Vom Entschluss zum Beschluss – Gedanken zur demokratischen Debattenkultur

Eines der Grundprinzipien des Marxismus ist die Kritik und Selbstkritik, um möglichst allseitig ein Problem im Kollektiv zu analysieren, einen kollektiven Entschluss zu formen und daraus wiederum einen bindenden Beschluss zu fassen. Um dieses Prinzip anzuwenden bedarf es der Debatte.

Debatten müssen ergebnisoffen geführt werden auf der Grundlage von materiellen Notwendigkeiten. Das heißt, dass die Grundlage tatsächlich gangbare Optionen sein müssen, statt ideellen Wünschen. Um zu erkennen, was möglich ist, muss man die Ergebnisse der Praxis analysieren, sowohl die unserer Bewegung, als auch des kapitalistischen Systems, um auf dem aktuellen Stand zu sein über den Klassenfeind. Lehren aus der Praxis ziehen, ob sie nun geschichtlich oder aktuell ist, bedeutet Qualifizierung. Man informiert sich dabei über Sachverhalte und bildet eine begründete Meinung heraus.

Es gibt natürlich auch Fälle, wo dies nicht getan wird. Otto von Guericke schrieb am Ende einer Replik auf unqualifizierte Einwände gegen seine Vakuumtheorie: „Den Versuchen ist mehr Glaubwürdigkeit beizumessen als der Unwissenheit, die immer Vorbehalte gegen die Natur zu erfinden pflegt.“1 Er drückte sich höflich aus. Mao Tsetung brachte es rabiater auf den Punkt: Hast du zu irgendeiner Frage keine Untersuchungen vorgenommen, dann verlierst du das Recht, darüber mitzureden.“2 Wenn sich jemand zu einem Thema äußert, von dem er buchstäblich keinerlei Kenntnisse besitzt, was soll dann dabei herauskommen, wenn dieser sich dazu äußert? Nichts, denn die Ideen sind eben nicht unbedingt wahr, wie es Hegel behauptete3. Natürlich kann es sein, dass diese Person einige Teilaspekte beurteilen kann und da sollte er auch tun. Aber ohne einen Überblick über das Ganze, kann man eben nicht mehr als Teilaspekte beurteilen. Das bedeutet eben „Die Wahrheit in den Tatsachen suchen“4, die wissenschaftliche Methodik der Beweisführung. Wenn man die wissenschaftliche Methodik der Beweisführung nicht in Debatten anwendet, was würde das Bekenntnis zum dialektischen Materialismus dann mehr sein, als bloß ein Wort? Solange es sich nicht um streng vertrauliche Angelegenheiten handelt, sollte man offen und ehrlich sein. Offenheit in der Aussprache ist eine Grundbedingung, worauf sich überhaupt Kritik und Selbstkritik entfalten kann.

Vom Entschluss zum Beschluss sollte man nicht übereilt gelangen, durch ein erzwungenes Ende einer Debatte, die noch nicht ausgegoren ist. Natürlich darf man auch nicht alles so zerreden, dass man vor lauter Debatten nicht mehr zur praktischen Arbeit kommt. Aber man braucht Klarheit in den wesentlichen Fragen unserer Bewegung und diese erreicht man nur durch eine Aussprache auf Faktenbasis. Fakten haben einen Doppelcharakter; sie sind auf der einen Seite demokratisch, auf der anderen diktatorisch. Die demokratische Seite ist, dass jeder eine Tatsache entdecken kann und sie richtig ist, egal wer sie aussprechen mag. Das ermöglicht die Objektivität. Die diktatorische Seite ist, dass Tatsachen eben höher wiegen als Worte und administrative Autoritäten. Wenn also jemand unrecht hat, weil er eine falsche Anschauung vertritt, dann kann man diese nicht durch Uminterpretation retten, sondern bloß durch deren Überwindung. Somit entkommt auch eine demokratische Debatte nicht gewisser zentralistischer Grundsätze.

1Otto von Guericke „Neue (sogenannte) Magdeburger Versuche über den leeren Raum“ (1672), Offizin Andersen Nexö, Leipzig 1986, S. 241.

2Gegen die Buchgläubigkeit“ (Mai 1930) In: Mao Tse-tung „Band V“, Verlag Arbeiterkampf, Hamburg 1977, S. 7.

4Vgl. „Der Platz der Kommunistischen Partei Chinas im nationalen Krieg“ (Oktober 1938) In: Mao Tse-tung „Ausgewählte Werke“, Bd. II, Verlag für fremdsprachige Literatur, Peking 1968, S. 233.

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