Gibt es einen freien Willen oder ist alles vorherbestimmt?
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Eine Frage, die wohl nie alt werden wird: Gibt es einen freien Willen oder ist alles vorherbestimmt? Die Antwort darauf ist nicht einfach mit einem Ja oder Nein erledigt. Weder ist alles vorherbestimmt, noch gibt es einen absolut freien Willen, wie er oft darunter verstanden wird, als ein abstraktes Ideal1. Aber eines kann man vorweg schon sagen: Es gibt einen freien Willen, aber eben nur auf Grundlage der materiellen Verhältnisse.
Zur Frage des Determinismus
Wie kommt dieses Ergebnis zustande? Nun, die Vorherbestimmtheit bedeutet Determinismus. Man nimmt die eingetretene Option bzw. das eingetretene Ereignis und stellt es als das einzig mögliche dar aufgrund der gegebenen Bedingungen und lässt praktisch die anderen Möglichkeiten außer Acht, erklärt sie für nichtig, weil sie nicht eingetreten sind. Man lässt dabei das Bewusstsein außer Acht und schaut bloß auf die materiellen Bedingungen. Wenn man beispielsweise einkaufen geht, so kann man das Geld nur einmal ausgeben, muss entsprechend eine Entscheidung treffen und abwägen. Natürlich wird es da Prioritäten geben, zum Beispiel sich Grundnahrungsmittel zu beschaffen, statt nicht unbedingt notwendige Genussmittel, aber auch diese Prioritätensetzung hat als Grundbedingung das Bewusstsein über die Situation. Bewusstes Handeln, das ist freier Wille. Unbewusstes Handeln ist blindes Handeln, somit unfrei. Wenn man sich einer Sache bewusst ist, kann man eine aktive Entscheidung treffen. Wenn man unwissend ist, so trifft man ins Blaue hinein eine Entscheidung, ohne die Konsequenzen voll zu durchblicken. Freier Wille setzt also ein geplantes Handeln aufgrund von Wissen voraus, während Unwissenheit einem zum spontanen Spielball der materiellen Verhältnisse macht. Hermann Duncker würde hier widersprechen: „Eine Willensfreiheit im philosophisch-idealistischen Sinne gibt es nicht, es gibt nur Willensbedingtheit.“2 Duncker sagt außerdem, dass zum einen der Wille nicht „an sich“ existieren kann und zum anderen durch etwas ausgelöst sein muss3. Daraus spricht ein Determinismus, der das Bewusstsein als Faktor gleich null setzt und analog einzig und allein Schlüsse aus den materiellen Bedingungen zieht. Der subjektive Faktor, der nicht unbedingt rational sein muss, wird als rational vorausgesetzt und dazu noch als unvermeidbare Folge. Duncker schreibt weiter: „Wir kommen somit zu dem eigenartigen Dualismus:
1. als erlebender, wollender Mensch bin ich erfüllt vom Bewußtsein, daß mein Wille frei und nicht anderweitig bedingt ist;
2. als nachdenkender Mensch bin ich erfüllt von dem Bewußtsein, daß mein Wille der jeweils stärksten Bedingung folgte und folgen mußte.“4 Das Problem dabei ist, dass er somit das Endergebnis als das einzig mögliche anerkennt, weil es die „stärksten Bedingungen“ gehabt habe. Das wäre aber nur der Fall, wenn der Mensch immer rational handeln würde. Aber es gibt Fälle, wo man sich wider besseren Wissens für etwas anderes entscheidet, man etwas also rational weiß, aber subjektiv missachtet oder man zwar mehr Gründe für eine Seite hätte, sich aber dennoch für das Gegenteil entscheidet. Manchmal liegt man damit sogar richtig, weil man nicht alle Bedingungen im Gedächtnis hatte, somit intuitiv, blindlings sich entschieden hat und zufälligerweise sich richtig entschied. Diese Situation sieht man häufig in Quiz-Shows bei Fragen, von denen die Kandidaten objektiv keine fachlichen Kenntnisse besitzen. Man kann natürlich versuchen sich etwas herzuleiten, aber das muss nicht stimmen, aber darauf könnte man immerhin die Bedingungen als Grundprinzip machen, denn sie können auch falsch sein, aber es gibt eben auch Situationen, wo ins Geratewohl geraten wird in solchen Situationen. Eine zufällige Entscheidung ohne größeres Abwägen aufgrund des Mangels an Kenntnissen. Selbst beim Wissen gibt es einen Unterschied, ob man es nur indirekt weiß, also aus Büchern und Erzählungen, oder ob man es direkt weiß, aus praktischen Erfahrungen5. Und dieses indirekte Wissen ist nur dann richtig, wenn es sich in der Praxis bestätigt6.
