Kurt Eisner – Ein Balanceakt auf dem Mittelweg

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Die Bayerische Räterepublik ist ein Traditionspfeiler unserer Bewegung, aber sie hat eine gewisse Vorgeschichte, welche zumeist mit Kurt Eisner personifiziert wird. Schließlich war er der erste Ministerpräsident des Freistaat Bayern und hatte bereits Räte neben dem bürgerlichen Staatsapparat. Dass er selbst keine Räterepublik ausrief nimmt schon vorweg, dass er ein Menschewik war. Immerhin gab er es auch selbst zu, als er gegen den Leninismus Stellung bezog: „Wir hören jetzt sehr viel von den Bolschewisten. Ich bin keiner. Meine Überzeugung ist dagegen.“1 Wenn es bloß darum ginge, Kurt Eisner als Menschewik zu „überführen“, dann könnte man mit diesem Zitat die Analyse direkt beenden, denn er bekennt sich selbst dazu. So ein Manöver wäre aber arg billig. Stattdessen soll es um seine konkreten Anschauungen gehen, die er vertrat und nach denen er handelte. Trotz seiner Halbheiten ist seine Person ein kleines Kapitel der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung.

Bevor Kurt Eisner den Freistaat Bayern ausrief, war er keineswegs politisch betrachtet ein unbeschriebenes Blatt. Er war immerhin seit 1898 SPD-Mitglied und wechselte im Jahre 1917 zur USPD über. Aus dieser Zeit sind Werke von ihm überliefert. Im Jahre 1896, also vor seinem SPD-Beitritt, verfasste Kurt Eisner einen Artikel zum Internationalen Sozialistenkongress in London im gleichen Jahre. Er nahm dort positiven Bezug auf das Erfurter Programm und sprach davon, dass die Sozialisten „im Geistigen das Manchestertum zur ungehemmten Entwicklung bringen“ sollen2. Er sagte jedoch im gleichen Artikel auch noch: „Das Manchesterprinzip muß auch im Geistigen überwunden werden, sofern und soweit es sich in gesellschaftlichen Institutionen verkörpert.“3 Eisner bleibt vage, was er genau meint. Möglicherweise hatte er eine Form der Meritokratie dabei im Sinn. Eisner war dafür die Bildungseinrichtungen der Gesellschaft, vom Kindergarten bis zur Universität, jedem zugänglich zu machen4. Er war also für eine Bildungsreform. Außerdem äußerte er folgenden Satz: „Der Sozialismus ist nicht nur ein Ideal, ein schöner Traum, ein frommer Wunsch, er ist eine Notwendigkeit selbst dann, wenn er nur ein Notbehelf sein sollte.“5 Der erste Teil ist richtig, wie jeder Marxist weiß. Aber der zweite Satz ist sinnlos: Wann soll der Sozialismus bloß ein „Notbehelf“ sein? Der Sozialismus ist eine Gesellschaftsordnung und kein Flicken für ein Loch in der Hose. Die Widersprüche des Kapitalismus drängen zu seiner Errichtung, er ist zu keiner Zeit ein „Notbehelf“, denn das würde suggerieren, dass dies die „letzte Wahl“ einer Personengruppe sein würde. Aber die Bourgeoisie wird den niemals einführen, nicht mal im Angesicht ihrer eigenen Vernichtung. Eine weitere Falschbehauptung von Eisner: „Die Individualisierung beginnt erst dort, wo die Gemeinschafts-Institutionen aufhören.“6 Er stellt hier Individuum und Kollektiv in einen antagonistischen Widerspruch zueinander, der so nicht existiert. Natürlich kann man das Verhältnis auf eine falsche Weise, somit antagonistisch, behandeln, zum Beispiel durch eine Überzentralisierung oder durch zu viele individuelle Freiheiten, die das Zusammenleben in der Gruppe stören oder gar zerstören. Was Eisner aber falsch macht ist, die Ignorierung der dialektischen Einheit der Gegensätze hier: Ein Kollektiv besteht aus mehreren Individuen; ein Individuum ist Teil eines Kollektivs. Eisner begriff also hier die Dialektik des angerissenen Problems nicht.

Im Juni 1905 veröffentlichte Eisner einen Artikel über die Beziehungen von Gewerkschaft und Partei. Er bestritt, dass der Bergarbeiterstreik im Januar/Februar desselben Jahres ein politischer und kein wirtschaftlicher Streik gewesen sei7. Er gab aber kurz darauf zu, dass eine Trennung von Wirtschaft und Politik bloß „methodologisch“ sei, führte aber die politische Komponente auf die politischen Parteien zurück8. Einser wandte sich dagegen, wenn man Gewerkschaften alleine das politisch Feld überlässt9. Eisner kritisierte offenbar eine gewisse Spontanität der Gewerkschaftsbewegung. Eisner schrieb über die Rolle der Partei: „Auch die Partei schafft doch Organisationen und wirkt erzieherisch zu planmäßigem Handeln.“10 Die Hauptaufgabe sah er in der „Erweckung des Klassenbewusstseins“11. Diese Aussagen tragen avantgardistische Züge, aber es fehlt ein Konzept, wie dieser Vorhutcharakter in der Praxis verwirklicht werden soll.

Ebenfalls im Jahre 1905 veröffentlichte Eisner einen Artikel, der sich mit dem bürgerlichen Horrorszenario des Kindesraubes durch einen „Zuchthaus-Staat“ als in der Demagogie verwendeten Zukunftsbildes eines angeblich sozialistischen Staates auseinandersetzt12. Eisner zeigt auf, dass der bürgerliche Staat die Kinder den Eltern unter anderem durch die Schulpflicht entreißt, die einst eine revolutionäre Forderung gewesen ist, aber reaktionär missbraucht wurde zu dieser Zeit, um die Kinder zu indoktrinieren in diesen „Drillanstalten“13. Eisner schrieb weiter: „Die Schule lehrt das göttliche ewige Recht der Ausbeutung.“14 Diese Aussage ist sogar tatsächlich mit antireligiösen Äußerungen verbunden, Eisner sieht also keinen Widerspruch zwischen Christentum und Ausbeutergesellschaft. Er sprach sogar von einer „Pfaffenherrschaft in der Volksschule“15, womit er auf den Religionsunterricht hinaus will. Aber ist das denn die Hauptsache in der Schule? Eisner regt sich praktisch bloß über reaktionäre Inhalte im Religionsunterricht auf und hinterfragt nicht den reaktionär befüllten Lehrplan an sich. Theodor Neubauer kritisierte in den 20er Jahren, dass allzu viele Sozialdemokraten sich zu sehr auf die Bekämpfung des Religionsunterrichtes in den Schulen fokussierten und den reaktionären Charakter der bürgerlichen Schule an sich übersahen. Bildung und Klassenkampf sind eben nicht zu trennen. Für Eisner jedoch war dies eine Angelegenheit, die mit ein paar Reformen zu erledigen wäre. Er schrieb: „Auch die Sozialdemokratie erstrebt die Staatsschule, aber eine Staatsschule, über die ein Parlament des demokratischen Wahlrechtes letzten Endes entscheidet. Der Kampf um die Schule ist somit ein Kampf um das Wahlrecht.“16 Das ist bloßer Reformismus innerhalb des bürgerlichen Staates. Das zeigt, dass seine Forderung „Es gilt die Expropriateure der proletarischen Kinderseelen zu expropriieren!“17 bloßer Verbalradikalismus gewesen ist.

