Über Prophezeiungen – Oder: Die Unvorhersagbarkeit von Ereignissen
Prophezeiungen ziehen sich durch die Geschichte der Menschheit. Die Bibel ist zum Beispiel voll mit verschiedenen Propheten, und der Koran beruht auf einem einzigen, der sich selbst als Prophet bezeichnete. Diese Prophezeiungen und deren Erfüllung innerhalb der heiligen Schriften bilden in sich ein geschlossenes Glaubenssystem, weshalb viele Menschen an ihre Botschaften glauben. Das ist der Stoff, aus dem Religionen gemacht werden. Es gibt aber auch nicht-religiöse Prophezeiungen, die sich davon gewissermaßen unterscheiden. Der Kernunterschied liegt darin, dass diese Art von Weissagung tatsächlich die Zukunft vorhersagen soll und keine in sich geschlossene Prophetengeschichte einer heiligen Schrift darstellen.
Das wohl berühmteste Beispiel für so eine Art von Weissager ist Nostradamus. Nostradamus schrieb seinem Sohn, dass seine Prophezeiungen bis zum Jahre 3797 reichen würden1. Trotz dieses genauen Enddatums seiner Prophezeiungen, gibt Nostradamus keine Jahreszuordnungen für seine Prophezeiungen an. Es gibt einige Nostradamus-Exegeten, die dies versuchen, ohne Erfolge vorweisen zu können. Der Grund liegt darin, dass Nostradamus´ Prophezeiungen vor allem eins sind: Vage und kryptisch. Das bedeutet, eine jede „Voraussage“ durch Nostradamus ist ohne massive Interpretation völlig nichtssagend. Es gibt wenige Ausnahmen, in denen Nostradamus doch konkrete Jahreszahlen liefert, aber diese liegen in nicht allzu ferner Zukunft. So schrieb er etwa, dass im Jahre 1607 die Zahl der Astrologen so groß werden würde, dass sie der Verfolgung ausgesetzt werden würden2. Da Nostradamus nicht einmal eine vage Ortsangabe liefert, wäre es sogar möglich, dass dieser Fall irgendwo eingetreten ist, schließlich ist laut der Bibel astrologische Wahrsagerei verboten3. Davon wusste Nostradamus sehr wohl, weshalb es sich dabei um keine wirkliche Vorhersage handelt. Das ist so, als würde man heutzutage sagen, dass in 20 Jahren Diebe bestraft werden würden – es ist eine Trivialität, dass so etwas eintreten wird. Für das Jahr 1609 sagte Nostradamus eine Wahl des römischen Klerus voraus4, was an sich schon sehr vage ist. Sollte damit die Wahl zum Papst gemeint sein, was die einzig sinnvolle Deutung wäre, so ist diese Voraussage falsch. Paul V. Wurde 1605 zum Papst gewählt und die nächste Papstwahl fand erst 1621 wieder statt, als er verstorben war. Nostradamus versagte also bei konkreten Vorhersagen. Diese falschen Vorhersagen werden von den Nostradamus-Anhängern heutzutage ignoriert. Stattdessen konzentriert man sich auf seine scheinbar zeitlosen Prophezeiungen. Diese sind aber lächerlich vage. Bleiben wir dazu einmal beim Thema Papst. In Centurie V steht geschrieben:
„Durch den Tod des sehr alten Papstes
wird ein Römer guten Alters gewählt werden;
von ihm wird gesagt werden, dass seine Sehkraft schwächelt,
aber lange wird er sitzen und beißend aktiv sein.“5
Die Problematik der Vagheit dieser Stelle liegt auf der Hand. Päpste sind stets „sehr alt“ und waren bis ins 20. Jahrhundert in den allermeisten Fällen Italiener (also „Römer“). Das macht diese Voraussage zu einer Trivialität. Genauso, dass ein alter Mann eine schlechte Sehkraft besitzt.
