Ist alles außerhalb des Glaubens Abgötterei? – Kritik an einer erzreaktionären Erscheinung

Im „Erweiterten Katechismus“, den die Anglikanische Kirche in Amerika verfasst hat, bin ich bei Frage 277 „Sind Götzenbilder immer geschnitzte Bildnisse?“ auf folgende alarmierende Aussage gestoßen:

Nein, denn Beziehungen, Gewohnheiten, Bestrebungen und Ideologien können in meinem Bewusstsein zu Götzen werden, wenn ich sie als Rettung aus Elend, Schuld, Armut, Einsamkeit oder Verzweiflung betrachte.“1

Geht man demnach, so ist im Prinzip jegliche politische Aktivität, jegliches Denken außerhalb des kirchlichen Kontextes, jegliche gesellschaftlichen Ambitionen und so weiter allesamt „Götzendienst“. Einzig richtig ist, dass die angeführten Beispiele einem nicht von Schuld und Verzweiflung im religiösen Sinne befreien können. Das sind die einzigen zwei Punkte, die das Seelenheil betreffen. Es ist wenig verwunderlich, dass diese Aussage in einem Katechismus steht, der von der Anglikanischen Kirche in Amerika verfasst worden ist. Letztlich spiegelt sich darin nicht Anglikanismus, sondern Amerikanismus wider.

Durch die Betonung von Ideologie und der Armutsfrage schwebt der Vorwurf auch hier im Raum, dass der Marxismus eine „politische Religion“ sei. Dieser Vorwurf wird, zumindest in Deutschland, heutzutage viel häufiger von bürgerlichen Sold-Akademikern aufgeworfen als von der Kanzel herab. Wer solche Attacken vernimmt, sollte sich fragen, wieso dieser Vorwurf ausgerechnet dem Marxismus gilt und nicht jenen bürgerlichen Ideologien, denen man vorwerfen kann, dass sie „Mammons-Diener“ sind. Es ist klar, dass man eigentlich kein Christ sein kann und dabei einer Ideologie anhängt, die diesem zuwiderläuft. Aus Sicht solcher Mammons-Pfaffen – und in Amerika gibt es fast ausschließlich solche – soll das aber möglich sein. In den kapitalistischen Staaten wird es generell nicht als Problem angesehen, wenn ein Christ Mitglied in einer bürgerlichen Partei ist, egal ob liberal, konservativ oder sozialdemokratisch. Handelt es sich aber um eine sozialistische Partei, dann wird letztlich die Kirche dafür missbraucht, bürgerliche Propaganda zu reproduzieren und in Frage zu stellen, ob man in der Lage wäre, an Gott zu glauben. Dabei ist der biblische Auftrag mit dem Sozialismus nicht nur kompatibel, sondern durch diesen überhaupt erst erreichbar2.

In der Bibel ist Götzendienst aber nicht so vage und allgemein überinterpretiert, wie die amerikanischen Anglikaner es tun. Es steht geschrieben: Ihr sollt euch keine Götzen machen und euch weder Bild noch Steinmal aufrichten, auch keinen Stein mit Bildwerk setzen in eurem Lande, um davor anzubeten.“3 Diese dürfen auch weder aus Gold noch Silber sein4, womit klar und eindeutig auf das Goldene Kalb5 angespielt wird. Man kann ersehen, dass es sich dabei darum handelt, andere Götter anzubeten (und in diesem Falle steht dabei ein fetischistisches Götzenverständnis im Vordergrund). Es gibt aber eine Bibelstelle, in welcher die Begriffe „Abgötterei“ und „Götzendienst“ einen anderen Bezug haben. Im ersten Buch Samuel steht: „Ungehorsam ist Sünde wie Zauberei, und Widerstreben ist wie Abgötterei und Götzendienst.“6 Der Bezug hierbei ist aber Gehorsamkeit Gott gegenüber. Es steht geschrieben: „Du sollst den HERRN, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft.“7 Das ist die Ursache für diese Ausführungen. Auch hier findet man keine übermäßige Verallgemeinerung des Götzenbegriffs.

Abgötterei hat als Grundlage, dass man etwas anbetet und sich von diesem, etwas vereinfacht ausgedrückt, dafür das Seelenheil erhofft. Das ist aber bei den aufgelisteten Beispielen nicht gegeben. Letztlich wird hierbei eines der Zehn Gebote überinterpretiert, um damit politische Zwecke zu erreichen unter dem Vorwand, dass Ideologien, die die Armutsbekämpfung in den Vordergrund stellen, sozusagen „vom Glauben ablenken“ würden. Eine solche Sicht ist genau der Grund, für den Marx der Religion im Allgemeinen den Titel „Opium des Volkes“8 gab: Die Probleme des Diesseits werden völlig ignoriert und jeder bekämpft, der die großen Probleme des alltäglichen Daseins versucht zu lösen.

Dieses Problem, das die amerikanischen Anglikaner aufwerfen, existiert zu einem gewissen Grad unter Lutheranern genauso. Mir ist der Fall bekannt, dass ein lutherischer Pfarrer Fußballfans unterstellt, dass für sie Fußball eine „Religion“ sei. Er vermied den direkten Vorwurf der Abgötterei, aber er schwebte im Raum. Das mag ein Einzelfall sein, hat aber einen Kern bei Luther selbst.

