Ist der Titoismus überhaupt eine Ideologie?
Der revisionistische Charakter Jugoslawiens und seiner Partei wurde 1948 von der KPdSU unter Stalin und 1963 von der KPCh unter Mao dargelegt. Es gibt darüber nichts Neues zu sagen, man könnte lediglich alte Debatten aufs neue führen. Deshalb lohnt es sich auch nicht, das Thema in voller Länge aufzurollen. Trotzdem sollten einige Punkte angesprochen werden, der ideologischen Klarheit wegen.
Es gibt einige, die die richtige marxistisch-leninistische Einschätzung des jugoslawischen Revisionismus nicht akzeptieren und Tito sogar als ein Vorbild sehen. Der ehemalige DDR-Botschafter in Jugoslawien, Ralph Hartmann, schlug 1999 zum Beispiel vor, dass man sich in Deutschland an der „Arbeiterselbstverwaltung“ Titos orientieren solle:
„Im Unterschied zu Jugoslawien fühlten sich die Arbeiter und Angestellten in den volkseigenen Betrieben der DDR nicht als Eigentümer, sie blieben vom Eigentum entfremdet wie eh und je, und schließlich war es ihnen ziemlich gleichgültig, ob sie, und so mußte es sich ihnen darstellen, für Dr. Mittag oder für Krupp arbeiteten. Daß es uns in 40 Jahren nicht gelungen war, wahre sozialistische Eigentumsbeziehungen herzustellen, daran ist der sozialistische Versuch gescheitert. Das ist die Ursache aller Ursachen, und die ungenügende wirtschaftliche Effizienz und selbst die großen Demokratiedefizite sind nur eine abgeleitete Folge dieses entscheidenden Versagens.
Bei der Suche nach einer neuen, besseren Sozialismuskonzeption, die immer noch in den Anfängen steckt, wird man nicht umhinkommen, den jugoslawischen Erfahrungen mit der Arbeiterselbstverwaltung, auch wenn sie unter den spezifischen Bedingungen dieses Landes und eigener Unvollkommenheit letztlich nicht zu den gewünschten Ergebnissen führte, gebührende Aufmerksamkeit zu schenken.“1
Letztendlich behauptete Hartmann damit, dass das Volkseigentum zu abstrakt sei. Er übersieht das klägliche Scheitern des nur mit Feigenblättchen bemäntelten Kapitalismus in Jugoslawien unter Tito und sieht diesen sogar als eine Art Vorbildmodell an. Tito sagte: „Das Staatseigentum ist das niedrigste des gesellschaftlichen Eigentums, nicht das höchste, wie die Führer der UdSSR sich das vorstellen.“2 Kardelj wollte sogar die „Arbeit vom Druck des staatlichen Lohnverhältnisses befreien“3. Hartmann stimmt dem indirekt zu. Diese Konzeption ist aber bloßer Revisionismus, keine eigenständige Entwicklung. Hartmann übersah völlig, dass die ganzen revisionistischen Staaten durch ihre mit pseudo-marxistischen Begriffen wie „sozialistische Warenproduktion“ verschleierte Marktreformen im Prinzip schon „titoistisch“ geworden sind. Deshalb ist die eigentliche Frage: Ist der Titoismus überhaupt eine Ideologie oder bloß Revisionismus in Jugoslawien?
Tito und Konsorten wurde zwischen dem Ausschluss der KP Jugoslawiens aus der Kominform und Stalins Tod immer wieder der Vorwurf des Trotzkismus gemacht. Das würde dem Titoismus schon im Vornherein die ideologische Eigenständigkeit absprechen. Im Hinblick auf Djilas kann man diesen durchaus als valide ansehen, man muss jedoch anmerken, dass dies ein Grund für sein späteres Überwürfnis mit Tito war. In seinem Buch „Die neue Klasse“ wurde nämlich auch Tito samt seiner Clique attackiert und offen auf Trotzki zurückgegriffen. Ansonsten trifft dieser Vorwurf aber nicht zu. Kardelj, ein enger Anhänger Titos, kritisierte sogar Trotzkis „permanente Revolution“ in einem Vorwurf gegen die KP Chinas unter Mao, dass sie diese durch das Herbeisehnen eines Weltkrieges vertreten würde4. Man kann die Titoisten nicht vor dem Vorwurf des Revisionismus in Schutz nehmen, aber man muss sie in Schutz nehmen vor dem Vorwurf des Trotzkismus. Mit dem Trotzkismus hat ihr Revisionismus nichts unmittelbar zu tun. Sie hatten ihren Revisionismus jugoslawischer Prägung, erwachsen aus den eigenen Bedingungen.