In Centurie X steht geschrieben:
„Der gewählte Papst, gerade gewählt, wird verspottet werden,
plötzlich unerwartet bewegt er sich schnell und ängstlich:
Durch zu viel Güte und Freundlichkeit, die zum Sterben provoziert,
führt ausgelöste Furcht zur Nacht seines Todes.“6
Die Verspottung eines Papstes kann leicht geschehen – durch seine Gegner, wie etwa Andersgläubige – das ist keine tiefe Voraussage, vor allem, da es sich nicht einmal um eine konkrete Voraussage eines konkreten Ereignisses handelt. Der Rest bleibt kryptisch, wodurch man hineinlesen kann, was man möchte. Das ist ein generelles Charakteristikum von Nostradamus´ Prophezeiungen, dass sie so ungreifbar sind wie Nachtschatten.
So heißt es in Centurie V:
„Sieben Verschwörer beim Bankett werden das Eisen
vom Schiff aus gegen die Drei blitzen lassen:
Man wird die beiden Flotten zum Großen bringen,
wenn der Böse den Letzteren in die Stirn schießt.“7
Man mag auch hier hineinlesen, was einem in den Sinn kommt, denn auch diese Stelle ist ohne reale Anhaltspunkte. Eine Interpretation würde also nur erfolgen, wenn man reale Ereignisse im Prisma dieser Vagheit brechen würde. Oftmals sehen solche Interpretationen auch tatsächlich wie ein Brechen aus, da mit Biegen und Brechen die Realität einem falschen Schema „passend gemacht“ wird. Dadurch wird der Sinn einer Prophezeiung als Zukunftsvorhersage aber umgedreht und somit ad absurdum geführt: Statt die Zukunft vorherzusagen wird die Vergangenheit in ein unpassendes Schemenkorsett gepresst.
Wollte man dies weiter auf die Spitze treiben, so könnte ich folgende Zeilen für mich versuchen zu beanspruchen, aufgrund meiner starken Ablehnung gegenüber Sekten und ihren Praktiken:
„Ein Mann wird wegen der Zerstörung von Tempeln und Sekten angeklagt,
die durch Phantasie verändert werden.
Er wird den Felsen eher Schaden zufügen als den Lebenden,
und die Ohren sind mit prächtigen Reden gefüllt.“8
Mal sehen, ob sich eine solche Prophezeiung eines Tages erfüllen kann, indem sie zur selbsterfüllenden Prophezeiung gemacht wird. Dies würde weder mehr noch weniger Sinn machen als irgendeine andere willkürliche Auslegung von Nostradamus. Nun aber zurück zum Ernst.
Laozi sagte einmal:
„Ohne aus der Tür zu gehen,
kann man die Welt erkennen.“9
Man braucht nicht einmal sich in der Welt umzusehen, um zu erkennen, dass Prophezeiungen a la Nostradamus nicht stimmig sein können. Sie sind vager als die Orakelsprüche von Delphi und biegsamer als Gummi. Dadurch, dass die Prophezeiungen von Nostradamus nicht einmal einem Zeitkontext zugeordnet sind, sind sie nicht einmal so konkret, wie die Orakelsprüche von Delphi und dadurch biegsam außerhalb von Raum und Zeit interpretierbar. Die wenigen konkret zeitlich greifbaren Prophezeiungen sind entweder Allgemeinplätze oder falsch. Auch birgt Nostradamus vor allem für Christen ein Problem: Jesus warnte vor falschen Propheten10. Laut Moses sollen solche falschen Propheten sogar sterben11. Nun ist es schwierig jemanden zu töten, der bereits tot ist. Nostradamus besaß zwar einen christlichen Anspruch, diesen konnte er aber durch nichts legitimieren. Entsprechend werden seine Prophezeiungen tendenziell nicht von Christen akzeptiert.
Es ist aber nicht so, als könnten Prophezeiungen nicht eine gewisse Massenwirkung auslösen. Im vergangenen Jahrzehnt waren Weltuntergangsfilme eine Mode, wie etwa der Film „2012“, der auf das Ende des Maya-Kalenders anspielte. Das Ende des Maya-Kalenders am 21. Dezember 2012 wurde hochstilisiert zu einem prophezeiten Weltuntergang, der dann doch ausblieb. Dennoch gab es damals eine Reihe von Menschen, die in das französische Bugarach gingen, weil sie sich dort vor dem prophezeiten Weltuntergang in Sicherheit wähnten12. Das ist nun ein ganzes Jahrzehnt her und von dieser Fehlprophezeiung ist nichts geblieben außer peinliches Schweigen über diesen Zwischenfall.
