Weiter auf dem Kurs von Doi Moi – Vietnam nach Nguyen Phu Trong

Es ist schon bald vier Jahre her, seitdem ich das letzte Mal über Vietnam geschrieben habe1. Zwischenzeitlich ist Nguyen Phu Trong, der langjährige Generalsekretär der KPV und bedeutsame Ideologe der Partei in der Zeit seit der Einführung von Doi Moi, am 19. Juli 2024 verstorben. To Lam, der erst am 22. Mai 2024 ins Amt des Präsidenten von Vietnam gewählt worden war, weil sein Vorgänger Vo Van Thuong aufgrund von Korruptionsvorwürfen zurücktrat, wurde zum Nachfolger im Amt des Generalsekretärs ernannt. Er hielt beide Ämter bis zum 21. Oktober 2024 inne, als Luong Cuong zum Nachfolger im Präsidentenamt ernannt worden war.

Die Frage ist nun: Hat sich etwas grundlegend geändert?

Die einfache Antwort lautet: Nein.

Die ausführliche Antwort kann man hier ersehen:

Festhalten am bisherigen Kurs

Auf der Beerdigungsfeier für den verstorbenen Nguyen Phu Trong am 26. Juli 2024 hielt To Lam die Trauerrede. Er nannte Nguyen Phu Trong einen “außergewöhnlich exzellenten Anführer” und generell ein Vorbild auf jede erdenkliche für die KPV relevante Weise. Auch seine Bedeutung als langjähriger Chefideologe der KPV bleibt nicht unerwähnt. To Lam sprach:

Beharrlich und kreativ den Marxismus-Leninismus und das Ho-Chi-Minh-Denken anwendend, mit dem Ziel der nationalen Unabhängigkeit und des Sozialismus vor Augen, hat Nguyen Phu Trong, ein Banner der Theorie unserer Partei, die Theorie des Sozialismus und den Pfad zum Sozialismus in Vietnam, die Rolle der Kommunistischen Partei Vietnams und der am Sozialismus orientierten Marktwirtschaft verdeutlicht… Sein unschätzbares Erbe hat das starke Vertrauen in den Pfad zum Sozialismus konsolidiert, signifikant zur Entwicklung der kommunistischen Weltbewegung beigetragen sowie den Marxismus-Leninismus und das Ho-Chi-Minh-Denken in der heutigen Zeit weiterentwickelt.”2

Die KPV prägt nicht so inflationär neue Bestandteile der Parteiideologie, wie dies in China geschieht, aber es ist hier klar und deutlich erkennbar, dass Nguyen Phu Trong für die vietnamesischen Revisionisten mehr war als nur irgendeine Amtsperson. Es wäre wohl nicht übertrieben zu behaupten, dass man Nguyen Phu Trong faktisch zu einem Klassiker der Parteiideologie der KPV ernannt hat, neben Marx, Lenin und Ho Chi Minh.

Zu Neujahr 2025 gab Staatspräsident Luong Cuong ein Interview, in welchem er erklärte, dass die Staatsziele unverändert nationale Unabhängigkeit und Sozialismus seien3. Das war bereits unter Nguyen Phu Trong so, wie man an To Lams Trauerrede erkennen kann, und selbst schon zu Zeiten Ho Chi Minhs (wobei diese Ziele damals noch ernst gemeint gewesen sind, im Gegensatz zu heute). Es gibt also keine Veränderung in den formalen Staatszielen.

Dieses formelle Festhalten an der Parteiideologie, wie sie bisher war, zeigt sich auch in To Lams Artikel zum 95. Jahrestag der KPV, der am 3. Februar 2025 veröffentlicht worden ist. Er schrieb darin:

Im derzeitigen Kontext muss die Partei standfest in ihren ideologischen Fundamenten bleiben, den Marxismus-Leninismus und das Ho-Chi-Minh-Denken kreativ auf die Realität anwenden und den Pfad zum Sozialismus fest verteidigen.”4

Es wird sich also auf ideologischem Gebiet nichts ändern. Immerhin bleiben Vietnam dadurch auch Phraseologiekonstrukte im chinesischen Stil erspart.

