Massenprotest und Massenorganisation
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Dieser Artikel sei als Diskussionsbeitrag verstanden, um Klarheit darüber zu schaffen, was eine Massenbewegung und was eine Massenorganisation ist. Wozu ist diese Frage wichtig? Im Hinblick auf die Gelbwesten in Frankreich und Fridays for Future in Deutschland und weiteren Ländern ist diese Frage aktuell.
Über einige aktuelle Protestbewegungen
Bei den Gelbwesten handelt es sich um „wilde“ Proteste, weil sie unorganisiert sind, eine bloße Bühne der verschiedenen teilnehmenden Parteien und Organisationen. Es gibt keine Protestkomitees. Deshalb sind diese Proteste am abschwellen, denn ohne ein gewisses Maß an Organisation, an Leitung, sind diese ein abbrennendes Strohfeuer: Es fackelt hell ab, aber davon bleibt langfristig nichts übrig1.
Bei Fridays for Future ist die Sache etwas anders. FFF ruft dazu auf, sich an Ortsgruppen zu beteiligen, sowie sich auf Landes- und Bundesebene zu organisieren2. Die Proteste fingen in einem ähnlichen Zeitraum wie die Gelbwesten an, aber schwollen stärker an und langsamer ab3. Dennoch, auch dieser Protest läuft sich langsam tot, hat seine Halbwertszeit von einem Jahr bereits überschritten. Die FFF-Gruppen in Berlin und Brandenburg kündigten im Januar 2020 an, dass sie nicht mehr wöchentlich demonstrieren werden4. Damit trugen sie der Tatsache Rechnung, dass die Demonstrationen keine Veränderung des politischen Kurses hervorrufen.
Warum sehe ich die Gelbwesten als Strohfeuer und dafür aber in Fridays for Future ein gewisses Potential, auch wenn diese Proteste „braver“ sind und ebenfalls eine abnehmende Tendenz haben?
Die Gelbwesten stellten zwar konkretere Forderungen5, aber ihr Hauptmanko ist eben der Mangel an Proteststrukturen. Man hatte Macron zwar Minimalkonzessionen abgerungen im Dezember 2018, aber etwas wirklich langfristiges wurde nicht erreicht. Der Protest verging so spontan, wie er gekommen ist. Der Protest verpuffte und es bleibt nichts greifbares übrig, außer der Erinnerung. FFF hingegen empfiehlt Ortsgruppen zu gründen, sich zu vernetzen und Delegierte auf Landes- und Bundesebene zu entsenden. Dadurch wird die Bewegung stabiler und aus der rein spontanen Massenaktion etwas planbares, zumindest bis zu einem gewissen Grad. Auch wenn die Proteste abschwellen, so bleibt immerhin etwas übrig: Die Vernetzung untereinander. Bei den Gelbwesten handelte es sich primär um unzufriedene Teile der Werktätigen, die politisch gesehen aus der Peripherie kamen und dorthin zurückgingen.
Der Vergleich mag etwas übertrieben wirken, aber im Kern ist es ähnlich: Die Gründung von Ortsgruppen, sowie den darauf aufbauenden Landes- und Bundesebene aus der Mitte der Demonstranten ist wie die Gründung von Räten. Nicht, weil diese Gruppen so revolutionär gesinnt wären und legislative Funktionen übernehmen würden, sondern aufgrund der Organisation der spontanen Aktionen. Wie auch bei den Räten muss man reaktionäre Einflüsse bekämpfen und versuchen, diese als Kanäle zu nutzen, um den antagonistischen Widerspruch aufzuzeigen zwischen dem Kapitalismus und einer überlebensfähigen Umwelt. Man muss versuchen unter ihnen neue Genossen zu werben und zu erziehen. Wenn man das ablehnen sollte, weil dieser Protest „kleinbürgerlich geführt“ sei – wie sollen wir dann jemals mit den Massen in Kontakt treten? Massenbewegungen zeichnen sich dadurch aus, dass an ihnen Menschen verschiedener politischer Couleur teilnehmen. Dieser Organisationsgrad ist aber noch nicht sonderlich hoch.