Für Duncker besteht der freie Wille nicht. Nicht etwa, weil es für ihn keinen Willen gäbe, denn den sieht er als eine ziemlich analoge Folge aus der materiellen Grundlage, sondern weil für ihn die Freiheit eine reine Illusion ist7. Er schrieb zwar auf die Negierung von willkürlichem Handeln „Der Mensch ist kein mechanisch reagierendes, aufgezogenes Uhrwerk, er ist keine Marionette an Drähten.“8, aber die Negierung einer eingeschränkten Willensfreiheit verursacht genau das, auch wenn man das abstreiten mag. Ansonsten müsste man sie dem Menschen doch durch die Hintertür zugestehen, sozusagen eine reißerische Aussage treffen und sie in einer Fußnote relativieren. Aber er tat dies nicht, sondern schlug nur vor, „Willensunfreiheit“ nicht als Begriff zu benutzen, weil das die Leute verschrecken würde und geht dabei auf subjektive Befindlichkeiten ein9. Aber darin steckt, dass Duncker es vermeiden will seine letzte Konsequenz offenkundig zu machen nach außen aus Angst vor Ablehnung. Aber würde der Wille nicht frei sein, dann müssten die Leute das doch analog akzeptieren. Es scheint, als würde Duncker ein Problem erkennen und anstatt über die Lösung zu reden, die Scherben unter den Teppich kehren wollen. Der russische materialistische Philosoph und bürgerliche Revolutionär Nikolai Dobroljubow sagte einst: „Das große Verdienst der modernen Wissenschaft besteht darin, daß sie die scheinbaren Widersprüche zu einer natürlichen Einheit verbunden hat. Erst die moderne Wissenschaft hat die scholastische Zwiespältigkeit des Menschen überwunden und hat angefangen, den Menschen in seinem vollständigen, untrennbaren Bestande, das Körperliche mitsamt dem Geistigen, zu betrachten, ohne sie trennen zu wollen.“10 Der materialistische Philosoph Alexander Herzen sah das ganz ähnlich11. Das mag nun schon mehr als 150 Jahre zurückliegen, als sie das aussagten, aber es stimmt noch immer. Was jedoch nicht klar heraussticht, ob sie eine mechanische Einheit im Sinn hatten oder eine Einheit von Gegensätzen, die eben dialektisch verbunden sind und somit untrennbar. Jedenfalls ist klar, dass das Denken sekundär ist und die materiellen Verhältnisse das Primäre. Aber dennoch ist das Denken ein relativ selbstständiger Faktor, sonst bestünde kein dialektischer Gegensatz und diese Kategorie würde praktisch nicht bestehen. Als Kontraargumente zur „Illusion“ der Willensfreiheit lieferte Duncker dies ab: „Der dialektische Materialismus zeigt uns jedoch, daß
1. das gesellschaftliche Sein das Bewußtsein bestimmt;
2. das materielle Sein das geistige Sein bedingt (das geistige Sein also sekundär ist);
3. der Wille, als Teil des geistigen Seins, auch eine sekundäre Erscheinung ist, das heißt, immer eine primäre Bedingung haben muß.“12 Wer gut aufgepasst hat, dem dürfte auffallen, dass Hermann Duncker sich im Kern drei Mal wiederholt hat. Es ist klar, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt. Aber auf der Grundlage des materiellen Seins gibt es eben mehrere Möglichkeiten und keine vorherbestimmte Lösung. Antonio Gramsci schrieb in einem seiner Gefängnishefte: „In jedem Moment gibt es eine freie Wahl, die gemäß bestimmter Leitlinien erfolgt, die für eine große Menge von Individuen oder Einzelwillen identisch sind, insofern diese in einem bestimmten ethisch-politischen Klima homogen geworden sind. Das heißt nicht, daß alle auf gleiche Weise handeln: die individuellen Willkürakte sind sogar vielfältig, aber der homogene Teil überwiegt und ´diktiert das Gesetz´.“13 Wenn man in bestimmten soziokulturellen Verhältnissen aufwächst, wird man auf die ökonomischen und politischen Verhältnisse in der Regel in ähnlicher, in homogener Weise reagieren, aber es gibt keine unüberwindliche Chinesische Mauer, die eigene Praxis zu hinterfragen. Deshalb ist der „homo oeconomicus“ in jeder klassenmäßig anderen Gesellschaftsordnung auch entsprechend anders und ein abstraktes Ideal, nach dem der Mensch nur eingeschränkt funktioniert14. Gäbe es keine materiell beschränkte, aber dennoch vorhandene Willensfreiheit, würde der Mensch genau diesem abstrakten Schema folgen, weil es theoretisch die ökonomisch am besten performende Person wäre.
