviews“, Foreign Languages Press, Utrecht 2018, S. 22, Englisch.
49Vgl. Ebenda, S. 23.
50„Die Ethik und Ästhetik Tschernyschewskis im Urteil der Gegenwart“ (1928) In: Anatoli Lunatscharski „Philosophie – Kunst – Literatur“, VEB Verlag der Kunst, Dresen 1986, S. 300.
51„Gespräch mit der amerikanischen Korrespondentin Anna Louise Strong“ (August 1946) In: Mao Tse-tung „Ausgewählte Werke“, Bd. IV, Verlag für fremdsprachige Literatur, Peking 1969, S. 98.
52„Die kommunistische Bewegung bolschewisieren“ (Frühjahr 1925) In: Klement Gottwald „Ausgewählte Reden und Schriften“, Dietz Verlag, Berlin 1974, S. 11.
53Sir 8, 3 In: Apokryphen In: „Lutherbibel“, Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 2007, S. 962.
54Karl Marx „Kritische Randglossen zu dem Artikel ´Der König von Preußen und die Sozialreform. Von einem Preußen´“ (31. Juli 1844) In: Karl Marx/Friedrich Engels „Werke“, Bd. 1, Dietz Verlag, Berlin 1958, S. 409.
55Engels an das Kommunistische Korrespondenzkomitee in Brüssel (23. Oktober 1846) In: Karl Marx/Friedrich Engels „Ausgewählte Briefe“, Dietz Verlag, Berlin 1953, S. 27.
56Vgl. Friedrich Engels „Grundsätze des Kommunismus“ (Oktober/November 1847) In: Karl Marx/Friedrich Engels „Werke“, Bd. 4, Dietz Verlag, Berlin 1977, S. 373.
57Vgl. Engels an F. A. Sorge (18. Januar 1893) In: Karl Marx/Friedrich Engels „Ausgewählte Briefe“, Dietz Verlag, Berlin 1953, S. 546.
58„Sozialistisch oder kommunistisch?“ (13. Mai 1921) In: Antonio Gramsci „Zu Politik, Geschichte und Kultur“, Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig 1980, S. 95.
59August Bebel an Paul Natorp in Marburg (26. Juli 1895) In: August Bebel „Ausgewählte Reden und Schriften“, Bd. 5, K. G. Saur Verlag, München 1995, S. 68.
60„Whitman und die Demokratie“ (1917/1932) In: Anatoli Lunatscharski „Das Erbe“, VEB Verlag der Kunst, Dresden 1965, S. 234.
61Vgl. „Kommunismus und Diktatur“ (November 1920/Januar 1921) In: „Selected Works of Mao Zedong“, Vol. VI, Foreign Languages Press, Paris 2020, S. 18.