Gegen die Passivität

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Ein philosophisches Problem des Alltags, das jeder kennt: „Lass es sein, du kannst ohnehin nichts ändern.“ Dieses Problem ist sogar so alt, dass Robert Blums Schwester ihm vor fast 200 Jahren diesen Satz entgegenwarf, womit sie bezwecken wollte, dass er sein Bemühen um die bürgerliche Revolution aufgeben sollte, was Blum jedoch ablehnte1. Dabei muss man sich doch fragen: Wer schreibt die Geschichte? Passiert sie „einfach so“ per „Zufall“, oder wir sie gemacht? Karl Marx hatte darauf eine klare Antwort: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“2 Aber diese Umstände müssen erkannt und umgestaltet werden von jemanden und das sind die Massen. Dafür spielt das Bewusstsein eine große Rolle, es passiert nicht einfach so vorherbestimmt, automatisch oder gar spontan. Über diese Frage habe ich bereits ausreichend philosophiert3. Hier geht es um die Frage, wie das Individuum sich selbst wahrnimmt: Ob als aktiver Teilnehmer an der gesellschaftlichen Praxis oder bloß als „Zuschauer“.

Die Welt existiert objektiv, also ist man nicht bloß eine Art „denkender Geist“, sondern sowohl Denker, als auch Macher. Manche bewerten ihre gesellschaftliche Rolle über, sehen sich als eine Art „Auserwählten“, der im Alleingang alles verändert oder in einer kleinen Gruppe. Auf der anderen Seite gibt es die, die, wie oben erwähnt, sich selbst als rein passiv ansehen, denken, sie seien dazu verdammt, ein Spielball der gesellschaftlichen Verhältnisse zu sein. Zwischen Narzissmus und Selbstaufgabe gibt es auch die richtige Sichtweise des Marxismus, dass man die Welt verändern kann auf Grundlage der existierenden Verhältnisse und in Übereinstimmung mit natürlichen und gesellschaftlichen Gesetzesmäßigkeiten. Selbstüberschätzung und Selbstunterschätzung sind eine Einheit von Gegensätzen, die man in einem bestimmten Verhältnis lösen muss, je nach dem, wie hoch die eigenen Kenntnisse und Fähigkeiten sind. Deshalb ist nicht „die genaue Mitte“ richtig. Aber nicht nur durch die eigene Geisteshaltung entsteht Passivität, sondern auch durch zu hohe Erwartungen an bestehende Strukturen.

Prinzipienlose Kritik ist auch ein Ausdruck von Passivität. Kritik an allem und jedem, aber sich selbst dabei als handelnde Person ausklammern. Selbst wenn die Kritik richtig ist, solange die keine praktische Konsequenz hat, ist sie eine tote Theorie, sie existiert im Kopf, aber nicht in der Tat. Es ist richtig, dass Praxis ohne Theorie blind ist, aber genauso ist Theorie ohne Praxis tot4. Wenn ein Kritiker nur aus Gründen der Rechthaberei oder blinden Skeptizismus ein Problem, eine Person oder gar eine ganze Organisation kritisiert, dann kann sie durchaus richtig sein, aber wenn er selbst passiv bleibt, nicht bei der Verbesserung des Missstandes mitwirkt, dann ist diese Kritik ein Ruf in den leeren Wald. Sie wäre nur dann noch fruchtbar, wenn sie ein anderer mitbekäme, sie für richtig erachtet und entsprechend sein Handeln umwandelt, sozusagen als Stellvertreter. Diese Situation gibt es auch, dass man auf die Forschungsergebnisse von anderen zurückgreift, die der eigenen politischen Orientierung nicht zustimmen würden. Aber die Welt kann nicht bloß aus Stellvertretern bestehen, generell braucht es handelnde Individuen, sonst würde sich gar nichts bewegen. Deshalb darf man nicht nur von anderen fordern, sondern muss auch seinen eigenen Teil beitragen. Das gilt für jeden einzelnen.

Man kann so hart kritisieren, wie man will, solange daraus eine praktische Konsequenz folgt und aus dieser wiederum Aktivität. Dabei ist es egal, ob es sei um ein Parteimitglied handelt oder einen Parteilosen, egal, wie er zu uns steht. Mao Tsetung sagte einst: „Weil wir dem Volk dienen, fürchten wir nicht, daß man, wenn wir Mängel haben, uns darauf hinweist und kritisiert. Jedermann darf unsere Mängel bloßlegen, wer immer es auch sei. Insofern sein Hinweis richtig ist, sind wir bereit, unsere Mängel zu korrigieren. Wenn sein Vorschlag dem Volk zum Wohle gereicht, werden wir danach handeln.“5 Die Wahrheit ist wahr, egal wer sie ausspricht. Solange man daraus die richtigen Schlussfolgerungen raus zieht für die Tat, ist Kritik fruchtbar und nützlich. Die Kritik hat der konkreten Verbesserung eines Missstandes zu dienen. Kritik und Selbstkritik sind auch Mittel, mit denen man Passivität bekämpft, denn diese rufen zur Teilnahme an der Findung und Berichtigung von Fehlern auf. Auch hier gilt die Anwendung der Wechselwirkung von Theorie und Praxis.

