Welche Art von Kollektivität brauchen wir?
Es ist kein Geheimnis: Die Kollektivität in der Arbeit lässt zu wünschen übrig. Diese Erkenntnis ist aber ein Allgemeinplatz, wenn die sozialistische Bewegung klein ist und entsprechend es auf jeden Einzelnen besonders ankommt. Entsprechend lässt sich da nichts unmittelbar daran ändern, außer, es beteiligen sich mehr. Was man aber durchaus reflektieren sollte, ist die Frage, wie Kollektivität auszusehen hat. Es haben sich nämlich historisch falsche Anschauungen verfestigt, die es zu beheben gilt.
1. Die Makel der Einzelperson.
Allzu oft denken Leute, als würden sie ewig leben1, als hätten sie unendlich Zeit und entsprechend unendliche Möglichkeiten. Kurzum: Sie erkennen sich nicht als historische Personen, die unter gegebenen materiellen Verhältnissen leben, die ihre Möglichkeiten begrenzen. Aus diesem Grund gehen sie sorglos mit ihrem Leben um. Deshalb passt der Psalm 90, 12 so zutreffend: „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ Ohne die Erkenntnis des zeitlichen und materiellen Rahmens sehen sich viele gar nicht erst dazu genötigt, tiefer über ihr Leben nachzudenken. Entsprechend der Missachtung der materiellen Umstände wird auch die Person selbst idealistisch-individualistisch verschleiert betrachtet. Adorno sprach aus, was viele nicht wahrhaben wollen: „Sterben bestätigt bloß noch die absolute Irrelevanz des natürlichen Lebewesens gegenüber dem gesellschaftlich Absoluten.“2 Wenn man selbst nie existiert hätte, gäbe aus auch niemanden, der einen vermissen würde. Markus Aurelius sagte deshalb, dass man rechtschaffen sein soll und nicht nach Ruhm unter den Lebenden wie auch den Nachfolgenden sich kümmern soll, da auch diese sterben werden3. Selbst Ruhm und Nachruhm sind vergänglich. Deshalb heißt es in der Bibel: Alles ist eitel4. Personen sind vielleicht nicht absolut ersetzbar, denn es gibt keiner, der einem gleicht; in der Funktionalität der Gesellschaft aber sind Personen relativ zu ersetzen. Wäre dem nicht so, würde bei jedem abgeschlossenen Generationswechsel die Gesellschaft im Chaos versinken. Damit ist das Problem der Sterblichkeit der Einzelperson umrissen.
Es ist unmöglich, allwissend zu sein. Zhuangzi sagte: „Unser Leben ist endlich; das Wissen ist unendlich.“5 Eine Einzelperson kann eine Ikone auf ihren Fachgebieten sein, aber sie kann unmöglich sämtliche Fachgebiete meistern. Dafür reicht ein einzelnes Leben nicht aus. Die Einzelperson ist also darauf angewiesen, dass andere Wissen und Fähigkeiten besitzen, die sie selbst nicht besitzt.
Eine Einzelperson kann nicht an mehreren Orten gleichzeitig sein. Das ist selbsterklärend. Daraus folgt, dass eine Person sich nur um einen örtlich umgrenzten Bereich wirklichen kümmern kann. Selbst wenn man der Staatschef eines Landes ist, so ist es dieser Gesamtüberblick über das Land der Ort, an dem man ist. Das zeigt sich auch darin, dass sich Spitzenpolitiker selbst über die Lage in der Hauptstadt nicht völlig im Klaren sind, da diese im Gesamtüberblick auch nur ein Ort von vielen ist.
Menschen sind sterblich, nicht allwissend und können nicht an mehreren Orten gleichzeitig sein. Diese drei Bedingungen zwingen schon zu einer kollektiven Arbeitsteilung. Diese Arbeitsteilung taucht im Geschichtsbild vieler aber nicht auf.
2. „Große Einzelpersonen“ in der Geschichte.
Das bürgerliche Geschichtsbild ist voll von „großen Personen“, die im Alleingang mehr bewirkt haben sollen, als Millionen anderer. Es wenig derer gedacht, die um sie herum lebten und ihnen die Möglichkeit gaben, ihre Fähigkeiten so auszuleben. Dies ist bedauerlicherweise auch unter Genossen der Fall. Lenin, Stalin, Mao und Ulbricht sind hinreichend bekannt. Wem ist aber bekannt, dass Lenin und Stalin um sich herum unter anderem Dzierzynski, Molotow, Kaganowitsch, Shdanow und Malenkow um sich hatten? Wer weiß, dass sich in Maos Führungskollektiv unter anderem Tschou Enlai und Tschu De als Konstanten befanden, die sogar im selben Jahr, 1976, starben, wie er selbst? Wer ist sich dessen bewusst, dass Walter Ulbricht in seinem Kollektiv unter anderem nicht nur Ernst Thälmann und Wilhelm Pieck, sondern auch Hermann Matern, Karl Polak, Heinrich Rau und Gerhart Eisler sitzen hatte? Die erwähnten Kollektivmitglieder hatten alle einen großen Anteil am Erfolg des Sozialismus in der Sowjetunion, in China und in der DDR, auch wenn deren Namen vielen nicht geläufig sind, weil sie nicht DIE Frontperson schlechthin gewesen sind. Diese Größen der Geschichte wären niemals zu solcher Berühmtheit gekommen, hätten sie nicht die Unterstützung ihrer engen Genossen gehabt. Aus dieser falschen Sicht auf die Geschichte resultiert ein praktisches Problem, das bis heute nicht behoben ist.
