Lügen haben kurze Beine – Wie der Parteiausschluss von Heinz Keßler wirklich ablief

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Wer die Offen-siv liest, dem dürfte das Interview mit Heinz Keßler unter dem Titel „Die letzten Tage der SED und der Deutschen Demokratischen Republik“ bekannt sein. Heinz Keßler berichtete dort auch über seinen Parteiausschluss aus der SED-PDS im Januar 1990. Die Passage liest sich wie folgt:

Bevor sie mich eingesperrt haben, bin ich ´natürlich´ aus der Partei ausgeschlossen worden. Ich bekomme einen Brief von dem Vorsitzenden der Schiedskommission, und es waren schon die neuen Leute da, Schumann, Gysi und so weiter, da stand drin: ´Gegen Dich läuft ein Parteiverfahren. Grund: Antisowjetische Haltung.´ Ausgerechnet ich! Ich gehe also dahin, wo sie mich hinbestellt haben, es waren auch andere Genossen da, die ebenfalls ausgeschlossen werden sollten. Ich komme also da hin: die Schiedskommissionein wilder Haufen. Der Vorsitzende fängt an: antisowjetische Haltung. Ich sage: ´Pass mal auf, wir müssen mal unterscheiden. Meinst Du die Sowjetunion oder meinst Du Gorbatschow? Wenn Du Gorbatschow und die Seinen meinst, dann stimmt es.´ Und den haben sie gemeint, und so haben sie mich rausgeschmissen. Einer der wenigen, der gegen meinen Parteiausschluss gestimmt hat, war Täve Schur, das hat mich gefreut.“1

Der Inhalt ist komplett erlogen, völlige Fiktion, eine regelrechte Märchenstunde von Keßler. Damals, als Keßler im Jahre 2008 dieses Interview gab, konnten diese Aussagen nicht unabhängig überprüft werden durch die Öffentlichkeit, weil das Material im Archiv verschlossen lag. Mittlerweile liegen aber Protokolle und Dokumente zu den Ausschlussverfahren vor. Diese decken sich in keinster Weise mit Keßlers Darstellungen.

Fangen wir beim Brief vom Vorsitzenden der Schiedskommission, Günther Wieland, vom 12. Januar 1990 an. Dieser lädt Heinz Keßler lediglich wegen seiner ehemaligen Politbüromitgliedschaft vor und bittet ihn um Stellungnahme zu ausgewählten Themen2. Dort findet sich nirgends der Vorwurf „antisowjetische Haltung“.

Entsprechend stimmt es auch nicht, dass der Vorsitzende der Schiedskommission ihn unmittelbar nach Erscheinen wegen angeblich „antisowjetischer Haltung“ konfrontiert hätte3. Heinz Keßler schrieb in seinem Antwortbrief vom 16. Januar 1990: „Ich habe die Umgestaltung [Perestroika; L. M.] in der Sowjetunion historisch für notwendig und richtig gehalten.“4 An dieser Passage wurde mitten während der Anhörung Anstoß genommen, aber nicht von Günther Wieland, sondern von Joachim Lochmann. Er nannte Keßler ein „moralisches Schwein“ und sagte: „Du hast unsere Partei im Lande mit Füßen getreten, unsere politischen Ziele, und möchtest noch die Sowjetunion mit in dieses Spiel hineinnehmen.“5 Hat Keßler mit den Worten „Pass mal auf, wir müssen mal unterscheiden. Meinst Du die Sowjetunion oder meinst Du Gorbatschow?“ gekontert, so wie er sich 2008 heldenhaft selbstinszenierte? Nein, denn der Name Gorbatschow taucht in der ganzen Anhörung nicht einmal auf! Auch keine Aussage Keßlers, die einem solchen Statement auch nur nahekäme. Stattdessen legte er noch einmal ein Gelübde auf die Perestroika ab: „Ein Wort zur Umgestaltung. Ich stehe zu dem, was hier in meinem Bericht an die Schiedskommission zum Ausdruck gebracht wurde, daß ich von Anfang an die Umgestaltung in der Sowjetunion für richtig und für notwendig gehalten habe und halte und während meiner gesamten Tätigkeit diesen Standpunkt, wo immer ich die Möglichkeit hatte, vertreten habe gegenüber sowjetischen Genossen, bei uns und auch in anderen Gremien.“6 Keßler betreibt im Prinzip dasselbe Spielchen wie Honecker7: Er versucht sich im Nachhinein als jemand darzustellen, der sich praktisch von Anfang an gegen die Perestroika gestellt hätte, was aber von zeitgenössischen Quellen nicht gedeckt wird.