Im November 1905 machte beschwerte sich August Bebel darüber, dass gewisse Personen um ihn Personenkult betrieben. „Es ist wahr, in unserer Partei wird innerhalb gewisser Kreise Personenkultus getrieben.“18, merkte Bebel dazu an. Bebel sah dahinter ein Komplott aus Revisionisten, die ihn loswerden wollten und schrieb weiter: „Mich, den man verbrennen will, macht man zu einer Art Halbgott auf Kosten derjenigen, für deren Interessen einzutreten die Sechs vorschützen.“19 Wer waren „die Sechs“? Es handelt sich dabei um Paul Büttner, Kurt Eisner, Georg Gradnauer, Julius Kaliski, Wilhelm Schröder und Heinrich Wetzker20. Kurt Eisner war also mal an einem revisionistischen Komplott gegen August Bebel beteiligt. Es ging offenbar darum, durch Karrierismus Posten in die Hand zu bekommen, um den Kurs der Partei abzuändern. Das spiegelte sich auch in weiteren Artikeln von Kurt Eisner wider.

Im August 1908 verfasste Kurt Eisner einen Artikel über die Budgetbewilligung durch die SPD Baden. Zu Beginn des Artikels machte er die richtigen Aussprüche „Wenn man aneinander vorbeiredet, dann kann natürlich aus jeder Debatte nichts anderes herauskommen als steigende Erbitterung, auch dann, wenn man die Absicht hat, nur wirklich theoretisch zu diskutieren und zu sachlicher Klarheit zu kommen.“21 und „Es ist dem Menschen nicht vergönnt, im voraus allgemeingültige ewige Rezepte für das politische Handeln zu entwerfen.“22. Ersteres Zitat dürfte offensichtlich verständlich sein, letzteres weist daraufhin, dass man nicht im voraus durch Vorsehung eine völlig richtige, unabänderliche These aufstellen kann. Ob sich Eisner dessen bewusst war oder nicht, alle Erkenntnisse stammen aus der Praxis und eine Hypothese darüber, wie etwas funktioniert, ist eben noch keine vollständig ausgearbeitete, universelle These, bis sie sich nicht anhand der Praxis als richtig erwiesen hat. Eisner lehnt in diesem Arbeit bloßen Reformismus über die Parlamente als „Utopismus“ ab23, sagte klar, dass das Deutsche Kaiserreich einen bürgerlichen Klassencharakter trug24 und wies auf Wilhelm Liebknechts Warnung vor der Verbürgerlichung der Partei durch die parlamentarische Arbeit hin, dass diese nur eine Agitationsbühne sein sollte25. Eisner bezeichnet die Budgetablehnung durch die SPD bloß als „Zeremonie“ und einen „selten hohen Feiertag“26, womit er dieses Mittel runterspielt. Eisner sagte weiter: „Die Budgetverweigerung kann kann nicht mit dem Wesen des Klassenstaates begründet werden, oder sie führt geradenwegs zur Negierung des Parlamentarismus oder zur Negierung ihrer selbst, zum Budgetzwang.“27 August Bebel schlug 1901 dem Lübecker Parteitag vor, und diese Resolution wurde angenommen, dass die SPD-Parteiorganisationen die Budgetbewilligung verweigern, als Teil des proletarischen Klassenkampfes gegen den bürgerlichen Staat28. Eisner sah in der Budgetverweigerung nur ein Mittel zur Herbeiführung einer revolutionären Situation29 und man dies nicht prinzipiell mit dem Hinweis ablehnen solle, dass dies das Budget eines bürgerlichen Staates ist30. Kurt Eisner widerspricht auf der einen Seite August Bebel, auf der anderen Seite bringt er ein paar Argumente dafür, die Budgetverweigerung doch als Mittel zu nutzen. Die Gesamtposition ist unschlüssig aus dem, was er schrieb, auch wenn am Ende eine eingeschränkte Bejahung steht.