Das vietnamesisch-chinesische Verhältnis

In seiner Antrittsrede nach seiner Wahl zum Generalsekretär (die Wochen vorher war er lediglich kommissarisch tätig) am 3. August 2024 erklärte To Lam, das die “revolutionären Errungenschaften” von Nguyen Phu Trong anzunehmen und hochzuhalten5. Damit stellte er klar, dass der bisherige Kurs der KPV fortgesetzt werden soll. Um es vorwegzunehmen: So kam es auch. Außerdem sandte Xi Jinping im Namen der KP Chinas Glückwünsche zur Wahl zum Generalsekretär der KPV6, so wie er To Lam schon für seine Wahl zum Präsidenten Vietnams beglückwünscht hatte7.

Im August 2024 reiste To Lam ziemlich bald nach seiner offiziellen Wahl zum Generalsekretär der KPV vom 18. bis 20. August nach China und traf sich dort mit Amtskollegen Xi Jinping. Die Vertiefung der Beziehungen beider Länder, wobei er dabei besonders das Wirken seines Vorgängers Nguyen Phu Trong hervorhob. Auch To Lam betonte, dass der “revolutionäre Prozess Vietnams” mit dem “revolutionären Prozess Chinas” eng verbunden sei8. Allein darin findet man wieder einmal die Orientierung Vietnams am Vorbild China, die sich durch die Geschichte zieht.

Diese Orientierung an China zeigt sich auch in Begrifflichkeiten. Als To Lam an der Universität Singapur am 12. März 2025 eine Rede hielt, sprach er folgende Worte:

Wir werden weiterhin die Reformen vertiefen, die Offenheit ausweiten und die umfassende und tiefgreifende internationale Integration verfolgen.”9

Diese Begrifflichkeiten werden gerne in sehr ähnlicher Weise von seinem chinesischen Konterpart Xi Jinping verwendet, nicht nur den berühmt-berüchtigten Begriff “die Reform vertiefen”. Es scheint, als würde die KPV noch offener die KP Chinas kopieren.

Technologie, Auslandskapital und Marktreformen

Vor den Vereinten Nationen in New York sprach To Lam am 22. September 2024 über wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt10. Diese Rede war aber vom konkreten Inhalt eher profillos und allgemein gehalten.

Am 15. Januar 2025 sprach To Lam in einer Rede auf einem nationalen Technologieentwicklungsforum über die gar nicht so rosige technische Ausstattung vietnamesischer Betriebe. Zwar sei Vietnam auf dem Papier vorne mit dabei was Produktion von Handys und Computern betrifft, aber in den Betrieben ausländischer Direktinvestitionen würden 89% des Wertes bereits als Teile importiert werden und in Vietnam lediglich die Montage erfolgen. Außerdem würden von diesen Betrieben 14% veraltete, 80% mittlere und nur 5% hochentwickelte Technologie verwenden11. Das bedeutet im Prinzip, dass der Fluss von ausländischem Kapital nach Vietnam das Land nicht technologisch vorangebracht hat, sondern es in Abhängigkeit von imperialistischen Warenketten geworden ist, in denen Vietnam als Niedriglohnland bloß das Montagewerk darstellt. Proportionale und vor allem qualitative Entwicklung sieht anders aus.

Wer deshalb glaubt, man würde sich in Vietnam von den Marktreformen und Privatisierungen abwenden, der liegt total daneben. Im Gegenteil, diese werden noch weiter ausgedehnt.