Man hat also eben doch eine gewisse Willensfreiheit.
Definition von Freiheit
Aber was ist Freiheit? Freiheit ist das Recht auf die Nutzung seiner Möglichkeiten in Bezug auf einen konkreten Tatbestand. Meinungsfreiheit, Eigentumsfreiheit und Vereinsfreiheit sind drei Beispiele von unzähligen. Aber auch diese Freiheiten unterliegen Beschränkungen, also „Unfreiheiten“ in gewisser Hinsicht. So deckt die Meinungsfreiheit zum Beispiel nicht Beleidigung ab und auch nicht den Aufruf zu einem Putschversuch. Freiheit und Unfreiheit bilden eine Einheit von Gegensätzen, wird aber praktisch nie bis zum einen oder anderen Extrem auf das vollste ausgeschöpft, da dies zumeist unpraktikabel ist.
Zur Frage des freien Willens
Es stimmt natürlich, dass es den freien Willen nicht als ein Absolutes gibt, wie die Bourgeoisie ihn ideologisch heraufbeschwört und vor lauter Vagheit keine klare Definition abliefert. Aber es gibt eben einen freien Willen unter der Voraussetzung der materiellen Verhältnisse und des Wissensstandes, wie man die materiellen Verhältnisse selbst umgestaltet. Lenin notierte einst: „Das Bewußtsein des Menschen widerspiegelt nicht nur die objektive Welt, sondern schafft sie auch.“15 Zum Aufbau des Sozialismus ist proletarisches Klassenbewusstsein notwendig, wie zur bürgerlichen Revolution das bourgeoise Klassenbewusstsein notwendig war. Das weiß die Bourgeoisie nur allzu gut, weshalb sie ihre Ideologie auf die Werktätigen durchdrückt, sei es in den von den Medien, die in ihrem Eigentum sich befinden, oder dem Bildungssystem. Dort gilt, was Bert Brecht einst niederschrieb: „Nur von der Unwissenheit des anderen konnte der eine profitieren, dies lag im System.“16 Zu dieser anerzogenen Unwissenheit, indem einen Kenntnisse über Geschichte, Gesellschaft, Politik und Ökonomie nur verzerrt dargeboten oder gar vorenthalten werden, kommt die demagogische Behauptung von „Freiheit“ auf allen politischen und gesellschaftlichen Belangen. Praktisch ist es jedoch nur eine Illusion von Freiheit für die Werktätigen, da den meisten das Wissen fehlt und auch die materiellen Möglichkeiten diese „Freiheiten“ voll auszunutzen17. Was nützt einem die „Freiheit“ Lohnarbeiter beschäftigen zu können, wenn man selbst kein Kapital hat und somit von der Gnade des Unternehmers abhängt? Was nützt einem die „Freiheit“ eine Partei zu gründen, wenn zugleich die „Freiheit“ besteht, die sogenannten „systemtragenden Parteien“, die den Willen des Kapitals umsetzen, durch Parteispenden aufzupumpen und die materielle Möglichkeit, ob legal oder illegal, besteht, deren Spitzenpolitiker zu bestechen? Selbst die Meinungsfreiheit nützt einem nur in geringem Maße, wenn die Medien entweder privaten Unternehmen gehören sowie zwar formell öffentlich-rechtlich sind, aber deren Gremien von den „systemtragenden Parteien“ besetzt sind und somit die Informationsverbreitungsmaschinerie bis auf kleine, unabhängige Blättchen und Mundpropaganda praktisch in einer Hand sind. In wessen Interesse gesendet wird, dürfte ersichtlich sein. Was hat das Erwähnte mit Willensfreiheit zu tun? Folgendes: Es handelt sich dabei um die politische Instrumentalisierung von der Willensfreiheit als Propagandaschlagwort. Das kapitalistische System behauptet, dass es „Freiheit für alle“ garantieren würde, aber die dabei verwendeten Kategorien, wie die „Freiheit“ Lohnabhängige zu beschäftigen, raubt ihnen die ökonomische Freiheit und praktisch auch die politische, denn ökonomische Macht wird direkt oder indirekt auf die politische Macht zurück. Dem Sozialismus wird vorgeworfen, dass er eben diese „universelle Freiheit“ nicht anerkennt und deshalb „totalitär“ sei. Dabei spricht der Sozialismus offen aus, dass es eine solche Freiheit nicht geben kann, solange gesellschaftliche Klassen bestehen und wirkt eben daraufhin, diese abzuschaffen im Kommunismus, während der Kapitalismus bloß mit einer großen Lüge versucht den Status quo zu rechtfertigen. Das mag bei denjenigen wirken, die noch einen Arbeitsplatz haben, von dem sie leben können, auch wenn das gesamtgesellschaftlich betrachtet eine schmelzende Eisscholle darstellt, aber für eine wachsende Masse der Werktätigen wird klar, dass diese „universelle Freiheit“ bloß eine athenische Sklavenhalterfreiheit ist, bloß auf höherer gesellschaftlicher Stufe. „Niemand ist mehr Sklave, als der sich für frei hält, ohne es zu sein.“18, das wusste bereits Goethe und heute ist es nicht anders, nur geht es nicht mehr um den feudalen Absolutismus, der sich durch die Gewährung gewisser Bürgerrechte einen menschlicheren Anstrich geben wollte dem Bürgertum gegenüber, sondern um den staatsmonopolistischen Kapitalismus. Die Notwendigkeit des Kampfes dagegen ist absolut deterministisch. Was hat das zu bedeuten?
Absoluter und relativer Determinismus
Man muss unterscheiden zwischen einem absoluten und einem relativen Determinismus. Der absolute Determinismus kann nur bei allgemeinen Tendenzen der Entwicklung gelten, zum Beispiel, dass der Klassenkampf zur Überwindung des Kapitalismus durch den Sozialismus führen wird, zur sozialistischen Revolution; dass, wenn jemand geboren wird, er sterben wird, auch wenn es ein Jahrhundert benötigt; dass der Mensch etwas essen muss, um zu überleben; dass Materie und Bewegung nicht aufhören werden, solange unser Universum besteht. Relativer Determinismus ist dann, was aufgrund dieser allgemeinen Tendenzen konkret gemacht wird. Und das muss gesellschaftlich nicht immer so mechanisch-rational erfolgen, wie es an die allgemeinen Tendenzen am besten angepasst wäre. Wie man konkret zum Sozialismus übergeht; wie man stirbt und wie lange es dauert; was man isst – das ist alles relativ. Darin gibt es so viele Optionen, wie sie Möglichkeiten – reale Möglichkeiten. Ob die sozialistische Revolution in einem langjährigen Bürgerkrieg endet, der das Land stark in Mitleidenschaft zieht, oder nur wenige Tage oder Wochen andauert (wobei der Reformismus absolut unmöglich ist, somit keine reale Option) oder ob man Bratkartoffeln oder Buchweizengrütze zu sich nimmt, da gibt es nicht nur eine Möglichkeit. Bei der Frage der Revolution hängt es davon ab, wie die Bourgeoisie vorbereitet ist und wie stark ihr Kräfteverhältnis an Truppen und Massenbasis ist, hängt also primär vom Klassenfeind ab, während die Nahrungsmittelfrage hauptsächlich davon abhängt, auf was man zugreifen kann, sei es im Supermarkt und gegebenenfalls im Eigenanbau, falls man einen Garten hat, und was man letztendlich konkret zuhause eingelagert hat, wenn einem der Magen knurrt. Dort kann man auch keine absolut freie Entscheidung fällen, aber eine relativ freie Entscheidung aufgrund der materiellen Bedingungen. Bei der Revolutionsfrage ist es gewissermaßen vorherbestimmt, aber auch nicht absolut, da die Bourgeoisie nicht bloß als „abstrakt“ wahrgenommenen Klassenformation existiert, sondern als Menschen mit Privilegien gegenüber der werktätigen Bevölkerung, und entsprechend subjektive Maßnahmen zu treffen hat, die wiederum natürlich nicht zu trennen sind von der materiellen Grundlage. Aber aufgrund dieser Grundlage haben sie verschiedene Optionen, sogar die Aufgabe, auch wenn das sehr unwahrscheinlich ist und nur seltene Fälle, wie der Mitbegründer des Marxismus Friedrich Engels einer war, umfassen wird. Lenin schrieb einst: „Die Idee des Determinismus, die die Notwendigkeit der menschlichen Handlungen feststellt und die unsinnige Fabel von der Willensfreiheit zurückweist, verwirft damit keineswegs die Vernunft, das Gewissen des Menschen oder eine Bewertung seines Handelns. Ganz im Gegenteil, nur die deterministische Auffassung gestattet eine strenge und richtige Bewertung und schließt aus, daß alles mögliche auf den freien Willen abgewälzt wird.