Im Jahre 1908 äußerte Eisner bereits offen revisionistische Anschauungen, als er behauptete, die Verelendung, wie sie Marx und Engels beschrieben haben, „überwunden“ worden sei und bezichtige sie des „Irrtums“31. Diese Sichtweise bekräftigte er in diesem Artikel mehrmals32. Es ist richtig, dass die Arbeiterbewegung damals einige Konzessionen erkämpft hatte, darunter das Versicherungssystem, aber diese wurden eben erkämpft und nicht von der Bourgeoisie verschenkt. Kurt Eisner nahm diese Konzessionen hin, als seien sie unwiderruflich und selbstverständlich. Dabei wurde die absolute Verelendung eben durch Klassenkampf zurückgedrängt, was diese Tendenz aber nicht außer Kraft setzt. Es milderte lediglich die Umstände. Diese Revision am Marxismus durch Eisner ist bereits reformistisches Garn. In dem Artikel an sich geht es um die Diskussion eines Werkes von Karl Kautsky, den Kurt Eisner als einen „autoritären Parteiakademiker“33 bezeichnet. Eisner negiert Kautskys Auffassung, dass auf eine höhere ökonomische Entwicklung nicht unbedingt mehr demokratische Rechte folgen müssen34. In diesem Punkt hatte jedoch Kautsky recht, wie die Praxis eigentlich schon damals bewies, wenn man sich anschaut, dass bis 1908 Elsass-Lothringen innerhalb des Deutschen Reiches einen politisch rechtlosen Sonderstatus besaß. Eisner wandte gegen Kautsky, dass Süddeutschland und nicht Norddeutschland höher entwickelt war35, auch was die politische Praxis betraf36 und warf Kautsky Methodikfehler vor, weil dieser zur angeblichen Rückständigkeit von Süddeutschland Statistiken aus dem Jahre 1895 zu Rate zog und nicht die neuesten Statistiken aus dem Jahre 190737. Eisner führt einige statistische Daten, unter anderem zur Bevölkerungsentwicklung an, die Kautsky völlig außer Acht ließ, neben der Veraltung der verwendeten Daten38. Einser bezeichnete das industriell entwickelte Westufer des Rheins als einen „Fremdkörper“ im sonst feudal geprägten Preußen39. Das stimmt sowohl von der Regionalkultur her, als auch räumlich und von den wirtschaftlichen Auswirkungen. Die Existenz des Ruhrgebiets machte Gebiete wie Pommern und Ostpreußen nicht analog fortschrittlicher. Es bestanden in diesem einen Land zwei Ausbeutungssysteme weiterhin nebeneinander. Diesen Ausgleich zwischen den feudalen Großgrundbesitzern und der Großbourgeoisie erwähnte auch Eisner40. Mir liegt das Werk Kautskys, auf das sich Eisner bezieht, nicht vor. Dennoch sind Verfälschungen von Kautsky tatsächlich möglich, besonders, weil er in einer ähnlichen Masche später versuchte „statistisch zu beweisen“, warum eine sozialistische Revolution in Russland unmöglich sei. Kautsky hatte die Neigung, vorgefertigte Thesen im Nachhinein zu beweisen durch Klitterung der Wahrheit. Sollte dieser Verdacht den Tatsachen entsprechen, dann hat Eisner recht, bis auf seine Revision an richtigen Grundlehren des Marxismus. Diese gaben schon einen Vorgeschmack auf seine Zeit als Gründervater des Freistaat Bayern.

Dennoch war er keineswegs komplett ins Lager der Renegaten übergegangen, wie der Erste Weltkrieg zeigen sollte. Aufzeichnungen aus seinem Gefängnistagebuch geben darüber Aufschluss. „Seit Kriegsbeginn trage ich ganz einsam meinen Glauben an die Masse – auch in Deutschland.“41 Dieser wurde durch den Januarstreik bestärkt, schrieb Eisner42. Er beschrieb ansonsten die Abläufe der Kundgebungen. „Die neue, hoffnungsreichere Organisation der deutschen Sozialdemokratie, in der das Proletariat selber führt, war über Nacht entstanden und funktionierte mit vollkommener Sicherheit.“43, notierte Kurt Eisner offenbar mit Bezug auf die USPD, welcher er selbst anhing. Er notierte, dass er „vor einigen Wochen“ bei einer „Kolosseum-Versammlung gegen die Bolschewiki“ dabei gewesen sei und dies seine unveränderte Haltung unterstreichen würde44. Eisner monierte den Bruch mit der „Keinen-Mann-und-Keinen-Groschen-Politik“ durch die SPD-Führung nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs45, sowie die Tatsache, dass die imperialistische Kriegsbegeisterung bis in die Reihen der Partei hineinreichte46. Eisner bezeichnete sich selbst als einen „alten, bewährten Führer“ und warf vor, dass „provozierende Radauversammlungen“ von Führern einberufen worden seien, die Angst um ihre Pöstchen gehabt hätten47. Er war also nur dafür, dass man öffentlich Widerstand zum Krieg bekundete, aber aus den Worten keine Taten machte. Das zeigte sich auch nach der Novemberrevolution, dass für ihn sozialistische Worte mehr wert waren, als sozialistische Taten. Was er in seiner Gefängniszeit aber richtig notierte ist die Erkenntnis: „Der Tod hat uns alle nur beurlaubt.“48 Das ist der Schluss, der ihm während des Weltkriegs in den Sinn kam. Philosophisch ist dies korrekt, aber nun zurück zu seinen Taten.

Kurt Eisner sprach Ende November 1918 vor dem Berliner Vollzugsrat der Arbeiter- und Soldatenräte. In dieser Rede war es auch, in welcher er die zu Beginn des Artikels bereits vorweggenommene Stellung gegen die Bolschewiki bezog49. Er sagte dort unter anderem auch: „Die Revolution ist keine Demokratie. Sie will sie erst schaffen.“50 Darin zeigt sich eine Gegenüberstellung von Demokratie und Diktatur, als seien sie absolut. Eisner war nach dem verlorenen Weltkrieg dagegen, die Produktionsmittel der Bourgeoisie zu entreißen: „Daß die Produktion in den Besitz der Gesamtheit überführt werden muß, darüber ist kein Zweifel. Ich halte es aber nicht für ganz richtig, daß die Überführung der Produktionsmittel an die Gesellschaft erfolgen müsse dann, wenn die bürgerliche Gesellschaft die Gewalt verliert. Sollen wir die Produktion übernehmen, wo sie beinahe an dem Abgrund steht? Im Moment hat es keinen Zweck, da unsere wirtschaftliche Kraft erschöpft ist.“51 Marx sagte einst: „Der Arbeiter braucht nicht notwendig zu gewinnen mit dem Gewinn des Kapitalisten, aber er verliert notwendig mit ihm.“52 Genau das trat mit der Kriegsniederlage für jeden offenkundig ein. Das imperialistische Deutschland lag am Boden, die Produktion war zerrüttet und der Arbeiterklasse ging es nicht nur als Menschenmaterial an der Front schlecht, sondern auch an der Heimatfront herrschte Hunger und Elend. Man hätte in dieser Situation sagen müssen: Sozialisierung, jetzt erst recht! Die Arbeiter mussten sowieso die Betriebe wieder aufbauen – geschehe dies nun unter dem Kapitalismus oder dem Sozialismus. Die Bourgeoisie krümmt keinen Finger bei der Produktion und Reproduktion, sie lässt lediglich für sich arbeiten. Kurt Eisner ging es lediglich darum die Sozialisierung zu verschleppen, damit sie im Sande verläuft, um die kapitalistische Ordnung zu retten.

So auch in der Rede vor dem Münchner Arbeiterrat am 5. Dezember 1918. Er trat dort vage für eine „Demokratie der breitesten Massen“ ein und die Beseitigung des „Gegensatzes zwischen Führern und Massen“53, aber macht für die Umsetzung keine konkreten Vorschläge. Er sprach dort auch von der „reife der Wirtschaft“, die nötig sei um die Produktivkräfte zu entfalten und der Übernahme der Produktion durch die Gesellschaft54. Wie das realisiert werden sollte, machte Kurt Eisner nicht klar. Wieder einmal Sozialismus in Worten, aber nicht in Taten.

