Marxismus oder Pragmatismus?
Der Begriff des Pragmatismus ist in aller Munde. Sehr viele bezeichnen sich gerne als Pragmatiker, weil sie dort hineininterpretieren „undogmatisch“ oder gar „ideologiefrei“ zu sein. Natürlich sind diese Menschen keine wandelnden Philosophielehrbücher zum Thema Pragmatismus. Dennoch färben grundlegende Anschauungen durch, weil sie zur vorherrschenden bürgerlichen Ideologie gehören.
William James war ein solcher Philosoph des Pragmatismus. Dieser erkannte mit Bezug auf Chesterton an, dass jeder Mensch eine Weltanschauung brauche1. Für ihn ist diese der Pragmatismus. Dieser beruht aber methodisch auf wackeligen Fundamenten. Das sieht man vor allem bei seiner Sichtweise darauf, was für ihn Wahrheit ausmacht.
William James behauptete, dass man von einer Wahrheit beides sagen könnte: „Sie ist nützlich, weil sie wahr ist.“ und „Sie ist wahr, weil sie nützlich ist.“2 Diese beiden Sätze sind für ihn gleichbedeutend. Darin liegt ein prinzipieller Fehler der Pragmatiker in der Erkenntnistheorie. Die Wahrheit ist immer nützlich, weil man nur auf ihrer Grundlage tatsächlich agieren kann. Das was einem nützlich wäre, ist aber nicht immer wahr. Wäre alles wahr, was einem nützlich wäre, dann gäbe es keine Lügen und keine Fehler. Der zweite Satz ist also kurzum bloßes Wunschdenken.
Im Alltag erkennt man diese Denkweise des öfteren: Leute glauben vor allem das, was zu ihrer Denkweise passt. Es ist nebensächlich für sie, ob es sich dabei um die objektive Wahrheit handelt. Das wird landläufig auch als „Bestätigungsverzerrung“3 bezeichnet. Eine Extremform davon ist, wenn sich eine Blase von Leuten herausbildet, welche sich gegenseitig in einem falschen Weltbild bestätigen, welches bloß von ihrem subjektiven Wunschdenken geleitet ist.
Die Klassiker des Marxismus-Leninismus waren nicht von Wunschdenken geleitet, sondern leiteten ihre Denkweise von den materiellen Verhältnissen der gesellschaftlichen Praxis ab. Mao Tsetung schrieb darüber: „Abgesehen von ihrer Genialität, konnten Marx, Engels, Lenin und Stalin ihre Theorie hauptsächlich deswegen aufstellen, weil sie zu ihrer Zeit persönlich an der Praxis des Klassenkampfes und der wissenschaftlichen Experimente teilnahmen; ohne letztere Voraussetzung hätte keinerlei Genialität zum Erfolg führen können.“4 Die Praxis ist also der Maßstab der Wahrheit.
Entgegen dem philosophisch idealistischen Wunschdenken erkannte William James durchaus an: „Menschliche Bemühungen sind darauf gerichtet, die Welt in bestimmter systematischer Weise täglich mehr zu vereinheitlichen.“5 Er geht letztendlich sogar von einem Erfolg davon aus: „Ein absolut Wahres in dem Sinne, daß keine künftige Erfahrung es ändern kann, das ist der ideale Punkt, gegen den alle unsere heutigen Wahrheiten eines Tages konvergieren werden.“6 Ein Beispiel dafür führt er an: Die einheitliche Zeit. Diese habe zur „Vereinheitlichung der Welt“ beigetragen, indem „jedes Ereignis sein bestimmtes Datum“ dadurch habe, anstatt von den „ungenauen und ungeordneten Zeit- und Raum-Erfahrungen des Naturmenschen“ abhängig zu sein7. Außerdem erkannte er an, dass „die Wahrheit zum großen Teil aus früheren Wahrheiten besteht“. „Die Überzeugungen der Menschen sind zu jeder Zeit eine Summe verdichteter Erfahrungen.“8, schreibt er weiter. Damit erkennt er sogar an, dass eine Entwicklung stattfindet aus der Zusammenfügung der einzelnen Puzzleteile der Erkenntnis. William James war durchaus in der Lage materielle Tatsachen anzuerkennen, so wie es der Alltagspragmatiker auf der Straße auch macht.
Im Widerspruch dazu sagt William James aber, dass der Pragmatismus „absoluten Monismus“ und „absoluten Monismus“ ablehne9. Diese Vereinheitlichung der Anschauungen mit der Zeit, die er aber anerkennt, läuft auf einen Monismus hinaus. Aus seiner Sicht solle sich der Pragmatismus aber auf die Seite des Pluralismus stellen10. Das verstehe, wer will!
