Eingetretene Prophezeiungen – Schernikau an der Schwelle zum 35. Jahrestag
Am 1. Januar beginnt sich das letzte Jahr der DDR zum 35. Mal zu jähren. Es zeichnete sich schon damals unter der Regierung Modrow langsam ab, dass die DDR allmählich liquidiert werden würde. Die damalige Debatte innerhalb der Parteienlandschaft der DDR ging nur noch über den genauen Zeitpunkt – ob direkter Anschluss oder Konföderation.
Als der Kongress der Schriftsteller der DDR zwischen dem 1. und 3. März 1990 tagte, hielt Ronald M. Schernikau auf diesem eine Rede1, die die Folgenschwere der Lage erkannte und vor der kapitalistischen Zukunft in Deutschland warnte. Ich werde hier auf wesentliche Aussagen eingehen.
Er sagte ziemlich am Anfang:
„Die Dummheit der Kommunisten halte ich für kein Argument gegen den Kommunismus.“
Und etwas später:
„Wenn die Dummheit der Kommunisten die Leute zu Antikommunisten gemacht hat: dann war sie deren furchtbarster Fehler.“
Die „Dummheit der Kommunisten“ war es wohl, Revisionismus zu verteidigen anstatt offen und ehrlich Probleme anzugehen. Und wieso? Weil man die Parteidisziplin über den Menschenverstand stellte. Nur weil sich die Fehlbarkeit der Partei herausgestellt hat, heißt das nicht, dass die marxistische Lehre vom wissenschaftlichen Sozialismus falsch wäre. Die Wissenschaft ist nicht zu verwerfen, weil einzelne Wissenschaftler Fehler begehen. Damit hängt auch diese Aussage zusammen:
„Die Theaterstücke der letzten Phase der DDR beruhten immer darauf, daß der Feind, von dem alle sprachen, ausblieb. Die Kinder kannten den Feind nur als Entschuldigung für das Versagen des Königs. Schließlich glaubten sie nicht mehr an ihn. […] Die Erkenntnis, daß es den Feind wirklich gibt, wird ohne die Zerstörung des Landes nicht mehr zu haben sein.“
Das ist ein Problem gewesen: Statt ehrliche Selbstkritik zu üben, Fehler zu beheben und auf die Sorgen und Nöte der Werktätigen zu hören, wurden Sündenböcke gesucht und offensichtliche Probleme versuchte man zu vertuschen. Natürlich glaubte dann die Masse der SED nicht mehr. Das hat auch nichts mehr mit Marxismus und wissenschaftlichem Anspruch zu tun, sondern mit Verbürgerlichung der SED.
Die Wissenschaftlichkeit als Anspruch in der Politik ist längst entschwunden. An dessen Stelle trat leerer Moralismus. Schernikau sah diese Entwicklung voraus:
„Der Westen hat, und das ist ein so alter Trick, die Moral eingeführt, um über Politik nicht reden zu müssen. Moral, weil sie unter allen möglichen Standpunkten ausgerechnet den herzzerreißenden wählt, macht sich selber handlungsunfähig; deshalb ist sie so beliebt. Einen Vorgang moralisieren heißt, ihm seinen Inhalt nehmen.“
Wie schaut es heute aus? Aus den USA werden moralisierende Debatten analog übernommen, vor allem unter jüngeren Leuten, die des Pudels Kern nicht treffen und eher von der eigentlichen Problemquelle ablenken. Es geht darum, statt der Bourgeoisie und dem Kapitalismus irgendwelche Nebenwidersprüche aufzubauschen und sich über sie moralisch zu ereifern. Das Gendern wäre da allem voran zu nennen. Daran erkennt man, wie inhaltsentleert die heutige Politik im Westen ist.
Schernikau, der selbst im Westen aufwuchs, sprach mit Erfahrung;
„Meine Damen und Herren, Sie wissen noch nichts von dem Maß an Unterwerfung, die der Westen jedem einzelnen seiner Bewohner abverlangt.“
Mit dieser Kritik war Schernikau nicht alleine. Scarlett Kleint und Angelika Griebner, eine Autorin und eine Journalistin aus der DDR, sagten in den 90ern in einem Interview: „Das neue System ist ebenso repressiv wie das alte. Der Druck des Geldes hat den der Politik abgelöst. Die Zensur ist immer noch da. Die Wessis merken nicht einmal, wie wenig Freiheit ihnen bleibt. Sie tun alles, um ihren Vorgesetzten zu gefallen.“2 So ist es heutzutage auch: Die Meinungsfreiheit existiert de jure, aber de facto bringen einen ungenehme Meinungsäußerungen in Schwierigkeiten, die berufliche Konsequenzen haben können wie auch in der eigenen Bildungskarriere, etwa in der Schule. Meinungsfreiheit in der BRD ist die Freiheit, die herrschende Meinung zu reproduzieren oder informelle Konsequenzen zu spüren zu bekommen.
Schernikau hatte auch hiermit recht:
„Die DDR hat den Beweis erbracht, daß Zeitungsredakteure, wenn man sie nur läßt, nicht klügere Zeitungen machen sondern dümmere. Früher stand in den Zeitungen gar nichts, heute steht das Falsche drin.“
Das „Nichts“ war unter Honecker die Lobhudelei um die revisionistische Führung, die den Tatsachen nicht entsprach; das „Falsche“ ist die pro-kapitalistische Meinungsmache wider die eigenen Interessen der Werktätigen. Damit steht auch diese Aussage in Zusammenhang:
„Der Sieg hatte stattgefunden, als die DDR-Zeitungen das Ende der Privilegienherrschaft forderten. Was konnte schon an ihre Stelle treten? Brav forderten die Mitarbeiter der Verlage die Demokratie im Betrieb plus Beteiligung von Westkonzernen.“
Die „Demokratisierung“ bedeutete vor allem die Privatisierung. Man kann an den noch heute existierenden ehemaligen DDR-Zeitungen erkennen, dass diese mittlerweile in die Hände westlicher Konzerne übergegangen sind. Meinungsfreiheit? Fehlanzeige!