Kurt Eisner schrieb einen auf den 22. November 1918 datierten Brief an Georg Heim, einem Gründervater der Bayerischen Volkspartei. Eisner schrieb: „Ich versuche jetzt zu verwirklichen, was mir seit Jahren im Geiste vorschwebte.“55 In diesem Brief sagt Eisner aus, dass man die Kräfte ausschalten müsse, die den Zusammenbruch Deutschlands verursacht haben56 und dass die Arbeiter und Bauern die politische und soziale Grundlage des Staates bilden würden57. Damit gab sich Kurt Eisner einen revolutionären Anstrich. Wie kann man aber die Kräfte ausschalten, die den Zusammenbruch verursachten, wenn man deren Hintermänner, die Bourgeoisie, nicht enteignet? Gleiches gilt für die Herrschaft der Arbeiter und Bauern, die ohne diese Maßnahme keine ökonomische Machtbasis besitzt.

Am 13. Dezember 1918 hielt Kurt Eisner eine Rede auf einer Sitzung des Provisorischen Nationalrats. Zu Beginn lehnte er die Forderung der Konservativen ab, das System der „berufsständischen Vertretung“ einzuführen, weil es die Mehrheit des Volkes unnötig in Kleingruppen zerspaltet58. Statt der Einteilung nach Klassen strebten die Konservativen damals eine Einteilung nach Berufsgruppen an, wandten sich dagegen, dass sich die Lohnarbeiter der verschiedenen Berufe einen und versuchten damit Standesdünkel zu schüren. Es sei hier angemerkt, dass dieser atomisierende Trick bei der Ausspielung von Angestellten, die keine Industriearbeit verrichteten, und den Arbeitern gegeneinander damals funktionierte. Kurt Eisner sagte weiter: „Die Arbeiter sollen nicht wie die Gewerkschaften nur die beruflichen Interessen des Proletariats vertreten, die Arbeiterräte sollen die proletarische Arbeit in den Dienst der allgemeinen Politik stellen.“59 Natürlich ist auch eine Diktatur des Proletariats ein Klassenbündnis unter Führung der Arbeiterklasse, wobei auch die Interessen der Kleinbourgeoisie zu berücksichtigen sind, solange sie mit dem Sozialismus in Einklang gebracht werden können. Aber Deutschland war damals keine proletarische Diktatur. Mit „allgemeiner Politik“ konnte nur bürgerliche Politik gemeint sein, die von Angehörigen der Arbeiterklasse ausgeführt wird. Für diesen Sachverhalt wird man sogar bei Kurt Eisner selbst fündig. Über diese Tatsache können weder Beteuerungen eine „demokratische und sozialistische Politik“ betreiben zu wollen60 und gar das pseudo-radikale Lippenbekenntnis „Wir sind keine Regierung der mittleren Linie, keine Regierung der Kompromisse.“61 hinwegtäuschen.

Eisner verkündete stolz: „Die Arbeitszeitverkürzung ist die ungeheuerste Errungenschaft der Revolution in Deutschland.“62 Das ist eine bloße Konzession der Bourgeoisie auf Basis des kapitalistischen Systems. Wenn dies die größte Errungenschaft gewesen sein soll, dann brachte die Revolution nicht mehr als ein Streik für bessere Tarife. Karl Liebknecht schätzte die Novemberrevolution richtig ein, als er sagte: Ihre politische Form ist die einer proletarischen Aktion, ihr sozialer Inhalt der einer bürgerlichen Reform.“63 Damit bezog er sich auf die Politik von Scheidemann und Konsorten, aber auch bei Kurt Eisner war trifft diese zu. Er gab sich zwar mündlich radikaler als die SPD-Führer, war es aber an Taten gemessen nicht. Paul Singer sagte schon im Jahre 1891: „Die Sozialdemokratie darf niemals den Boden des Klassenkampfes verlassen, nie ihren revolutionären Charakter verlieren.“64 Kurt Eisner verließ aber genau diesen Boden, er versuchte die Bourgeoisie vor der Vernichtung zu bewahren mit kleinen Konzessionen an die Arbeiterklasse. Kurt Eisner sprach auch von der Notwendigkeit der „Demokratisierung der Armee“65, die bekanntlicherweise bis 1945 nicht durchgeführt wurde. Eisner versprach außerdem, nur allgemeinverständliche Gesetzestexte zu erlassen und der Kirche schulische Aufgaben zu untersagen66. Eisner gab zu, dass er den „alten Apparat des Beamtentums übernommen“ hat67. Das war das offene Eingeständnis, dass der bürgerliche Staatsapparat einfach weiterbestand wie zuvor. Eisner versprach die Ausarbeitung eines „demokratischen und sozialistischen“ Verfassungsentwurfes68 und empörte sich demagogisch darüber, dass es bisher in Parlamenten so gewesen ist, dass die Abgeordneten sich losgelöst von ihren Wählern verhielten69. Eisner bekannte sich zum Föderalismus70. Gegen Ende seiner Rede sprach er hochtrabend: „Das Zeitalter der Barbarei ist vorüber, das Menschenalter der Humanität beginnt.“71 Das konnte nicht stimmen, denn weder der bürgerliche Staat, noch die kapitalistische Wirtschaft wurde beseitigt. Für ihn war das Gerede von „Humanität“ bloß ein Freibrief für die Kriegsverbrecher: „Nichts wird geboren, nichts wird geschaffen aus Haß und Rache. Wie wir im Innern hier keine Rache übten an denjenigen, die schuld waren an diesem Weltunheil, so fordern wir alle Denkenden und sittlich Gesinnten auf, mit uns zu arbeiten am neuen Bunde, am Frieden der Menschheit, an dem erhabenen Bauwerk der Humanität.“72 Die Reaktionäre durften die Werktätigen unterdrücken, aber die Werktätigen nicht die Reaktionäre. Das ist die Moral dahinter und sie ist bis in den Kern bürgerlich. Sein Pazifismus war ein Schlaflied, um die erwachten Massen wieder zur Passivität zu verleiten. Es entbehrt nicht der Ironie der Gesetzesmäßigkeiten der Geschichte, dass ausgerechnet diese Reaktionäre, die er schützte, ihn später ermorden ließen.