Dem Pragmatismus fehlt, um langfristige Existenzberechtigung zu besitzen, eine objektive Erkenntnistheorie, die eben nicht von subjektivem Wunschdenken geleitet ist. William James sagte an einer Stelle sogar offen, dass der Pragmatismus nicht zum Ziel habe, eine „endgültige Lösung“ zu finden11. Das widerspricht wiederum anderen seiner Aussagen. Natürlich ändern sich wissenschaftliche Anschauungen entsprechend der neuesten Erkenntnisse. Letztendliches Ziel ist aber eine „endgültige Lösung“ zu finden, auch wenn das vielleicht nie vollständig erreicht sein wird. Man sollte wenigstens den Anspruch haben, danach zu streben. Der Pragmatismus versucht es nicht einmal. Dadurch wird die objektive Wahrheit aus dessen Sicht egal.
Letztendlich ist der Pragmatismus eine in sich widersprüchliche Ideologie. Aber er ist eine Ideologie, wenn sie auch eher wie ein Prototyp wirkt!
Das Problem des Pragmatismus als Ideologie ist nicht, dass er die Praxis so sehr gewichtet, sondern, dass er die Notwendigkeit der theoretischen Reflexion nicht richtig anerkennt, sondern schwankt und wankelmütig daherkommt. Entsprechend sind Menschen, die als Pragmatiker denken nicht verloren, aber man muss ihnen aufzeigen, welche Probleme diese Denkweise birgt im Hinblick auf die Erkenntnis und das Verständnis der Welt.
Gegenüber derartig gesinnten Leuten muss man argumentativ einen anderen Schwerpunkt legen als auf Leute mit anderer Weltanschauung. Es gibt in der Argumentation keine Weise, die alle Menschen gleichermaßen erreicht. Stalin höchstpersönlich schrieb im Jahre 1950 klar und deutlich: „Der Marxismus als Wissenschaft kann nicht auf der Stelle stehen bleiben – er entwickelt und vervollkommnet sich. In seiner Entwicklung muß sich der Marxismus selbstverständlich mit neuen Erfahrungen und neuen Kenntnissen bereichern – folglich müssen sich selbstverständlich seine einzelnen Formeln und Schlußfolgerungen im Laufe der Zeit verändern, müssen durch neue Formeln und Schlußfolgerungen ersetzt werden, die den neuen historischen Aufgaben entsprechen. Der Marxismus erkennt keine unveränderlichen Schlußfolgerungen und Formeln an, die für alle Epochen und Perioden obligatorisch wären. Der Marxismus ist ein Feind jeglichen Dogmatismus.“12 Dadurch wird deutlich, dass der Marxismus selbst gewissermaßen „pragmatisch“ ist in der geläufigen Verwendung des Begriffs. Diese Tatsache gilt es zu betonen, dass der Marxismus nicht aus einem auswendig gelernten Katechismus besteht (was uns ja von bürgerlicher Seite unterstellt wird), sondern aus Analysen der konkreten Situation, natürlich unter Berücksichtigung vergangener Erfahrungen. William James erkennt das ja auch an, nur um es später faktisch zu verwerfen.
Wir sollten also beim materialistischen Teil des Pragmatismus ansetzen und den idealistischen Teil ausmerzen, um die von ihm beeinflussten Menschen zu überzeugen.
1 Vgl. William James „Der Pragmatismus – Ein neuer Name für alte Denkmethoden“, Verlag von Dr. Werner Klinkhardt, Leipzig 1908, S. 1.
2 Ebenda, S. 128.
3 Bekannter im Englischen als „confirmation bias“.
4 „Über die Praxis“ (Juli 1937) In: Mao Tse-tung „Ausgewählte Werke“, Bd. I, Verlag für fremdsprachige Literatur, Peking 1968, S. 352.
5 William James „Der Pragmatismus – Ein neuer Name für alte Denkmethoden“, Verlag von Dr. Werner Klinkhardt, Leipzig 1908, S. 85.
6 Ebenda, S. 141.
7 Vgl. Ebenda, S. 111.
8 Ebenda, S. 142.
9 Vgl. Ebenda, S. 98.
10 Vgl. Ebenda, S. 101.
11 Vgl. Ebenda, S. 79.
12 „Der Marxismus und die Fragen der Sprachwissenschaft“ (Juni/Juli 1950) In: J. W. Stalin „Werke“, Bd. 15, Verlag Roter Morgen, Dortmund 1979, S. 225.