Diese Aussage ist nicht ganz richtig im wortwörtlichen Inhalt, aber sinngemäß richtig:
„Die DDR hat sich wehrlos gemacht, systematisch, mit offenen Augen. Endlich können wir auch die Erfahrungen der Linken im Westen verwerten!, das heißt: Wir werden sie bitter nötig haben. Wer die Gewerkschaft fordert, wird den Unternehmerverband kriegen. Wer den Videorekorder will, wird die Videofilme kriegen. Wer die Buntheit des Westens will, wird die Verzweiflung des Westens kriegen. Wer Bananen essen will, muß Neger verhungern lassen. Wer die Spaltung Europas überwinden will, muß den Westen siegen lassen.“
Jesus sagte mal, man müsse auch die andere Wange hinhalten3. So war das auch beim Anschluss an die kapitalistische BRD: Wer vermeintliche „Vorteile des Kapitalismus“ kosten möchte, muss sich auch dessen Nachteile als Mühlstein um den Hals hängen.
Schernikau führte den Sieg des Westens darauf zurück, dass dieser sich der Sozialdemokratie bediente:
„Die Strategie des Zurückrollens ist aufgegangen. Der Westen hat gesiegt. Er hat gesiegt, weil seine Herrschaftsformen sozialdemokratisch geworden sind.“
Die Abmilderung der Widersprüche im Kapitalismus durch gewisse Sozialreformen war, wie man sehen konnte, Schaufensterpolitik. Nach 1990 wurden in Europa viele sozialstaatliche Maßnahmen zurückgefahren, weil sie als „Schaufensterschmuck“ nicht mehr benötigt worden sind. Andererseits mündete dies natürlich auch in einer gewissen Wiederbelebung sozialistischer Ideen, vor allem nach der Krise von 2008.
Man muss aber auch sagen, dass die sozialistischen Staaten sozialdemokratisiert sind, darunter auch die DDR unter Honecker. Das SED-SPD-Papier von 1987 beweist das schwarz auf weiß.
Schernikau sagte über die „Wende“:
„Am 9. November 1989 hat in Deutschland die Konterrevolution gesiegt. Ich glaube nicht, daß man ohne diese Erkenntnis in der Zukunft wird Bücher schreiben können.“
Diese Aussage kann ich nicht zu 100% unterschreiben, da Honeckers Revisionismus diesen Zustand überhaupt erst herbeiführte. Die Konterrevolution in der DDR begann im Prinzip mit der revisionistischen Wende von 1971, so wie sie in der Sowjetunion sich ab 1956 schrittweise abzeichnete. Aber das ist mehr eine Detailfrage. Fakt ist: Die Konterrevolution wurde an diesem Datum vollendet.
Wenn man sich seine Vorhersage ansieht, so stimmt sie in der Hinsicht, dass man nicht in der Lage sein wird, der gesellschaftlichen Wahrheit entsprechend Bücher zu schreiben, wenn man die Beseitigung des Sozialismus in der DDR nicht als Konterrevolution anerkennt. Die DDR als „dritter Verhandlungspartner“ im Gewerkschaftskampf der BRD ist zum Beispiel entschwunden, was dazu führte, dass die Verhandlungsstärke der Gewerkschaften erkennbar abnahm. Ist Deutschland nun 35 Jahre nach dem Ende der DDR etwa sozialer, gerechter und für den Einzelhaushalt wohlhabender geworden? Definitiv nicht! Die Reallohnentwicklung zeigt, dass das Lohnniveau der frühen 90er im Prinzip erst 2015 wieder erreicht worden ist4. Noch 2010 schrieb der „Spiegel“ darüber, dass der Reallohn bei der Hälfte der 100 häufigsten Berufe in Deutschland gesunken ist im Vergleich zu 1990 und dies bewirkte, dass die Kaufkraft 2010 noch immer unter der von 1990 lag5. Die Entwicklung 2015-2019 wurde mit Corona und den nachfolgenden Ereignissen unterbrochen, wenn nicht gar abgebrochen.
Warum an dieser Stelle der wirtschaftliche Fokus? Weil dadurch die Folgen der Konterrevolution besonders evident geworden sind. Und diese Folgen werden es sein, die die Massen erkennen und von dort aus sich tiefergehende Fragen stellen werden, auch wenn das seine Zeit dauert. Anbetracht der Jahrhunderte, die zwischen den bürgerlichen Revolutionen in Europa lagen, bis die Bourgeoisie im 19. Jahrhundert endgültig über die Feudalherren siegte, erscheinen die vergangenen Jahrzehnte eher wie ein Wimpernschlag der Geschichte.
Ich möchte mit diesen Worten Schernikaus enden, die in die Zukunft weisen:
„Der Sieg des Feindes versetzt mich nicht in Traurigkeit, eine Niederlage ist eine Niederlage, das sind Angelegenheiten bloß eines Jahrhunderts.“
1 http://www.schernikau.net/*/essays/schriftstellerkongress/ Alle Zitate von Schernikau entstammen dieser Quelle.
2 Zit. nach: Agnès Arp/Élisa Goudin-Steinmann „Die DDR nach der DDR“, Psychosozial-Verlag, Gießen 2022, S. 105.
3 Vgl. Matthäus 5, 39.