Im Spätdezember 1918 äußerte sich Kurt Eisner in Artikeln zur Frage der Presse. Besonders mit Erfahrungen aus der Zensur der Kriegszeit angereichert, erkannte er das Kernproblem der bürgerlichen Pressefreiheit: „Die Pressefreiheit soll unangetastet sein. Aber Pressefreiheit ist ein bloßes Wort. Es gibt keine freie Presse. Es gibt nur eine Gewerbefreiheit für die Presse.“73 Seine Lösungsvorschläge dafür waren lediglich kritischer zu denken und irgendwie eine „wirklich freie Presse“ zu schaffen74. Wie, das erklärt er nicht. „Ein neues Geschlecht von freien Journalisten muß erstehen; dann erst wird die Pressefreiheit aus einer Phrase zur Wirklichkeit.“75, so endete Eisner. Das ist aber die Forderung nach Freiheit innerhalb des Kapitalismus, als würde man verlangen, dass die Arbeiter im Kapitalismus selbst frei würden. Das kann natürlich nicht funktionieren, erst die Enteignung der Konzernherren, danach ist Freiheit für die Werktätigen überhaupt möglich. Aber eben das wollte Eisner ja nicht. Die erste Freiheit der Presse besteht darin, kein Gewerbe zu sein.“76, schrieb einst Marx. Das ist im Kapitalismus unmöglich, dort ist Presse bloß Ware mit ideologischem Nebeneffekt. Wenn Eisner schreibt „Jede politische und soziale Auffassung hat das Recht ihrer Propaganda.“77, so gesteht dies auch Reaktionären Rechte zu. Das ist Liberalismus und nicht Sozialismus. Natürlich muss man über strittige Fragen diskutieren und auch über reaktionäre Anschauungen, aber es untergräbt die eigene ideologische Hegemonie, wenn man einfach so unkommentiert den Reaktionären das Recht zugesteht, konterrevolutionäre Propaganda zu verbreiten. Beim Weiterbestehen der kapitalistischen Pressekonzerne bedeutet es sogar hauptsächlich Letzteres. Es handelt sich also um einen Betrug am werktätigen Volk unter der Maske der „Freiheit aller“.

Anfang Januar 1919 sprach Kurt Eisner vor dem provisorischen Nationalrat. Am 2. Januar hielt er eine Rede über das Thema der Unabhängigkeit von Richtern. Eingangs monierte Eisner, dass die Unabhängigkeit der Richter während des Krieges ausgesetzt wurde und Generälen unterstellt worden war78. Er monierte an politisch motivierten Urteilen: „Da in politischen Prozessen ja alles Meinungs- und Urteilssache ist, da es überhaupt gar nicht in feste Begriffe gefaßt werden kann, so urteilt eben ein Richter des bestehenden Staates im Sinne der ihm auferlegten Instruktion, ob das nun besondere Instruktionen sind oder Wahnurteile, Vorstellungen, Benommenheiten, darüber will ich gar nicht urteilen.“79 Das trifft den wahren Kern, dass es in politischen Prozessen nicht um den Wahrheitsgehalt geht, sondern darum, eine, aus welchen Gründen auch immer, unliebsame Person abzustrafen. Eisner stellte fest: „Es gibt keine unabhängige Justiz, sie soll erst erarbeitet werden.“80 Als Folge daraus schlug er vor, dass man politische Urteile durch drei gewählte parlamentarische Kommissionen überwachen soll81. Immerhin machte er einige richtige Feststellungen, die aber nutzlos sind, solange der bürgerliche Staatsapparat weiterbesteht. Er übte zusammenfassend Kritik an der Kriegspraxis und machte einige Reformvorschläge. Am 3. Januar sprach Eisner über die Frage der Kunst. Zu Beginn stimmte er einem Antrag zu, künstlerische Berufe ökonomisch besserzustellen82. Er trat für eine Stärkung der Verbindung von Staat und Kunst ein83. „Die Kunst kann nur gedeihen in vollkommener Freiheit. Ich habe neulich in einer Versammlung vor Künstlern gesagt: Der Künstler muß als Künstler Anarchist sein und als soziales Mitglied, als ein auf die Befriedigung der Lebensnotdurft angewiesener Bürger Sozialist sein.“84, sagte er über die Charakterisierung des Kunstwesens. Damit stellt es Eisner so dar, als hätte der Künstler keine Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft, sondern nur gegenüber sich selbst, soll aber durchgefüttert werden. Kein Bildungsauftrag der Künste, sondern Wildwuchs ohne Zielvorgabe. Man sollte die Künste nicht mit vorgegebenen Formen gängeln, aber ohne Aufgabenstellung ist die Kunst auch leer. Abstrakte Kunst zum Beispiel – wem nützt sie? Sie regt nicht zum nachdenken an und besitzt auch keinen ästhetischen Wert. Solche Erscheinungen werden dann jedoch durchgeschleppt und durchgefüttert auf Kosten der Gesellschaft, wenn es nach Eisner ginge. Er wollte damit verhindern, dass Künstler bloß „Waren auf den Markt werfen“85 und wollte ihnen „Existenzsicherheit“86 gewähren, schüttet dabei aber das Kind samt dem Bade aus, indem er dafür keine qualitativen Anforderungen stellt. Eisner kritisierte den kapitalistischen Betrieb der Theater87 und dass dieses Theater reaktionären Inhalt verbreitet im Sinne der Kriegsgewinnler88. Die Lösung dafür sah er in der Sozialisierung der Theater und Neugründung als Nationaltheater89. Das ist durchaus richtig, aber es ist eben eine Einrichtung, die die ideologische Hegemonie abdeckt. Ohne die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft kann keine Rede davon sein, dass man den Charakter des Theaters wesentlich verändert.