“19 Damit wird dem freien Willen, gereinigt von einer abstrakten, verschwommenen Freiheitsauffassung der Bourgeoisie, einen gewissen Platz eingeräumt, lediglich umbenannt in „Gewissen“. Bei Hermann Duncker wird dieses Lenin-Zitat angeführt, aber lediglich verkürzt auf „unsinnige Fabel von der Willensfreiheit“20, also aus dem Kontext gerissen. Damit versuchte Duncker seine Aussagen mit Lenins Aussagen zu „beweisen“. Aber damit verhält es sich, wie Kurt Gossweiler einst sagte: „Die Tatsachen stehen höher als jede noch so autoritative Äußerung – wo das nicht anerkannt wird, muß die Wissenschaft verdorren.“21 Lenin hat zwar Recht, dass es eine auf dem Determinismus aufbauende Weltanschauung geben muss22, was primär den absoluten Determinismus betrifft. Aber man darf keineswegs außer Acht lassen, dass das Bewusstsein der Menschen eben nicht so absolut-deterministisch funktioniert. Es geht primär um den Determinismus der gesellschaftlichen Entwicklungstendenz.
Die Bourgeoisie versucht den absoluten Determinismus des Untergangs des kapitalistischen Systems und die Erkämpfung des Sozialismus, die Zuspitzung des Klassenkampfes zwischen der Arbeiterklasse und der Bourgeoisie, als einen „Untergang der Welt“ darzustellen, wie er in der Geschichte der menschlichen Gesellschaftsentwicklung bereits ein alter Hut geworden ist, wie, als die Feudalherren gegen die Herrschaft der Bourgeoisie als „Pöbelherrschaft“ schimpften, die „Chaos“ verursachen würde. Bert Brecht nahm diesen Demagogenmythos literarisch aufs Korn in seinem „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“, als die Stadt von einem Sturm zerstört werden sollte, aber im letzten Moment davon verschont blieb und trotzdem zerstört wurde, von innen, durch die eigenen gesellschaftlichen Widersprüche. Brechts Worte
„Wir brauchen keinen Hurrikan
Wir brauchen keinen Taifun
Was der an Schrecken tuen kann
Das können wir selber tun.“23
sind eine Karikatur auf bürgerliche Weltuntergangsszenarien. Absolut deterministisch sind antagonistische Widersprüche, bei der nicht nur die eine Seite die andere überwinden kann, sondern die gewissermaßen „asymmetrisch“ sind, weil letzten Endes nur eine Seite langfristig siegen kann, während die andere höchstens einen Aufschub gewinnen kann. Man kann den Tod nur aufschieben, aber biologisch gegen ihn niemals gewinnen; die Bourgeoisie kann das Proletariat zwar einige Male niederschlagen, aber letzten Endes wird sie als Klasse aufhören zu bestehen.
Zusammengefasst: Es ist falsch, wenn man lediglich von Vorherbestimmtheit von Verhaltensweisen spricht, weil sie eine mechanische Übertragung der materiellen Bedingungen auf das Bewusstsein sind und auf der anderen Seite der freie Wille genauso wenig als Absolutum existent ist, sondern dialektisch an die materiellen Bedingungen gebunden. Es handelt sich dabei bloß um eine Einheit der Gegensätze von Freiheit und Unfreiheit, hier als Wille und Vorherbestimmung, verwoben mit der Einheit der Gegensätze von Idee und Materie. Alle Erkenntnis kommt aus der Praxis24, somit ist die Materie das Primäre, aber auf Grundlage der materiellen Bedingungen gibt es einen freien Willen innerhalb dieses Rahmens.