3. Warum „Also sprach der Meister…“ kein marxistisches Konzept sein kann.
Die Gespräche des Konfuzius, die mit „Also sprach der Meister…“ anfangen, hatten sicherlich ihren historischen Wert darin, das Denken des chinesischen Volkes unter feudalen Verhältnissen zu vereinheitlichen. Eine wissenschaftliche Methodik existierte nicht, genauso wenig, wie keine rapiden Veränderungen in den gesellschaftlichen Verhältnissen zu erwarten war. Deshalb waren dies Gespräche des Konfuzius für die Funktionalität der Feudalgesellschaft in China genügsam. Man kann aber heutzutage auf eine solche Weise keine Debatten mehr führen.
Allzu oft wird heute noch in ideologischen Diskussionen ein Zitat einer historischen Autorität als ein Beweis für sich selbst genommen, als eine Art Axiom. Anstatt sich mit der historischen Situation zu befassen, die zu diesen Aussagen führte, wird sie außerhalb von Raum und Zeit gesehen, so wie Strenggläubige Bibelverse aus dem Kontext zitieren, als sei die Bibel eine Monographie. Kurt Gossweiler kritisierte seinerzeit bereits 1965, dass Klassikerzitate keine Selbstbeweise sind. Er sagte dazu: „Tatsachen stehen höher als jede noch so autoritative Äußerung – wo das nicht anerkannt wird, muß die Wissenschaft verdorren.“6 Argumentationsketten, die sich im Grunde nur auf Autorität gründen, sind unwissenschaftlich und damit aus marxistischer Sicht nichtig. Diese führt zur Kritiklosigkeit und zur Tabuisierung von Kritik an Führungspersonen, welche sich eben auf die historische Autorität versuchen zu stützen. Das führt dazu, dass der demokratische Zentralismus ausgehöhlt wird. Shdanow sagte einmal: „Ohne Kritik kann jede Organisation […] mit Fäulniskeimen infiziert werden. Ohne Kritik kann man jede beliebige Krankheit ins Innere hineintreiben, und dadurch wird es erschwert, mit ihr fertig zu werden.“7 Deshalb sei hier eine Lösung umrissen:
An die Stelle der Autoritätsgläubigkeit sollte eine Meritokratie treten auf der Grundlage von Wissen. Wer sich also mehr Wissen aneignet, der sollte auch als fähiger gelten für das dazu passende Aufgabenfeld. Dieser Gedankengang klingt so naheliegend, dass er eigentlich eine Binsenweisheit sein sollte. Schaut man sich aber um, so ist dem allzu häufig nicht so. Der Grund darin liegt, dass die individuellen Fähigkeiten oft nicht zu Genüge berücksichtigt werden.
4. Berücksichtigung der Unterschiede, statt Gleichmacherei.
Man kann keine Kollektivität als buchstäbliche „Gleicher unter Gleichen“ aufbauen. Ein Kollektiv besteht aus Mitgliedern mit verschiedenen Veranlagungen und Fähigkeiten. Man sollte diese nicht mit geheuchelter Gleichmacherei überspielen wollen. Das wäre primitiver Kollektivismus, wie in der Urgesellschaft8. Was wir also brauchen, ist ein kollektives Leitsystem, in welchem jeder seinen Fähigkeiten nach eingesetzt wird und die formelle Gleichberechtigung innerhalb des Kollektivs nicht als absolute Gleichheit ausgelegt wird im Sinne von „jeder kann alles machen“; ansonsten endet das so, wie bei Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne), der nicht einmal zu verstehen scheint, was eine Insolvenz für Auswirkungen hat9. Bestimmte Positionen brauchen eben bestimmte Qualifikationen. Man kommt also trotz einer kollektiven Leitung nicht umhin, dieses Kollektiv nach meritokratischen Gesichtspunkten zusammenzustellen.
Dieser neue Blick auf die Kollektivität muss sich auch in der Praxis umsetzen. Nur durch ihn ist es möglich, die Massenlinie zu verwirklichen. Die Massenlinie ist der Kokonstruktion in der pädagogischen Theorie ähnlich – ohne gegenseitiges Lernen von Führungskadern und Massen voneinander lässt sie sich nicht verwirklichen. In diesem dialektischen Spannungsverhältnis zwischen Fachqualifikation und Massenverbundenheit spielt sich dieser ganze Themenkomplex ab.
1 Siehe dazu: Mark Aurel „Selbstbetrachtungen“, Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig 1969, S. 38. Markus Aurelius kritisierte schon, dass viele so denken und den Tod, der über jedem hängt nicht sehen. Er rief dazu auf, ein rechtschaffenes Leben zu führen.
2 „Minima Moralia“ In: Theodor W. Adorno „Gesammelte Schriften“, Bd. 4, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2021, S. 265.
3 Vgl. Mark Aurel „Selbstbetrachtungen“, Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig 1969, S. 38/39.
4 Vgl. Prediger 1, 2.
5 http://www.zeno.org/Philosophie/M/Zhuang+Zi+(Dschuang+Dsi)/Das+wahre+Buch+vom+s%C3%BCdlichen+Bl%C3%BCtenland/1.+Esoterisches/Buch+III/1.+Stilles+Bescheiden
6 „Tatsachen stehen höher als jede autoritative Äußerung – Fragen zur wissenschaftlichen Analyse des staatsmonopolistischen Kapitalismus“ (1965) In: Kurt Gossweiler „Wider den Revisionismus“, Das Freie Buch, München 1997, S. 98.
7 „Referat über die Zeitschriften ´Swesda´ und ´Leningrad´“ (1946) In: A. Shdanow „Über Kunst und Wissenschaft“, Dietz Verlag, Berlin 1951, S. 36.
8 Vgl. Karl-Heinz Otto „Deutschland in der Epoche der Urgesellschaft“, VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1978, S. 21.