Am 22. Januar 1919 hielt Kurt Eisner eine Rede vor dem Sozialisierungsausschuss, in welcher er sich abermals darum bemühte, die Ziele der Enteignung der Bourgeoisie zu drosseln. Zu Beginn zitierte er Kants Ausspruch Denken ohne Erfahrung ist leer, Erfahrung ohne Denken ist blind.“ und nannte ihn den „größten Denker der Welt“90. Das zeigt schon, dass er alles andere als ein Vertreter des dialektischen Materialismus gewesen ist, sondern des Idealismus. Schon Hegel erkannte, dass neue Philosophien auftreten, die die Fehler der vorgängigen korrigieren und diese ersetzen91. Für Kurt Eisner war also die Erkenntnis des dialektischen Materialismus also folglich keine höhere Stufe der philosophischen Erkenntnis und verblieb stattdessen im Kantianismus. Richtigerweise sagte Eisner in dieser, dass der Sozialismus eine „vollständig neue Wirtschaftsordnung“ bedeutet und die Beseitigung des Lohnsystems zur Bedingung hat92. Zutreffenderweise bezeichnete Eisner den syndikalistischen Vorschlag, die Betriebe nicht zu verstaatlichen, sondern in das direkte Eigentum der Belegschaften zu übergeben, als „Massenkapitalismus“, der bloß einen „Rollentausch innerhalb des Kapitalismus“ bedeute93. Eisner sprach von einer „Sozialisierung unter demokratischer Kontrolle“, die bloß „stufenweise“ stattfinden sollte, weil er die „Privatinitiative“ beibehalten wollte94. Er sprach sich gegen eine „radikale Verstaatlichung“ aus und warf mit dem Begriff „staatsbürokratischer Kapitalismus“ in diesem Kontext um sich95. Zur Verstaatlichung sah er lediglich „einen Teil des Finanzwesens“ und „gewisse Gebiete der schweren Industrie“ vor96. Der Handel solle vollständig privat und nur etwas reguliert werden, wie auch die Exportindustrie97. Eisner war für eine Übernahme der Elektrifizierung durch den Staat, aber ansonsten für „gemischtwirtschaftliche Betriebe“, denen er nachsagte, sie seien im „Interesse des Staates und der Arbeiter“98. Als könnte man durch Joint Ventures den Widerspruch von Kapital und Arbeit versöhnen, so hört sich das an. Eisner war für eine Zerschlagung des Großgrundbesitzes und sah, anders als Kautsky, darin nicht „ein Stück Sozialismus“, sondern eine bloße „Umgestaltung des Privateigentums“99. Er war insgesamt für keine Sozialisierung der Großbetriebe an sich, sondern nur „Teilen“ und blieb darüber im Vagen, welche Teile genau, ansonsten die Übernahme von monopolistischen Infrastrukturbetrieben. Aber das ist eben bloß Staatsmonopolkapitalismus und nicht Sozialismus. Dieser ist, wie Lenin einst sagte, die „vollständige materielle Vorbereitung des Sozialismus“100, womit also lediglich die Diktatur des Proletariats und die Wirtschaftsplanung fehlte, nach der Enteignung der Bourgeoisie. Es war bei Eisner auch nicht die Rede davon, die Wirtschaftsplanung einzuführen. Der begründete Verdacht geht in die Richtung, dass es sich dabei bloß um die Verstaatlichung unrentabler Betriebe geht oder um Infrastruktur, wie eben bei der Elektrifizierung, die der Bourgeoisie als Gesamtklasse zu Gute kommt.

Im Februar 1919 sprach Eisner auf der Internationalen Arbeiter- und Sozialisten-Konferenz in Bern. In seinem Referat sprach er: „Ich bin im Innern überzeugt, daß das deutsche Volk eine einheitliche Sozialdemokratie braucht.“101 Bei seinen Taten, die sich von denen der SPD-Führung nicht unterschied, obwohl er Mitglied der USPD gewesen war, offenbart sich der Hintergrund dieser Aussage. Es ging ihm während des Krieges nur um den Pazifismus, nicht um einen Bruch mit dem revisionistischen Arbeiterverrat. Er behauptete auch hier, man habe nach dem Krieg das bürgerliche System gestürzt102, obwohl man bloß letztendlich bloß eine bürgerliche durch eine andere bürgerliche Regierung auswechselte. Er nannte die Novemberrevolution einen „großen Erfolg“103. In der Rede kritisierte er auch den anwesenden Otto Wels für seine Kriegsunterstützung104. Seine Rede beendete er mit dem Aufruf: „Wir haben keine Geduld mehr, unsere Träume vom Sozialismus in ferne Zeiten zu stellen; heute leben wir und heute wollen wir handeln. Handeln wir!“105 Tatsächlich jedoch handelte er dem entgegengesetzt. Diese Konferenz fasste einen Grundsatzbeschluss. Dort wurde zwar eine „vorübergehende Diktatur des Proletariats“ formell anerkannt, aber das bürgerliche Wahlrecht wurde als etwas dargestellt, als sei es neutraler Boden106. Sozialisierung und Planwirtschaft waren dort auch Forderungen107. Dass diese Forderungen noch formell dabeistanden zeigt, dass man erst die Notwendigkeit der Revolution und proletarischen Diktatur negierte und später den Begriff des Sozialismus selbst entkernte. In der Praxis, wie bereits aufgezeigt, wurde davon nichts umgesetzt.