Luther sagte 1520 mit Bezug zum ersten Gebot Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.9: Das heißt soviel wie: weil ich allein Gott bin, sollst du auf mich allein deine ganze Zuversicht, dein Trauen und Glauben setzen und auf niemand anderes.“10 Aufgrund seines reaktionären Blickes im Hinblick auf die Obrigkeit (deren blinde Legitimation)11, ist klar, dass Luther hier in die selbe Kerbe schlägt wie die amerikanischen Anglikaner. Alles, außer der Glaube an Gott selbst, wird verworfen. Das verlangt mehr ab, als das geschriebene Wort der Bibel je abverlangt hat.

Und dennoch ist Luther dazu in der Lage, eine andere Form des Götzendienstes zu erkennen: In seinem „Großen Katechismus“ unterstellt er jenen, die versuchen, durch eigene Werke gerecht zu werden, „Abgötterei“12. Auch diese Frage hat einen politischen Charakter. Luthers Ansinnen war es, die Menschen zu passiven Untertanen ihres Fürsten zu machen. Luther kann sich auch auf den Epheserbrief berufen, in welchem geschrieben steht: „Denn aus Gnade seid ihr gerettet durch Glauben, und das nicht aus euch: Gottes Gabe ist es, nicht aus Werken, damit sich nicht jemand rühme.“13 Luthers Gegner wiederum können, und das taten sie in der Geschichte zu Genüge, ihm aus dem Jakobusbrief entgegenschleudern: „So seht ihr nun, dass der Mensch durch Werke gerecht wird, nicht durch Glauben allein. […] Denn wie der Leib ohne Geist tot ist, so ist auch der Glaube ohne Werke tot.“14 Sola Fide ist eben ein falsches Konzept15.

Dieser übermäßige Verallgemeinerung des Götzenbegriffs hängen nicht alle Protestanten an. Im calvinistischen „Heidelberger Katechismus“ steht als Antwort auf Frage 95 „Was ist Götzendienst?“: „Anstelle des einen wahren Gottes, der sich in seinem Wort offenbart hat, oder neben ihm, irgendetwas anderes ersinnen oder haben, worauf der Mensch sein Vertrauen setzt.“16 Mit „Vertrauen“ ist offensichtlich der Glaube gemeint. Diese Sichtweise deckt sich mit der Bibel und weist keine Überinterpretation auf. Daran kann man erkennen, dass es sich bei der Sichtweise der amerikanischen Anglikaner und bornierter Lutheraner nicht um eine Zwangsläufigkeit des christlichen Glaubens handelt, sondern um ihre Interpretation.

Die Sichtweise, die jene vertreten, die alles als „Abgötterei“ und „Götzendienst“ abtun, was nicht der Glaube an Gott ist, ist nicht nur lächerlich, sondern kann in die Kategorie „religiöser Totalitarismus“ gefasst werden. Ausgerechnet jene Vertreter werfen mit dem „Totalitarismus“-Vorwurf am meisten umher – ob offen ausgesprochen oder impliziert – sind aber selbst die übelsten Repräsentanten solcher „totaler“ Ansichten. Es heißt in der Bibel, dass alles unter dem Himmel seine Zeit habe17. Für diese Vertreter des „totalen Glaubens“ gibt es aber vordergründig nur Zeit für eines, fühlt man ihnen aber auf den Zahn, so findet man, dass es sich bei ihnen um reaktionäre bürgerliche Ideologen handelt, die sich bloß einen Talar umgeworfen haben.

Wie man erkennen kann, ist die Glaubensfrage eine politische Frage. Glaubensfrage im liberalen Sinne bedeutet letztlich, auf dem Gebiet der Religion reaktionären politischen Erscheinungen gleichgültig gegenüberzustehen. Wir dürfen dieser Frage nicht gleichgültig gegenüberstehen.

1 „Erweiterter Katechismus“ In: „Christ-Sein – Anglikanischer Katechismus“, Anglikanische Kirche in Deutschland, Schwarzenborn 2017, S. 259.

3 3. Mose 26, 1.

4 Vgl. 2. Mose 20, 23.

5 Siehe: 2. Mose 32, 4.

6 1. Samuel 15, 23.

7 5. Mose 6, 5.

8 „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ (1843) In: Karl Marx/Friedrich Engels „Werke“, Bd. 1, Dietz Verlag, Berlin 1981, S. 378.

9 3. Mose 20, 3.

10 „Sermon von den guten Werken“ (1520) In: Luther „Auswahl“, Deutsche Buch-Gemeinschaft, Berlin/Darmstadt/Wien 1961, S. 43.

12 Vgl. D. Martin Luthers Werke“, Bd. 30.1, Hermann Böhlaus Nachfolger, Weimar 1910, S. 135.

13 Epheser 2, 8-9.

14 Jakobus 2, 24 und 26.

16 „Heidelberger Katechismus“, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2022, S. 62.

17 Prediger 3, 1 ff.

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