Über Luthers Obrigkeitsverständnis – Ein weiterer Denkanstoß an ehrliche Christen

Martin Luthers Obrigkeitsverständnis hat über Jahrhunderte Unheil in den Köpfen der deutschen Protestanten angerichtet. Das Ganze beruht auf der Zwei-Reiche-Lehre, als bestünde einerseits die Welt, andererseits der Glaube. Da es aber nur eine Realität gibt, kann dieser metaphysische Irrglaube nicht tatsächlich bestehen.

Es stimmt, dass Jesus sagte: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt.“1 Es stimmt aber auch, dass Jesus sich dennoch um alltäglich, ja gar tagespolitische Themen, kümmerte. Luther bestreitet das aber: Christus kümmerte sich um politische oder wirtschaftliche Fragen nicht, sondern er ist ein König, das Reich des Teufels zu zerstören und die Menschen selig zu machen.“2 So wie der Mensch aber nicht vom Brot allein lebt, so lebt er genauso wenig vom Glauben allein.

Besitzt die Bergpredigt etwa keine wirtschaftspolitischen Bezüge? Jesus sagte unmissverständlich: „Ihr sollt euch nicht Schätze sammeln auf Erden, wo Motten und Rost sie fressen und wo Diebe einbrechen und stehlen. Sammelt euch aber Schätze im Himmel, wo weder Motten noch Rost sie fressen und wo Diebe nicht einbrechen und stehlen.“3 Die verallgemeinerte Formel, die Essenz, dürfte den meisten bekannt sein: „Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.“4 Mammon stellt letztendlich die abgöttische Verehrung von Reichtümern dar. Für viele Laien ist das heutzutage nicht mehr verständlich, dass Jesus damit offenkundig diesen „Wohlstands“-Kult attackiert. Jesus ging aber an anderer Stelle noch deutlicher mit den Reichen ins Gericht.

In der Feldrede sprach Jesus: „Weh euch Reichen; denn ihr habt euren Trost schon gehabt.“5 Jesus ließ außerdem den reichen Jüngling stehen, weil er sein Privateigentum nicht aufgeben wollte, und sprach: „Leichter geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt.“6 Das schließt die Ausbeuterklassen, die eben die Reichen sind, letztlich vom Himmel aus. Und das soll weder wirtschaftlich, noch politisch sein?

Luther war ein Vertreter des Feudalsystems. Aus diesem Grund konnte er keine alternative Gesellschafts- und Wirtschaftsform zulassen. Er behauptete aus diesem Hintergrund heraus: „Die Gemeinschaft der Güter ist nicht dem Naturrecht gemäß. Sie ist nicht etwas Gebotenes, sondern etwas Zugelassenes.“7 Luther hat nur in einem Sinne damit recht: Es steht nirgends in Gebotform geschrieben: Du sollst eine Gütergemeinschaft schaffen! Wie aber Paulus sagte: „Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.“8 Betrachtet man die Worte Jesu, so kann man eher fragen: Was, außer einer Gütergemeinschaft, also dem kollektiven Gemeineigentum, soll denn vor Gott noch zulässig sein? Die Apostelgeschichte berichtet: „Die Menge der Gläubigen aber war ein Herz und eine Seele; auch nicht einer sagte von seinen Gütern, dass sie sein wären, sondern es war ihnen alles gemeinsam.“9 Haben die Frühchristen also das Christentum nicht verstanden, Luther hingegen schon? Das zu glauben, wäre an Maß der Lächerlichkeit unüberbietbar.

Hat sich Jesus etwa nicht politisch geäußert, als er sprach Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!“10 Jesus sprach sich dabei für eine gewisse Unterordnung in das Alltagsleben der staatlichen Obrigkeit aus, aber legitimierte sie damit nicht. Man kann eher sagen: Jesus erkannte die Tatsache an, dass die Römer eben die Kontrolle über Judäa ausübten. Mehr nicht.

Luther verbietet jeglichen Aufstand gegen die Obrigkeit: „Wo die Obrigkeit unser Feind ist, weichen wir, verkaufen, verlassen alles und fliehen von einer Stadt in die andere. Denn um des Evangeliums willen darf man keinen Aufstand erregen, um Widerstand zu leisten, sondern muß alles erdulden.“11 Luther zufolge muss mal also ein passiver Masochist sein. Es fällt aber ein berühmter Akt von Jesus ein, der dem widerspricht. Und deshalb die Frage:

War die Tempelaustreibung etwa kein aufständischer Akt gegen die damalige Obrigkeit? Falls dem nicht so gewesen sein sollte, wieso bedurfte Jesus dann der Gewalt mit einer Geißel12? Jesus kann froh sein, dass Luther nicht zu seiner Zeit gelebt hatte. Er wäre sonst unter den Pharisäern gewesen, die Pilatus gegenüber seine Hinrichtung forderten13.

Es ist ersichtlich, dass die Evangelien keine Grundlage für Luthers Anschauungen bietet. Einzig auf Paulus kann er sich berufen, weil dieser im Römerbrief schrieb: „Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott; wo aber Obrigkeit ist, ist sie von Gott angeordnet.“14 Der Logik nach wäre Gott für die Christenverfolgung im römischen Reich verantwortlich, weil er die römischen Kaiser ja beauftragt habe, wie auch für die unsäglichen Massaker des Hitlerfaschismus. Wo liegt denn darin der Sinn? Paulus war weder Prophet noch der Messias. Er war lediglich der erste christliche Theologe. Das erklärt auch die Widersprüche in seinen Briefen selbst. Abgesehen davon berief sich Luther auf Jesus als Person für diese Aussagen, ohne jegliche Belegstelle.