Kurt Eisner wurde am 21. Februar 1919 ermordet, als er sich auf dem Weg zum Bayerischen Landtag befand. Er hatte aber ein Redemanuskript ausgearbeitet, worin er vorhatte seinen Rücktritt zu verkünden und sein politisches Handeln noch einmal Revue passieren zu lassen. Man kann es deshalb als ein politisches Testament bezeichnen. Eisner rechnete sich selbst an, die „Schrecken eines Bürgerkrieges“ verhindert zu haben und auch separatistische Tendenzen zur Abtrennung Bayerns von Deutschland bekämpft zu haben108. Letzteres ist ein Verdienst, aber Ersteres ist nur ein Indikator dafür, dass man die bürgerliche Ordnung nicht angetastet hat. „Daß der Sozialismus in der ganzen Welt auf die Tagesordnung der Gegenwartspolitik gestellt ist, darüber ist kein Zweifel möglich.“109, notierte Eisner. Das hört sich erstmal an, wie ein Bekenntnis zu den stattfindenden Revolutionen der damaligen Zeit. Aber das war es nicht. Das sieht man besonders am darauffolgenden Satz: „Daß sich diese notwendige Entwicklung zum Sozialismus ohne katastrophale Störungen vollziehen möchte, das müßte unsere gemeinsame Aufgabe sein.“110 Das war ein Ziel ohne Weg. Er lehnte den revolutionären Klassenkampf ab und er versuchte nicht mal ernsthaft sozialistische Reformen durchzusetzen – wie sollte dieses Ziel also überhaupt einmal erreicht werden? Außer einem spontanen Wunder blieb dort keine andere nicht ausgeschlagene Option mehr. „Die Demokratisierung der Armee, die Beseitigung aller Erscheinungen, die unter dem Begriff Militarismus zusammengefasst werden, wurde durchgeführt.“111, schrieb Eisner nieder. Er sagt aber nicht, auf welchem Wege das geschehen sein soll. Offensichtlicherweise war dies ja nicht tatsächlich geschehen. Möglich ist, dass er der Meinung gewesen war, mit ein paar Dekreten sei die Sache erledigt. Das würde immerhin erklären, warum seine Maßnahmen wirkungslos geblieben sind. Eisner gab zu, dass man nach der Novemberrevolution Standgerichte einführte112. Auf dem Gebiet des Bildungswesens wurde die Trennung von Kirche und Schule verwirklicht und die Bildung von Schülerausschüssen erlaubt113. Eisner erwähnte nochmals die Einrichtung eines Nationaltheaters114. „Der Achtstundentag wurde eingeführt.“115, merkte er noch einmal an. Er bezeichnete ihn nicht noch einmal als „größte revolutionäre Errungenschaft“ an dieser Stelle, wie einige Monate zuvor. „Der Kleinwohnungsbau, das Siedlungswesen wurden in weitgehendem Maße gefördert.“116, schrieb er. Natürlich ist das für den ländlichen Raum sinnvoll. Aber was genau in den Städten ausgebaut wurde, erwähnte er nicht. Lediglich, dass das Wohnungswesen „ausgebaut“ wurde, samt Erwerbslosenfürsorge und der Arbeitsvermittlung117. Wie genau das alles aussah, blieb in seinen Ausführungen vage. Eisner endete mit der Rücktrittsankündigung, um eine Regierungsneubildung auf Grundlage von Neuwahlen zu erreichen, wobei seine Regierung geschäftsführend im Amt bleiben sollte, bis eine neue Regierung gewählt wurde118. Der Rücktritt wäre also nicht unmittelbar vollzogen worden, sondern wie in jeder anderen bürgerlichen Republik auch mit kommissarischer Übergangszeit. Wenn man sich Eisners Maßnahmen anschaut, so muss man feststellen, dass diese mit sozialistischer Politik nichts zu tun hatten. Bei den getroffenen Maßnahmen war ja nicht alles reaktionär gewesen, aber es waren bloße Reformen innerhalb des kapitalistischen Systems. Es waren Polster für die Ketten, statt einer Befreiung von den Ketten. Darin liegt das Kernproblem seiner ganzen politischen Praxis: Er hatte den Anspruch den Sozialismus im Kapitalismus zu verwirklichen. Das war der Grundfehler, wenn man ihm Ehrlichkeit zugesteht. Nun zum Resümee.

Kurt Eisner war nicht einfach ein offener Revisionist vom Typus Scheidemann, sondern ein Zentrist. Das ist nicht wesentlich, nicht qualitativ besser, sondern betrifft eher das Feld der Phraseologie, aber es gibt ein paar Unterschiede. Das sieht man nicht zuletzt bei seiner Zurechtweisung von Karl Kautsky im Jahre 1908. Man konnte aber andererseits anhand seiner Beteiligung an der Kultbauerei um August Bebel erkennen, dass er bereits früh karrieristische Ziele hatte. Kurt Eisner stemmte sich dem Sozialismus entgegen, indem er die Bolschewiki geißelte und den Sozialismus predigte, ohne auch nur einen Schritt zu tun in dessen Richtung. Das machte ihn zu einem deutschen Abklatsch der Menschewiki. Daran gibt es nichts zu bezweifeln. Dennoch ist auch ein dürrer Ast der Arbeiterbewegung ein Teil des Baumes. Kurt Eisner ist primär ein Negativbeispiel, aber eben ein Teil unserer Geschichte. Man kann negative historische Erfahrungen nicht ungeschehen machen, schon gar nicht, indem man sie totschweigt. Man muss sie aufarbeiten und daraus die nötigen Schlüsse ziehen. Als ein solches Kapitel sollten wir auch Kurt Eisner betrachten.

1Rede im Berliner Vollzugsrat der Arbeiter- und Soldatenräte“ (27. November 1918) In: Kurt Eisner „Sozialismus als Aktion – Ausgewählte Aufsätze und Reden“, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1975, S. 76.

2Vgl. „Um Manchester“ (15. August 1896) In: Ebenda, S. 11.

3Ebenda, S. 12.

4Vgl. Ebenda, S. 13.

5Ebenda.

6Ebenda, S. 14.

7Vgl. „Gewerkschaft und Partei“ (8. Juni 1905) In: Ebenda, S. 16.

8Vgl. Ebenda, S. 17.

9Vgl. Ebenda.

10Ebenda, S. 18.

11Vgl. Ebenda, S. 19 f.

12Siehe: „Die Expropriation der Eltern“ (1905) In: Ebenda, S. 21.

13Vgl. Ebenda, S. 22.

14Ebenda, S. 23.

15Ebenda, S. 24.

16Ebenda, S. 25.

17Ebenda, S. 24.

18Meine Antwort“ (6. November 1905) In: August Bebel „Ausgewählte Reden und Schriften“, Bd. 7/2, K. G. Saur Verlag, München 1997, S. 860.

19Ebenda, S. 864.

20Siehe: Ebenda, S. 858, Fußnote.

21Vier Fragen“ (28./29. August 1908) In: Kurt Eisner „Sozialismus als Aktion – Ausgewählte Aufsätze und Reden“, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1975, S. 26.

22Ebenda, S. 27.

23Vgl. Ebenda, S. 30.

24Vgl. Ebenda, S. 33.

25Vgl. Ebenda, S. 34.

26Vgl. Ebenda, S. 35.

27Ebenda, S. 36.

28Siehe: „Rede und Resolution über die Zustimmung der badischen Sozialdemokraten zum Landesbudget“ (27. September 1901) In: August Bebel „Ausgewählte Reden und Schriften“, Bd. 7/1, K. G. Saur Verlag, München 1997, S. 182.

29Vgl. „Vier Fragen“ (28./29. August 1908) In: Kurt Eisner „Sozialismus als Aktion – Ausgewählte Aufsätze und Reden“, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1975, S. 37.

30Vgl. Ebenda, S. 38/39.

31Vgl. „Das vorgeschrittene Hinterpommern – Zur Theorie der deutschen Entwicklung“ (September 1908) In: Ebenda, S. 43.

32Siehe: Ebenda, S. 44.

33Ebenda, S. 41.

34Vgl. Ebenda, S. 46.

35Vgl. Ebenda, S. 47.

36Vgl. Ebenda, S. 48.

37Vgl. Ebenda, S. 49.

38Siehe: Ebenda, S. 53 ff.