Bei Prophezeiungen von Nostradamus oder der Weltuntergangsmanie im Jahre 2012 mögen die meisten Menschen sagen, dass sie bloßer Unsinn sind. Anders verhält es sich, wenn die Anhänger der theoretischen Physik daherkommen und behaupten, es gäbe keinen freien Willen, weil selbst das menschliche Handeln aus den Gesetzen der Physik deterministisch vorhersagbar und somit vorherbestimmt sei. Diese Behauptung wird von theoretischen Physikern immer wieder in den Raum geworfen, ohne diese These beweisen zu können. Diese These ist, wie die Stringtheorie, zu einem Glaubensdogma der Theorie geworden, die sich von der realen Praxis so verselbstständigt hat, dass sie „realer als die Realität selbst“ geworden ist. Im Prinzip läuft dieser Ansatz darauf hinaus, gewissermaßen „wissenschaftliche Propheterie“ zu betreiben, oder, genauer „Propheterie mit wissenschaftlichem Anschein“. Ähnlich wie bei dir Stringtheorie wird dabei wieder das Problem sein, dass die These von der Vorhersagbarkeit des menschlichen Verhaltens aus den physikalischen Gesetzen „nicht einmal falsch“ ist, weil sie nicht nur nicht verifizierbar, sondern auch nicht falsifizierbar ist. Determinismus ist letztendlich das, worauf jede Art von Prophezeiung beruht, und er kann nur dadurch bewiesen werden, indem er eintritt.
Ein jedes absolut deterministisches System kann nicht funktionieren, weil die Welt kein vorprogrammierter Mechanismus ist. Man kann relativ deterministische Vorhersagen treffen bei Ereignissen, zu denen bekannte Vorbedingungen zu bekannten Ergebnissen führen, etwa bei einem chemischen Experiment nach einer Formel. Eine Übertragung auf die Menschheit führt sich ad absurdum. Die revisionistische „Unumkehrbarkeitsthese“ der Sowjetrevisionisten ist ein Beispiel dafür. Die Errichtung des Sozialismus in einem Lande bedeutet nicht, dass eine Konterrevolution unmöglich wäre. Im Gegenteil! Die revolutionäre Geschichte der Menschheit ist voll von temporären Rückschlägen, die manchmal Jahrhunderte andauerten, bevor sich die fortschrittliche Klasse über die rückständige Ausbeuterklasse zum letzten, endgültigen Male erhob. Wir sollten uns nicht auf Weissagungen und als solche zu verstehende Thesen verlassen, sondern einzig und allein auf die Analyse der realen Verhältnisse. Prophezeiungen mögen verlockend sein, weil sie scheinbar einem das eigene Denken ersparen, in der Realität sind diese aber bloße Illusionen, die zu schweren Fehlern in der Lebenspraxis führen. Wissen ist stets wertvoller als Mutmaßungen. Prophezeiungen sind letztendlich bloß unbewiesene Mutmaßungen, die man genauso gut übergehen kann. So sollten wir verfahren.
1 Vgl. Nostradamus „Die Prophezeiungen“, Suavis Verlag, Essen 2018, S. 5.
2 Vgl. Centurie VIII, 71 In: Ebenda, S. 100.
3 Siehe: 5. Mose 18, 10.
4 Vgl. Centurie X, 91 In: Nostradamus „Die Prophezeiungen“, Suavis Verlag, Essen 2018, S. 129.
5 Centurie V, 56 In: Ebenda, S. 67.
6 Centurie X, 12 In: Ebenda, S. 119.
7 Centurie V, 2 In: Ebenda, S. 60.
8 Centurie I, 96 In: Ebenda, S. 20.
9 http://www.zeno.org/Philosophie/M/Laozi+(Laotse)/Tao+Te+King+-+Das+Buch+des+Alten+vom+Sinn+und+Leben/Das+Leben/47.+Fernschau
10 Siehe: Matthäus 7, 15.
11 Siehe: 5. Mose 18, 20.