1Siehe bspw.: „Wegweiser zur Bildung für deutsche Lehrer“ In: Adolf Diesterweg „Schriften und Reden in zwei Bänden“, Bd. I, Volk und Wissen Verlag, Berlin/Leipzig 1950, S. 8. Dort legt Diesterweg die „freie Selbstbestimmung“ als ein vages, abstraktes Ideal dar.
2„Willensfreiheit? Ein Kapitel marxistischer Bewußtseinslehre“ (Mai 1948) In: Hermann Duncker „Einführungen in den Marxismus“, Bd. II, Verlag Tribüne, Berlin 1959, S. 99.
3Vgl. Ebenda, S. 97.
4Ebenda, S. 100.
5Vgl. „Die Natur des menschlichen Wissens“ (1885) In: N. G. Tschernyschewski „Ausgewählte philosophische Schriften“, Verlag für fremdsprachige Literatur, Moskau 1953, S. 219.
6Siehe: „Woher kommen die richtigen Ideen der Menschen?“ (Mai 1963) In: „Vier philosophische Monographien von Mao Tse-tung“, Verlag für fremdsprachige Literatur, Peking 1968, S. 149.
7Vgl. „Willensfreiheit? Ein Kapitel marxistischer Bewußtseinslehre“ (Mai 1948) In: Hermann Duncker „Einführungen in den Marxismus“, Bd. II, Verlag Tribüne, Berlin 1959, S. 101.
8Ebenda, S. 99.
9Vgl. Ebenda.
10„Die organische Entwicklung des Menschen im Zusammenhang mit seiner geistigen und sittlichen Betätigung“ (1858) In: N. A. Dobroljubow „Ausgewählte philosophische Schriften“, Verlag für fremdsprachige Literatur, Moskau 1951, S. 131.
11Siehe: „Empirie und Idealismus“ In: A. I. Herzen Ausgewählte philosophische Schriften“, Verlag für fremdsprachige Literatur, Moskau 1949, S. 125.
12„Willensfreiheit? Ein Kapitel marxistischer Bewußtseinslehre“ (Mai 1948) In: Hermann Duncker „Einführungen in den Marxismus“, Bd. II, Verlag Tribüne, Berlin 1959, S. 101.
13„Freiheit und ´Automatismus´ (oder Rationalität)“ (H10, §8) In: Antonio Gramsci „Gefängnishefte“, Bd. 6, Argument Verlag, Hamburg 2019, S. 1260/1261.
14Siehe: „Kleine Anmerkungen zur Ökonomie“ (H10, §15) In: Ebenda, S. 1267.
15„Konspekt zu Hegels ´Wissenschaft der Logik´“ In: W. I. Lenin „Werke“, Bd. 38, Dietz Verlag, Berlin 1973, S. 203.
16„[Über die Funktion des Denkens]“ In: Bertolt Brecht „Schriften zur Politik und Gesellschaft 1919 – 1956“, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1974, S. 164.
17Siehe: Walter Ulbricht „Die I. Internationale und die gegenwärtige kommunistische Bewegung“ (25. bis 29. September 1964), Dietz Verlag, Berlin 1964, S. 38/39.
18„Die Wahlverwandtschaften“ (1809) In: „Goethes Werke“, Gutenberg Verlag, Hamburg o. J., S. 139.
19„Was sind die ´Volksfreunde´ und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokraten?“ (1894) In: W. I. Lenin „Werke“, Bd. 1, Dietz Verlag, Berlin 1961, S. 152.
20Siehe: „Willensfreiheit? Ein Kapitel marxistischer Bewußtseinslehre“ (Mai 1948) In: Hermann Duncker „Einführungen in den Marxismus“, Bd. II, Verlag Tribüne, Berlin 1959, S. 96.
21„Tatsachen stehen höher als jede autoritative Äußerung – Fragen zur wissenschaftlichen Analyse des staatsmonopolistischen Kapitalismus“ (1965) In: Kurt Gossweiler „Wider den Revisionismus“, Verlag zur Förderung der wissenschaftlichen Weltanschauung, München 1997, S. 98.
22Vgl. „Materialismus und Empiriokritizismus“ (1908) In: W. I. Lenin „Werke“, Bd. 14, Dietz Verlag, Berlin 1975, S. 188.
23Bertolt Brecht „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“, Suhrkamp Verlag, Berlin 2018, S. 78.
24Siehe: „Über die Praxis“ (Juli 1937) In: Mao Tse-tung „Ausgewählte Werke“, Bd. I, Verlag für fremdsprachige Literatur, Peking 1968, S. 349.