Zusammengefasst gibt es also zwei Arten von Passivität: 1. Die Geisteshaltung, man könne an der Welt gar nichts verändern. 2. Tatenlosigkeit vor lauter Kritik an allem und jedem; Kritik ohne praktische Konsequenz.

Passiv bleiben, das ist, als würde man sein Leben im Flugzeugmodus verbringen – mit dem Unterschied, dass ein Mensch kein Elektrogerät ist, das man beliebig an- und abschalten kann, das ein bloßer Gebrauchsgegenstand ist, sondern ein Lebewesen. Man kann sich dadurch nicht voll entfalten, wird sich auch nicht über die eigene Lage vollständig bewusst und nimmt entsprechend nicht am Kampf um die eigene Befreiung teil. Genau deshalb ist es wichtig, die Passivität zu bekämpfen, indem wir die Massen zur Aktivität anregenden. Das geht nicht anders als durch die Überzeugung von der Notwendigkeit des Kampfes um den Sozialismus und die Vermittlung einer wissenschaftlichen Weltanschauung. Man kann keine großen Sprünge in kürzester Zeit erhoffen, wenn dafür keine geistige Grundlage gelegt wurde, aber steter Tropfen höhlt den Stein. Marx sagte: „Jeder Schritt wirklicher Bewegung ist wichtiger als ein Dutzend Programme.“6 Wenn jeder statt zu hadern, einfach tut, was notwendig ist und sich auf Grundlage der objektiven Wahrheit, der wissenschaftlichen Weltanschauung des Marxismus zusammenschließt, dann käme unsere Sache deutlich schneller voran. Die Isoliertheit vieler Genossen ist ein Problem, die demotivierend wirken kann, aber durch das Nichtstun wird es nicht besser, sondern zur selbsterfüllenden Prophezeiung. Wenn man nicht aktiv wird, weil andere nicht vor einem aktiv werden, so steht man vor dem Dilemma, wie die Trotzkisten, die auf einen Ausbruch der Revolution zur gleichen Zeit in allen Ländern warten: Jeder wartet, keiner tut etwas. Lenin polemisierte gegen eine solche Anschauung7. Stattdessen müssen wir alle unseren Teil beitragen, so viel leisten, wie wir aufgrund unserer Situation können. Stalin sagte, dass man niemals die Kleinarbeit ablehnen soll, denn aus dem Kleinen entsteht das Große8. Nun denn, an die Arbeit!

1Siehe: „Brief an die Schwester Margarete Selbach“ (23. November 1844) In: Robert Blum „Briefe und Dokumente“, Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig 1981, S. 30/31. Blum schrieb als Antwort auf die Aussage seiner Schwester: Pfui, schäme Dich derselben. Es hätte nie ein Christentum u. eine Reformation u. keine Staatsrevolution u. überhaupt nichts Großes u. Gutes gegeben, wenn jeder stets gedacht hätte: ´Du änderst doch nichts!´ Glaubst Du etwa, es sei ein Spiel, dieser Kampf gegen die Übergriffe u. unrechte Stellung der Staatsgewalten, aus der man sich zurückzieht, wenn es keinen Spaß mehr macht? Oder glaubst Du, man beginne diesen Kampf leichtfertig u. leichtsinnig, ohne das Bewußtsein, daß die Staatsgewalten die furchtbare Waffe eines Gesetzes, welches sie meist allein u. für ihre Zwecke gemacht haben, gegen uns schwingen u. wir fast unbewehrt sind?“

2Karl Marx „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ In: Karl Marx/Friedrich Engels „Ausgewählte Werke“, Bd. II, Dietz Verlag, Berlin 1974, S. 308.

4Vgl. „Über die Grundlagen des Leninismus“ (April/Mai 1924) In: J. W. Stalin „Werke“, Bd. 6, Dietz Verlag, Berlin 1952, S. 79.

5Dem Volk dienen“ (8. September 1944) In: Mao Tse-tung „Ausgewählte Werke“, Bd. III, Verlag für fremdsprachige Literatur, Peking 1969, S. 205.

6Brief an Wilhelm Bracke (5. Mai 1875) In: Karl Marx/Friedrich Engels „Werke“, Bd. 19, Dietz Verlag, Berlin 1987, S. 13.

7Siehe: Bericht über die Außenpolitik in der Sitzung des Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitees und des Moskauer Sowjets“ (14. Mai 1918) In: W. I. Lenin „Werke“, Bd. 27, Dietz Verlag, Berlin 1960, S. 365/366.

8Vgl. „An die Rabotschaja Gaseta“ (21. Januar 1925) In: J. W. Stalin „Werke“, Bd. 7, Dietz Verlag, Berlin 1952, S. 13.

 

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