Hätte China eigenständig den Kapitalismus entwickeln können? – Zur Theorie der „Keime des Kapitalismus“

In der Warenwirtschaft, die sich in der chinesischen Feudalgesellschaft entwickelt hatte, waren bereits die ersten Keime des Kapitalismus enthalten. Deswegen hätte sich China auch ohne Einwirkung des ausländischen Kapitalismus allmählich zu einer kapitalistischen Gesellschaft entwickelt.“1 – Mao Tsetung

In China ist die geschichtswissenschaftliche Theorie jahrzehntelang diskutiert worden, ob China selbstständig ohne den imperialistischen Einfluss ab der Zeit der Opiumkriege den Kapitalismus hätte entwickeln können. Diese Theorie brachte den Begriff „Keime des Kapitalismus“2 hervor, welche innerhalb der chinesischen Feudalgesellschaft der Ming- und Qing-Dynastie bestanden haben. Im Westen ist diese Theorie kaum bekannt und wird von vielen als nicht relevant angesehen. Dabei ist sie wichtig, um aufzuzeigen, dass der historische Materialismus keine „westliche Erfindung“ ist, sondern ein reales Modell der gesellschaftlichen Entwicklung.

Diese kapitalistische Entwicklung Chinas vor 1840 erfolgte aber sehr langsam:

Embryonischer Kapitalismus tauchte erstmals in der späten Ming-Zeit auf, zwei Jahrhunderte später als in den Küstenstädten Italiens, den Niederlanden und Englands. In der Mitte der Qing-Dynastie sind nur eine kleine Menge der Handwerksindustrien auf diesen Stand fortgeschritten und in der Landwirtschaft war diese Entwicklung zu vernachlässigen. Sogar im Jahre 1840 war die Handwerksindustrie noch nicht auf den Stand der Manufakturproduktion übergegangen, welche in England und bestimmten Städten Kontinentaleuropas seit dem 16. Jahrhundert nachgewiesen sind.“3

Die „Keime des Kapitalismus“ blieben auf einige Bereiche der Warenproduktion beschränkt:

Embryonischer Kapitalismus begann in Verarbeitungsindustrien aufzutauchen, etwa beim Tee, Tabak und Wein, nicht weil die Warenproduzenten sich von der Landwirtschaft getrennt hätten, sondern als Ergebnis, dass Händler Arbeitskraft anheuerten, um diese Güter zu produzieren.“4 Außerdem gab es auch beispielsweise Zucker- und Papiermanufakturen aus Investitionen von Großgrundbesitzern und Händlern, nicht als Entwicklung des Handwerks5.

Es ist aus diesem Grund wenig verwunderlich, dass sich daraus keine bürgerliche Ideologie herausbilden konnte6 und sich keine verbundene bürgerliche Klasse wie in den europäischen Städten herausbildete7. Man kann also festhalten: Es gab Ansätze von Kapitalismus, aber diese waren noch auf einer niedrigen Entwicklungsstufe. Manch einer mag aus diesem Grund im Nachhinein deterministisch argumentieren wollen, dass China aus diesem Grund prinzipiell nicht in der Lage gewesen wäre, den Kapitalismus aus eigener Kraft zu entwickeln.

Dass die Theorie der „Keime des Kapitalismus“ kein chinesisches Hirngespinst ist, sondern eine valide Theorie, sieht man daran, dass es in Ostasien durchaus ein Land gab, welches eigenständig den Kapitalismus entwickelt hatte: Japan.

Der japanische marxistische Historiker Kiyoshi Inoue schrieb eine „Geschichte Japans“, die vor allem die gesellschaftlichen Verhältnisse in den Blick nahm. Er schrieb davon, dass in Japan seit Mitte des 17. Jahrhunderts der Übergang zum Kapitalismus auf der Tagesordnung stand8. Die japanischen Feudalherrscher der Edo-Periode unterdrückten aber derartige Bestrebungen bis Mitte des 19. Jahrhunderts. Die erzwungene Öffnung nach 1853 durch die Kanonenbootpolitik Amerikas stellte Japan vor diese Entscheidung: „Die Länder, die zu den kapitalistischen Ländern Beziehungen unterhielten, waren gezwungen, schnell ein eigenes kapitalistisches Wirtschaftssystem aufzubauen. Taten sie das nicht, liefen sie Gefahr, kolonialisiert bzw. halb-kolonialisiert zu werden.“9 Japan erreichte Ersteres; China verfiel Letzterem.

Der vollständige Durchbruch des Kapitalismus sollte aber erst 1868 durch die Meiji-Restauration erfolgen. Kiyoshi Inoue betonte, dass das kapitalistische System „im Ansatz“ bereits vor der Öffnung Japans bestanden habe, sich durch die erzwungene Öffnung aber schnell weiterentwickelte10. Diese schnelle kapitalistische Entwicklung Japans, die dazu führte, dass Japan zu einer imperialistischen Macht heranwuchs, die sich mit den europäischen Großmächten messen konnte (wie man später im Russisch-Japanischen Krieg von 1904/1905 sehen sollte), wurde erst dadurch möglich, dass Japans Gesellschaft seit 200 Jahren für diese Entwicklung reif war.

China hätte wie Japan eigenständig den Kapitalismus entwickeln können, wenn die bürgerlichen Elemente in China fortgeschrittener gewesen wären. Wie lange dies gedauert hätte, ist schwer zu sagen. Tatsache ist aber, dass diese theoretische Möglichkeit bestanden hat.

1 „Die chinesische Revolution und die Kommunistische Partei Chinas“ (Dezember 1939) In: Mao Tse-tung „Ausgewählte Werke“, Bd. II, Verlag für fremdsprachige Literatur, Peking 1968, S. 358.

3 (Hrsg.) Xu Dixin/Wu Chengming „Chinese Capitalism, 1522-1840“, Macmillan Press, London 2000, S. 375, Englisch.

4 Ebenda, S. 377, Englisch.

5 Vgl. Ebenda.

6 Vgl. Ebenda, S. 402, Englisch.

7 Vgl. Ebenda, S. 409, Englisch.

8 Vgl. Kiyoshi Inoue „Geschichte Japans“, Campus Verlag, Frankfurt/New York 2003, S. 222.

9 Ebenda, S. 287.

10 Vgl. Ebenda, S. 321.

//