Der Zweck von Massenorganisationen
Das macht noch keine Massenorganisation aus. Man muss den Organisationsgrad anheben. Mao Tsetung fragte einst „Was ist die größte Macht?“ und gab als Antwort „Es ist die Vereinigung der Volksmassen.“6 Eben für diese Vereinigung bedarf es der Massenorganisationen, als Ausdruck der politischen Organisation der Massen. Dafür gibt es verschiedene Arten von Massenorganisationen. Für eine Gewerkschaft braucht man einen bedeutenden Rückhalt unter den Betriebsarbeitern, man kann keine gründen nur mit ein paar Mannen. Weil der Ansatz direkt im Betrieb ist und primär für die Rechte der Arbeiterklasse am Arbeitsplatz kämpft, bedarf es einer gewissen Größe, um überhaupt wahrgenommen zu werden und vor allem ein effektives Gewicht zu besitzen bei Streiks und anderen Arten des betrieblichen Klassenkampfes. Bevor man sowas gründet, bräuchte man Tausende, Zehntausende als Grundstock, die die sozialdemokratischen Gewerkschaften verlassen und sich dieser kämpferischen Gewerkschaft anschließen. Das steht also nicht zur Option. Anders sieht es aus bei Massenorganisationen, die nicht politisch-ökonomisch ausgerichtet sind, wie die Gewerkschaften, sondern politisch-gesellschaftlich, wie ein Frauenverband, ein Kulturverband, ein Jugendverband oder auch ein Umweltschutzverband. Das Tätigkeitsfeld ist primär die Straße, sinnbildlich für jeden Bereich des öffentlichen Lebens. Damit ist das Agitationsfeld größer.
Man kann die Frage stellen: Ist FFF etwa keine Massenorganisation, immerhin haben sie Ausschüsse? Nein, sind sie nicht, denn in den Handlungsempfehlungen steht zwar geschrieben, wie man sich vernetzen soll, aber es gibt keine festen Mitglieder und diese Handlungsempfehlungen sind eben nur Empfehlungen und kein Statut. Es wird dort nicht geregelt, wie man von der Basis der Protestler einmal gewählte Vertreter abwählen kann, wenn sie das Vertrauen verlieren, es gibt keine Rechenschaftslegung, es kann jeder teilnehmen, der gerade spontan Interesse hat teilzunehmen. Das ist eine reine „Einwegorganisation“, also nur für einen Protestzweck ohne längerfristige Ziele. Eher ist das mit einer Streikleitung zu vergleichen, als mit einer Gewerkschaft, um eine Analogie aus einer Massenorganisation zu nehmen. FFF ist am abebben, wie bereits erwähnt. Solche Strukturen lösen sich entweder durch Inaktivität irgendwann de facto auf, weil die Proteste im Sand verlaufen sind, oder es entsteht aus einer Initiative von einigen Teilnehmern die Gründung einer festen Massenorganisation aus diesen Proteststrukturen. Natürlich kann man aus den FFF-Ausschüssen nicht direkt eine Massenorganisation gründen, dafür haben diese Strukturen sich schon zu sehr erhärtet, dafür besteht innerlich über politische Fragen nicht genügende Einheit unter dem Großteil der Teilnehmer. Aber dennoch wäre es sicherlich möglich, diese Vernetzung untereinander zu nutzen, um mit den Elementen, die erkennen, dass Kapitalismus und ein nachhaltiger Umgang mit der Natur unvereinbar ist, einen Verband zu gründen. Man hätte zwar nicht so viele Mitglieder, wie bei FFF auf der Straße mitgelaufen sind, weil diese logischerweise nicht alle diese Überzeugungen haben, aber man hätte damit eine wichtige Chance genutzt, um organisatorisch voranzukommen. Wenn das nicht passieren sollte, dann wird FFF am Schluss wie die Gelbwesten verpuffen, auch wenn es Strukturen gab, die man als Organisationsplattform hätte nutzen können. Dann wären wir politisch trotz Massenprotesten keinen Schritt vorangekommen für unsere Sache.
Hier zeigt sich wieder einmal die Validität der Leninschen These:
„Das Proletariat besitzt keine andere Waffe im Kampf um die Macht als die Organisation.“7
3https://taz.de/Ein-Jahr-Fridays-for-Future/!5645996/ Am 20. September 2019 waren es 1,4 Millionen alleine in Deutschland, Ende November 2019 immerhin noch 630.000.
5https://www.stern.de/politik/ausland/frankreich–das-sind-die-forderungen-der-gelbwesten-8479118.html
6„Manifest über die Gründung der Xiang-Jiang-Rundschau“ (14. Juli 1919) In: „Mao´s Road to Power“, Vol. I, M. E. Sharpe, Armonk (New York)/London 1992, S. 318, Englisch.
7„Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück“ (Mai 1904) In: W. I. Lenin „Werke“, Bd. 7, Dietz Verlag, Berlin 1956, S. 419/420.