Vom Vorteil des Scharfsinns

Analysen benötigen gründliche Recherche und ein geschärftes dialektisches Verständnis von den zugrundeliegenden Prozessen der untersuchten Sachverhalte. Diese Aussage ist klingt komplex und ist zu ausführlich. Möchte man sie kurzfassen, so lautet die Kernaussage: Wir müssen scharfsinnig sein. Was heißt das für uns?

Jedes Detail ist wichtig. Manchmal liegt der Unterschied wirklich in nur einem Buchstaben. Martens und Mertens hatten zwar fast denselben Namen, aber ihre ideologische Ausrichtung war entgegengesetzt. Während Martens die Partei der Arbeiter Belgiens als marxistisch-leninistische Partei schuf, machte Mertens aus ihr eine sozialdemokratische Partei. Manche Genossen besitzen den Scharfsinn der Unterscheidung nicht und halten an ehemals marxistischen Parteien fest, die sich schon vor Jahrzehnten bürgerlich gewendet haben.

Scharfsinnigkeit bei Untersuchungen kann sich auszahlen.

Ein buddhistisches Gleichnis handelt von zwei Mönchen, die auf einer Reise Elefantenspuren entdeckten. Der ältere der beiden fragte den jüngeren, was er erkennen könnte. Der jüngere sagte, dass es sich beim Elefanten um eine trächtige Elefantenkuh handelt, die auf dem rechten Auge blind ist. Der ältere Mönch lachte ihn daraufhin aus. Später fanden sie tatsächlich eine schwangere Elefantenkuh, deren rechtes Auge fehlte. Der ältere Mönch fragte daraufhin den jüngeren, wie er das wissen konnte. Dieser erwiderte: „Ich habe einfach nur genau hingeschaut. Der Abdruck der Hinterfüße war viel tiefer als der der vorderen, obwohl die Erde an dieser Stelle von gleicher Beschaffenheit war. Daraus habe ich geschlussfolgert, dass im Bauch des Tieres etwas Schweres sein muss, denn woher sollte der starke Druck auf die Hinterbeine sonst kommen? Anschließend habe ich mich umgesehen und dabei fiel mir auf, dass während auf der linken Seite alles kahlgefressen war, rechts jedoch noch überall fette und saftige Gräser in voller Höhe standen. Ein Elefant, der auf beiden Augen gut sieht, hätte solch gutes Futter gewiss nicht verschmäht. So schlussfolgerte ich: Dieses Tier ist gewiss auf dem rechten Auge blind, was sich kurze Zeit später dann auch als wahr herausstellte.“1 Durch gründliches, scharfsinniges Untersuchen der vorhandenen Beweise kann man aus manchmal schwer erkennbaren Details die entscheidenden Schlussfolgerungen ziehen.

Es gibt auch ein Beispiel für das absolute Gegenteil.

Ein anderes buddhistisches Gleichnis handelt von einem indischen König, der die Blinden seines Reiches herbeirufen ließ, um einen Elefanten zu untersuchen. Je einem Blinden zeigte man den Kopf, die Ohren, den Stoßzahn, den Rüssel, den Körper, den Fuß, den Rücken, den Schwanz und die Schwanzquaste. Jedem erzählte man: „Dies ist ein Elefant.“ Als man die Blinden anschließend befragte, wie ein Elefant beschaffen sei, so sagte der, der den Kopf untersuchte: „Ein Elefant ist gleich einem Topf.“ Der die Ohren betastete: „Ein Elefant ist gleich einem Worfelsieb.“ Der den Stoßzahn betastete: „Ein Elefant ist gleich einer Pflugschar.“ Der den Rüssel betastete: „Ein Elefant ist gleich einem Nahrungsspeicher.“ Der den Fuß betastete: „Ein Elefant ist gleich einem Pfosten.“ Der den Rücken betastete: „Ein Elefant ist gleich einem Mörser.“ Der den Schwanz betastete: „Ein Elefant ist gleich einem Stößel.“ Der die Schwanzquaste betastete: „Ein Elefant ist gleich einem Besen.“ Anschließend behauptete einer von dem anderen: „Nein, ein Elefant ist nicht so!“ Jeder der Blinden war davon überzeugt, dass sein Teilbereich des Elefanten ein Elefant im Allgemeinen wäre. Entsprechend gerieten sie in handgreiflichen Streit2. Wer fühlt sich dabei nicht an streitende Sektierer erinnert? Diese besitzen schließlich schon eine Meinung, bevor sie einen Gegenstand untersucht haben.

Was sollen diese Anekdoten? Sie sollen diesen Leninschen Grundsatz versinnbildlichen: Um einen Gegenstand wirklich zu kennen, muß man alle seine Seiten, alle Zusammenhänge und ´Vermittelungen´ erfassen und erforschen. Wir werden das niemals vollständig erreichen, die Förderung der Allseitigkeit wird uns aber vor Fehlern und vor Erstarrung bewahren.“3 Wenn wir nicht scharfsinnig untersuchen, sondern nur einige Oberflächlichkeiten beschauen, werden uns die notwendigen Details entgehen, um den Gegenstand zu beschreiben. Das kann dazu führen, dass man nicht alle erfassbaren Details erkennt, wie der Mönch, der den jüngeren Ordensbruder auslachte. Im schlimmsten Fall führt das dazu, dass man wie die Blinden subjektivistisch Einzelaspekte verallgemeinert. Wir sind haben Augen, die sehen können. Dennoch gibt es manche, die trotz funktionierenden Augen und Ohren scheinbar weder sehen noch hören können, entsprechend nichts verstehen4. Das ist viel gefährlicher, als wenn einem bewusst ein Sinnesorgan fehlt. Unaufmerksamkeit kann schweren Schaden anrichten bei Analysen und Beschlüssen.

Genau deshalb müssen wir scharfsinnig sein.

1 „Das Gleichnis vom blinden Elefanten“ In: „Das vollständige Zapiyu-Sutra“, Philipp Reclam jun. Verlag, Stuttgart 2020, S. 61/62.

2 Vgl. „Die Reden des Buddha“, Philipp Reclam jun. Verlag, Stuttgart 1983, S. 46/47.

3 „Noch einmal über die Gewerkschaften, die gegenwärtige Lage und die Fehler der Genossen Trotzki und Bucharin“ (25. Januar 1921) In: W. I. Lenin „Werke“, Bd. 32, Dietz Verlag, Berlin 1982, S. 85.

4 Vgl. Matthäus 13, 13.

//