Während des Rajk-Prozesses in Ungarn wurde von Lázár Brankow die Behauptung aufgestellt, dass Tito den Plan gehabt hätte, seine Abweichung vom Marxismus als etwas „Neues im Marxismus“ zu verschleiern5. Dies ist aber wenig glaubwürdig, wenn man sich die jugoslawischen Quellen anschaut. Allgemein erscheinen die Geständnisse im Prozess gestellt zu sein, auch wenn sich Brankows Aussage, dass man die Hoffnung gehabt habe, dass Gomulka in Polen „die Gedankengänge Titos verwirklichen“ würde6 im Jahre 1956 sich gewissermaßen bewahrheitete. Gomulka brach die Kollektivierung ab, sodass Polen, wie auch Jugoslawien, nie eine sozialistische Wirtschaft errichtete. Der Revisionist Kádár zum Beispiel vollendete im Jahre 1962 erfolgreich die Kollektivierung in Ungarn, weshalb er nicht in das Schema eines Titoisten passt – im Gegensatz zu Gomulka. Brankows erste Aussage ist dennoch nicht stimmig mit den realen Aussagen der Titoisten.
Tito selbst lehnte den Begriff des Titoismus ab und lehnte die Behauptung ab, Jugoslawien betreibe etwas anderes als Marxismus-Leninismus: „Titoismus als separate ideologische Linie existiert nicht. Daraus eine Ideologie machen zu wollen, wäre dumm. Ich sage das nicht aus Bescheidenheit. Es ist einfach, dass wir der marxistisch-leninistischen Lehre nichts hinzugefügt haben. Wir haben diese Lehre lediglich auf unsere Situation passend angewendet. Deshalb gibt es nichts Neues, deshalb gibt es keine neue Ideologie. Sollte ´Titoismus´ eine ideologische Linie werden, würden wir revisionistisch werden; wir würden den Marxismus verleugnen. Wir sind Marxisten, ich bin ein Marxist und kann deshalb kein ´Titoist´ sein. Stalin ist der Revisionist: Es ist er, der den marxistischen Pfad verlassen hat. ´Titoismus´ als Lehre existiert nicht. Wir versuchen den richtigsten, humansten und angemessensten Weg zu finden, um den Marxismus in der Praxis weiterzuentwickeln. Was in unserem Lande existiert ist Sozialismus und kann nicht ´Titoismus´ genannt werden.“7 Tito war also wie die anderen Revisionisten: Er behauptete, er betreibe weiter Marxismus-Leninismus und die Abweichungen davon seien bloß der „nationalen Anpassung“ geschuldet. In ähnlicher Weise argumentieren die chinesischen Revisionisten seit Deng bis heute. Entsprechend ist der Dengismus (welcher als „Deng-Xiaoping-Theorie“ sogar offiziellen Eingang in den ideologischen Kanon der KP Chinas fand) gewissermaßen „chinesischer Titoismus“ – und das bedeutet bloß chinesischer Revisionismus, kapitalistische Restauration in China. Im Prinzip war der Titoismus die revisionistische Praxis in Jugoslawien, nur dass sie nie formalisiert worden ist als Teil der Parteiideologie des BdKJ. Mehr nicht.
Abgesehen von der Entartung der Kommunistischen Partei Jugoslawiens unter Titos Führung, welche einige revisionistische Werke hervorbrachte, ist kaum von einer zusammenhängenden Ideologie zu sprechen. Ehemalige Gefolgsleute von Tito, die sich vorher gegen die KPdSU unter Stalin wandten, wandten sich später auch gegen Tito. Djilas wäre da als das wohl bekannteste Beispiel zu nennen. Die revisionistisch gewordenen sozialistischen Staaten wurden später alle „titoistisch“, wenn man annimmt, dass Tito sozusagen das Erstgeburtsrecht auf den „Kapitalismus mit roten Fähnchen“ besitzen würde.
Der Titoismus ist also bloß jugoslawischer Revisionismus, der zwar einige Rechtfertigungswerke für den kapitalistischen Kurs des BdKJ hervorbrachte, aber keine inhaltlich auch nur halbwegs stimmige Ideologie.
1 Ralph Hartmann „Mit der DDR ins Jahr 2000“, Karl Dietz Verlag, Berlin 1999, S. 85/86.
2 „Über die Arbeiterselbstverwaltung in den Betrieben“ (26. Juni 1950) In: Josip Broz Tito „Selected Speeches and Articles 1941-1961“, Naprijed, Zagreb 1963, S. 115, Englisch.
3 Edvard Kardelj „Vermeidbarkeit oder Unvermeidbarkeit des Krieges“, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 1961, S. 152.
4 Vgl. Ebenda, S. 78 ff.
5 Vgl. „László Rajk und Komplicen vor dem Volksgericht“, Dietz Verlag, Berlin 1949, S. 153/154.
6 Vgl. Ebenda, S. 156.
7 Zit. Nach: Vladimir Dedijer „Tito“, Eschenburg Press, o. O. 2018, S. 545/546, Englisch (E-Book).