Auch das Alte Testament bietet keinen Grund für bedingungslosen Gehorsam, den Luther abverlangt. Es steht geschrieben: „Wenn ein Herrscher auf Lügen hört, werden alle seine Diener zu Frevlern.“15 Luther behauptete, dass die Bediensteten es besser hätten als die Herren, weil diese „nur ihre Arbeit zu verrichten brauchen“ würden16. Das ist, ohne zu übertreiben, die Logik, auf der das Naziregime agieren konnte. Es ist deshalb auch, neben Luthers fanatischem Judenhass, wenig verwunderlich, dass die Nazis Luther so vereinnahmten – sein absolutistisches Denken war dem faschistischen Gedankengut gar nicht so fern. Luthers Vernichtungsphantasien gegenüber den Juden setzten sie sogar in die Tat um, wie es geschrieben steht. Bei den Nürnberger Prozessen gab es Angeklagte, die inhaltlich wie Luther argumentieren wollten, um sich als „unschuldig“ darzustellen.

Hubertus Mynarek, ehemaliger katholischer Priester und Theologe, bezichtigt Luther dessen, eine frühe Form des „Überwachungsstaates“ eingeführt zu haben dadurch, dass er es verbot, „Sektenpredigern“ zuzuhören und es zur Pflicht machte, diese den Pfarrern oder der Obrigkeit zu melden17. Ob das typisch deutsche obrigkeitstreue Denunziantentum der Deutschen wohl darin tatsächlich seinen Ursprung hat? Jedenfalls sieht man darin, dass Luther zwischen Glaube und Herrschaft in diesem Falle nicht trennt. Die Theologie ist letztendlich religiöse Philosophie, ist nicht zu trennen von weltanschaulicher Betrachtung. Bultmann sagte deshalb zurecht: „Es ist eine Täuschung zu meinen, irgendwelche Auslegung könne unabhängig von weltlichen Vorstellungen sein.“18 Diese Nichttrennung bei Luther hatte ihren staatsmännischen Sinn: Es handelte sich um eine vormoderne Gesinnungspolizei. Man erkennt hier Luther ziemlich blank als einen feudalen Ideologen im Talar.

Man kann ersehen, dass Luther selbst politisch und wirtschaftlich agierte, auch wenn er dies als Theologe versuchte abzustreiten. Er legitimierte die absolutistische Herrschaft der Fürsten und das Feudalsystem. Die Ermordung seines Rivalen Thomas Müntzer nahm er sogar auf seine eigene Kappe19, wie auch die Abmetzelung der revolutionären Bauern unter dessen Führung20. Das war ebenfalls ein Politikum. Er behauptete aber, es sei ein „Befehl von Gott“ gewesen. Wäre dem so, dann wäre Luther nicht bloß Reformator gewesen, sondern ein Prophet, denn Gott hat sich den Menschen seit Jesu Zeiten nicht mehr offenbart. Das macht diese Behauptung höchst zweifelhaft, gar lächerlich, und lässt nur diesen Schluss zu: Für Luther war diese Berufung auf Gott bloß ein Taschenspielertrick im passenden Moment, um politische Ziele durchzusetzen. Falschprophetie selbst steht laut Bibel unter der Todesstrafe21. Luthers Obrigkeitsverständnis ist nicht nur falsch, sondern auch verheuchelt.

Fassen wir kurz zusammen: Luther klittert nicht nur jegliche Vernunft, sondern auch zutiefst die Bibel. Luthers Obrigkeitsverständnis ist mit der Bibel unvereinbar, somit mit dem christlichen Glauben.

Es ist Zeit mit dieser unchristlichen Anschauung zu brechen.

1 Johannes 18, 36.

2 Martin Luther „Tischreden“, Philipp Reclam jun., Stuttgart 1987, S. 184.

3 Matthäus 6, 19-20.

4 Matthäus 6, 24.

5 Lukas 6, 24.

6 Markus 10, 25.

7 Martin Luther „Tischreden“, Philipp Reclam jun., Stuttgart 1987, S. 210.

8 2. Korinther 3, 6.

9 Apostelgeschichte 4, 32.

10 Matthäus 22, 21.

11 Martin Luther „Tischreden“, Philipp Reclam jun., Stuttgart 1987, S. 197.

12 Siehe: Johannes 2, 15.

13 Siehe: Lukas 23, 1 ff.

14 Römer 13, 1.

15 Sprüche 29, 12.

16 Vgl. Martin Luther „Tischreden“, Philipp Reclam jun., Stuttgart 1987, S. 189.

17 Vgl. Hubertus Mynarek „Luther ohne Mythos“, Ahriman-Verlag, Freiburg 2012, S. 28 f.

18 Rudolf Bultmann „Jesus Christus und die Mythologie“, Furche-Verlag, Hamburg 1967, S. 62.

19 Also hab ich Münzern getödtet, deß Tod liegt auf meinem Halse.“ („D. Martin Luthers Werke“, Tischreden I, Hermann Böhlaus Nachfolger, Weimar 1912, S. 196)

20 Ich, Martin Luther, hab im affrur alle baurn erschlagen, dann ich hab sie heissen tod schlagen, all ir blut ist of meinem hals. Aber ich weis es of unseren Herrgott, der hatt mir das zureden befolhen.“ („D. Martin Luthers Werke“, Tischreden III, Hermann Böhlaus Nachfolger, Weimar 1914, S. 75)

21 Siehe: 5. Mose 18, 20.

//