Insgesamt ging es beim Verfahren von Keßler um den Vorwurf von Privilegien, Korruption und Vorteilsnahme durch sein Amt im Politbüro. Was Keßler also fast zwei Jahrzehnte später behauptete, ging also ohnehin meilenweit an der Wahrheit vorbei.

Stimmt es denn nun wenigstens, dass Täve Schur „einer der wenigen“ war, der gegen den Parteiausschluss gestimmt hätte? Nein, nicht einmal das entspricht der Wahrheit. Es gab keine Gegenstimmen gegen den Ausschluss, lediglich drei Enthaltungen8. Es kann ja sein, dass er sich hier fehlerinnert, da es keinerlei Gegenstimmen gab und er somit die Enthaltungen als Gegenstimmen im Kopf behielt. Man spricht ja gerne davon, wie unzuverlässig Zeugenaussagen sein können. Das betrifft vor allem Detailfragen. Aber es stimmt nicht einmal das große Ganze, wenn man sich die anderen Behauptungen Keßlers zur Überprüfung vornimmt. Außer dem Anlass des Parteiausschlusses an sich ist im Prinzip jedes Detail eine Erfindung von Heinz Keßler, wie man ersehen konnte.

Heinz Keßler hätte 2008 Selbstkritik üben können für frühere falsche Anschauungen, aber er vermied es genauso wie Erich Honecker nach 1989/90. Stattdessen versucht er sich durch eigenwillige Geisteskreationen, durch Lügen, aus der Affäre zu ziehen und sich sogar selbst zu heroisieren. Dem ist durch die Publikation der Protokolle und Dokumente zu den Parteiausschlussverfahren von Januar 1990 endgültig ein Riegel vorgeschoben.

Auch dieses Beispiel zeigt wieder einmal, dass man nicht ungeprüft Aussagen als „Fakt“ glauben darf. Wir müssen uns immer wieder Lenins Wort ins Gedächtnis rufen:

Nicht aufs Wort glauben, aufs strengste prüfen – das ist die Losung der marxistischen Arbeiter.“9

1Heinz Keßler „Die letzten Tage der SED und der Deutschen Demokratischen Republik“ In: Offen-siv Ausgabe Mai-Juni 2017, S. 57.

2Siehe: (Hrsg.) Gerd-Rüdiger Stephan/Detlef Nakath „Ausschluss – Das Politbüro vor dem Parteigericht“, Karl Dietz Verlag, Berlin 2020, S. 281.

3https://www.rosalux.de/dokumentation/id/45208/ausschluss-das-politbuero-vor-dem-parteigericht-1 Wer dem gedruckten Wort nicht glaubt, kann sich hier auch die Tonbandaufnahme anhören.

4(Hrsg.) Gerd-Rüdiger Stephan/Detlef Nakath „Ausschluss – Das Politbüro vor dem Parteigericht“, Karl Dietz Verlag, Berlin 2020, S. 283.

5Ebenda, S. 293.

6Ebenda, S. 295.

8Siehe: Ebenda, S. 298.

9 „Über Abenteurertum“ (9. Juni 1914) In: W. I. Lenin „Werke“, Bd. 20, Dietz Verlag, Berlin 1961, S. 358.

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