39Vgl. Ebenda, S. 50.

40Siehe: Ebenda, S. 51.

41Januarstreik 1918“ (Februar 1918) In: Ebenda, S. 58.

42Siehe: Ebenda.

43Ebenda, S. 63.

44Vgl. Ebenda, S. 67.

45Vgl. Ebenda, S. 68.

46Vgl. Ebenda, S. 69.

47Vgl. Ebenda, S. 72.

48Wir Toten auf Urlaub“ (10. September 1918) In: Kurt Eisner „Gesammelte Schriften“, Bd. 1, Hrsg.: Paul Cassirer, Berlin 1919, S. 5. Zu den Gesammelten Schriften sei an dieser Stelle angemerkt, dass diese weder vollständig sind, noch zeitlich sortiert, ja meist nicht einmal datiert. Das macht es schwer möglich, diese Quellen sinnvoll für eine chronologische Darstellung zu verwenden.

49Siehe: „Rede im Berliner Vollzugsrat der Arbeiter- und Soldatenräte“ (27. November 1918) In: Kurt Eisner „Sozialismus als Aktion – Ausgewählte Aufsätze und Reden“, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1975, S. 76.

50Ebenda.

51Ebenda, S. 76/77.

52Karl Marx „Ökonomisch-philosophische Manuskripte“ (April bis August 1844) In: Karl Marx/Friedrich Engels „Werke“, Bd. 40, Dietz Verlag, Berlin 1985, S. 472.

53Vgl. „Aufgaben der Räte“ (5. Dezember 1918) In: Kurt Eisner „Sozialismus als Aktion – Ausgewählte Aufsätze und Reden“, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1975, S. 79.

54Vgl. Ebenda, S. 80.

55Brief an Georg Heim“ (22. November 1918) In: Ebenda, S. 81.

56Vgl. Ebenda.

57Vgl. Ebenda, S. 82.

58Vgl. „Rede in der 2. Sitzung des Provisorischen Nationalrats“ (13. Dezember 1918) In: Ebenda, S. 83.

59Ebenda, S. 84.

60Vgl. Ebenda, S. 85.

61Ebenda, S. 86.

62Ebenda, S. 88.

63Das, was ist“ (21. November 1918) In: Karl Liebknecht „Gesammelte Reden und Schriften“, Bd. IX, Dietz Verlag, Berlin 1971, S. 604.

64Paul Singer „Die Arbeiterpartei darf nie den Boden des Klassenkampfes verlassen“(14. – 20. Oktober 1891) In: Heinrich Gemkow „Paul Singer – Ein bedeutender Führer der deutschen Arbeiterbewegung“, Dietz Verlag, Berlin 1957, S. 95.

65Vgl. „Rede in der 2. Sitzung des Provisorischen Nationalrats“ (13. Dezember 1918) In: Kurt Eisner „Sozialismus als Aktion – Ausgewählte Aufsätze und Reden“, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1975, S. 89.

66Vgl. Ebenda, S. 90.

67Vgl. Ebenda.

68Vgl. Ebenda, S. 91.

69Vgl. Ebenda, S. 92.

70Siehe: Ebenda, S. 93.

71Ebenda, S. 95.

72Ebenda, S. 96.

73Presse“ (20. Dezember 1918) In: Ebenda, S. 100.

74Vgl. Ebenda.

75Ebenda, S. 101.

76Karl Marx „Debatten über Preßfreiheit und Publikation der Landständischen Verhandlungen“ (März/April 1842) In: Karl Marx/Friedrich Engels „Werke“, Bd. 1, Dietz Verlag, Berlin 1981, S. 71.

77Bürger“ (21. Dezember 1918) In: Kurt Eisner „Sozialismus als Aktion – Ausgewählte Aufsätze und Reden“, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1975, S. 104.

78Vgl. „Die Unabhängigkeit der Richter“ (2. Januar 1919) In: Ebenda, S. 107.

79Ebenda, S. 109.

80Ebenda, S. 110.

81Vgl. Ebenda, S. 112.

82Vgl. „Die Stellung der revolutionären Regierung zur Kunst und zu den Künstlern“ (3. Januar 1919) In: Ebenda, S. 113.

83Vgl. Ebenda, S. 114.

84Ebenda, S. 115.

85Ebenda, S. 118.

86Ebenda, S. 119.

87Siehe: Ebenda, S. 120.

88Vgl. Ebenda, S. 121.

89Siehe: Ebenda, S. 122.

90Vgl. „Die Aufgabe des bayerischen Sozialisierungs-Ausschusses“ (22. Januar 1919) In: Ebenda, S. 124.

91Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie – Einleitung (Auszug)“ In: Lutz Hoyer „Bürgertum und Philosophie“, Buchverlag Der Morgen, Berlin 1986, S. 162.

92Vgl. „Die Aufgabe des bayerischen Sozialisierungs-Ausschusses“ (22. Januar 1919) In: Kurt Eisner „Sozialismus als Aktion – Ausgewählte Aufsätze und Reden“, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1975, S. 125.

93Vgl. Ebenda, S. 126.

94Vgl. Ebenda, S. 127.

95Vgl. Ebenda.

96Vgl. Ebenda, S. 128.

97Vgl. Ebenda.

98Vgl. Ebenda, S. 128/129.

99Vgl. Ebenda, S. 130.

100Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll“ (September/Oktober 1917) In: W. I. Lenin „Werke“, Bd. 25, Dietz Verlag, Berlin 1960, S. 370.

101Schuld und Sühne“ (Februar 1919) In: Kurt Eisner „Sozialismus als Aktion – Ausgewählte Aufsätze und Reden“, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1975, S. 133.

102Vgl. Ebenda, S. 135.

103Ebenda, S. 137.

104Siehe: Ebenda, S. 136.

105Ebenda, S. 138.

106Vgl. „Resolution über Demokratie und Diktatur“ (22. Februar 1919) In: Ebenda, S. 7.

107Vgl. Ebenda, S. 8.

108Vgl. „Eisners nicht gehaltene Rücktrittsrede“ (21. Februar 1919) In: Ebenda, S. 140.

109Ebenda, S. 141.

110Ebenda.

111Ebenda, S. 142.

112Siehe: Ebenda, S. 144.

113Vgl. Ebenda, S. 145.

114Siehe: Ebenda, S. 146.

115Ebenda, S. 147.

116Ebenda, S. 148.

117Vgl. Ebenda.

118Vgl. Ebenda, S. 149.

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