To Lam äußerte am 17. März 2025 Lob für den Anteil der Privatwirtschaft am vietnamesischen Wirtschaftswachstum und setzte das Ziel, dass dieser 70% des BIP im Jahre 2030 ausmachen sollte. Derzeit mache der Privatsektor 51% des BIP aus, über 30% des Staatsbudgets, habe über 40 Millionen Arbeitsplätze geschaffen (82% der gesamten Arbeitskraft) und würde etwa 60% des sozialen Investitionskapitals ausmachen12. To Lam behauptet, dass der Anteil des Privatsektors am BIP seit einem Jahrzehnt stagnieren würde. Wie durch offizielle Statistikzahlen in meinem Artikel von 2021 nachgewiesen, schwankte der Anteil des Staatssektors am BIP zwischen 2010 und 2018 bei etwa 25-30%. Da bleibt die Frage: Wie definiert To Lam “Privatsektor”, wenn doch bereits heute 70-75% des BIPs nicht im staatlichen Sektor erzeugt werden. Offenbar muss seine Definition enger gefasst sein als die Zusammenfassung aller nicht-staatlichen Betriebe.

Am 25. März 2025 äußerte To Lam, dass die Staatsbetriebe viele Ressourcen bekämen, aber mit ihnen ineffizient wirtschaften würden (was, sollten seine oben genannten Daten stimmen, nicht sein könnte) und sprach davon, Investitionsklima und Schutz des Privateigentums fördern zu wollen sowie an der “am Sozialismus orientierten Marktwirtschaft” festzuhalten und die Integration in den kapitalistischen Weltmarkt zu fördern13. Für Letzteres ist eine Anerkennung als vollwertige Marktwirtschaft durch den Westen praktisch unerlässlich.

Der vietnamesische Premierminister Pham Minh Chinh sprach am 13. März 2025 mit dem amerikanischen Botschafter in Vietnam Marc Evans Knapper, unter anderem bat er die amerikanische Seite, Vietnam als Marktwirtschaft anzuerkennen und somit Zugang zu fortschrittlicher Technologie zu geben14. Erst im vergangenen Jahr haben die USA diese Anfrage abgelehnt15 und sie werden diese höchstwahrscheinlich auch weiterhin ablehnen.

Am 28. März 2025 dankte To Lam während seines Staatsbesuchs in Brasilien Lula da Silva dafür, dass Brasilien Vietnam als Marktwirtschaft anerkennt16. Man erkennt, wie wichtig der vietnamesischen Regierung diese Anerkennung ist, denn ohne diese ist die Integration in den kapitalistischen Weltmarkt deutlich erschwert.

Fazit

Vietnam wird also auch weiterhin an Privatisierung und Marktwirtschaft festhalten und außerdem nicht an Nguyen Phu Trongs Erbe rütteln. Die Marktreformen dauern bereits seit fast vier Jahrzehnten an und es ist kein Ende in Sicht. Selbst die schwache Ausrede einiger revisionistischer Apologeten, dass die kapitalistischen Reformen unter Doi Moi ja nur temporär wären, ist heute, nach all den Jahrzehnten, nur noch eine peinliche Lächerlichkeit.

Sind das neue Erkenntnisse? Nein. Neu ist lediglich, dass To Lam relativ offen mit dem Problem umgeht, dass die ausländischen Privatunternehmen Vietnams Wirtschaft zwar auf dem Papier stark gemacht haben, aber sie weder fortschrittliche Technologie noch vollständige Produktionsketten mit sich brachten. Vietnams Wirtschaft ist somit eine semi-koloniale. Man erkennt bis heute den Unterschied zwischen China und Vietnam darin, dass China in der sozialistischen Zeit eine eigene Grundstoffindustrie geschaffen hat, während Vietnam sich auf den RGW verließ. Vietnams wirtschaftliche Proportionen sind dadurch bis heute aus dem Lot, sodass Vietnam nicht mehr als ein großes Montagewerk ist. In China hingegen findet eigene Forschung und Produktion vom Anfang bis zum Ende des Produktionsprozesses statt.

Vietnam bleibt also im Wesentlichen auf dem selben Kurs wie bisher, nur dass man sich nun um qualitativeres Wirtschaftswachstum zu bemühen.

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