„Du sollst nicht stehlen!“
In der Bibel steht geschrieben: „Ihr sollt nicht stehlen noch lügen noch betrügerisch handeln einer mit dem andern.“1 Es gibt eine Leseweise unter Sozialisten, die auch die Ausbeutung der Lohnarbeiter als Diebstahl ansieht. Diese findet sich beim englischen sozialistischen Schriftsteller Bernard Shaw. Er sah nicht nur denjenigen als Dieb an, der einem das Eigentum stiehlt, ohne Kompensation, sondern auch denjenigen, der einem eine zu geringe Kompensation gibt2. Der vom Kapitalisten abgeschöpfte Mehrwert ist „unbezahlte Arbeit des Arbeiters“3, der Lohn ist niedriger als der von ihm geschaffene Neuwert, wie Karl Marx feststellte. Shaw scheint durchaus die Grundsätze der marxistischen Wirtschaftstheorie begriffen zu haben im Hinblick auf die kapitalistische Ausbeutung. Er argumentierte aber nicht rein wissenschaftlich, wie Marx, sondern auf einer moralischen Ebene, um an seine Zuhörerschaft zu appellieren. Deshalb monierte Shaw, dass der Grundsatz „Du sollst nicht stehlen!“ so sehr erodiert ist in der Gesellschaft, dass er nur noch die „leichtest erkennbare Form der Praxis“ von Diebstahl erfassen würde4. Damit behauptet Shaw, dass dieses biblische Gebot nicht wortwörtlich zu verstehen sei, sondern in weiterem Sinne, und geht noch so weit, zu behaupten, dass dieser erweiterte Sinn der Auslegung der ursprüngliche gewesen wäre.
Bernard Shaw hat durchaus recht, wenn man den Grundsatz „Du sollst nicht stehlen!“ als einen abstrakten philosophischen Grundsatz auffasst, den man dann konsequent umzusetzen hat als moralischen Imperativ. Aber dabei verhält es sich wie bei der Ableitung eines Ausbeutungsverbots aus Kants kategorischem Imperativ: Es ist bloße Interpretation. Die Aneignung von Mehrwert durch den Kapitalisten ist, in letzter Konsequenz, legalisierter Diebstahl unter bürgerlichem Recht. Aber so einen Grad an Abstraktion können die Zehn Gebote nicht gemeint haben. Das zeigt auch eine auf die obige folgende Bibelstelle: „Du sollst deinen Nächsten nicht bedrücken noch berauben. Es soll des Tagelöhners Lohn nicht bei dir bleiben bis zum Morgen.“5 Bei Mose gibt es nur konkreten Diebstahl, weil der Grad an philosophischer Abstraktion damals nicht existierte, genauso wenig, wie damals kapitalistische Lohnarbeit existierte. Das heißt nicht, dass in der Bibel generell nichts gegen die kapitalistische Ausbeutung deutbares vorhanden wäre, denn das findet sich zum Beispiel im Ausspruch Jesu in der Bergpredigt: „Niemand kann zwei Herren dienen: Entweder er wird den einen hassen und den andern lieben, oder er wird an dem einen hängen und den andern verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.“6 Das konkrete Problem ist bloß eine Überstrapazierung der historischen Deutungsmöglichkeit eines konkreten Grundsatzes aus der Bibel. Man kann natürlich die Deutungsweise von Bernard Shaw versuchen zu rechtfertigen auf die Weise, wie Luther querbeet die Bibel auslegte, indem er das Alte Testament durch das Neue Testament interpretierte7. Man muss sich dann aber von Kritikern den berechtigten Vorwurf des Anachronismus gefallen lassen.
Es handelt sich bei Shaw also um eine überzogene Interpretation, so wie der christliche römische Theologe Tertullian der Christenheit den Theaterbesuch verbieten wollte8, indem er diese Psalmverse überinterpretierte: „Wohl dem, der nicht wandelt im Rat der Gottlosen / noch tritt auf den Weg der Sünder noch sitzt, wo die Spötter sitzen, sondern hat Lust am Gesetz des Herrn und sinnt über seinem Gesetz Tag und Nacht!“9 Tertullian behauptete sogar, Theaterbesuch sei mit Götzendienst gleichzusetzen10. In manchen evangelikalen Kreisen werden diese Psalmverse herangezogen, um ihre Anhänger von der Teilnahme am sozialen Leben in der „weltlichen“ Gesellschaft abzuhalten. Fakt ist aber auch, dass in der Bibel an vielen Stellen davon ausgegangen wird, dass Gläubige und Ungläubige zusammenleben. Das macht die Interpretation dieser Verse im Sinne eines Gebots wenig plausibel. Willkürliche Bibelauslegungen gab es in der Geschichte zuhauf und sie eint ein Kernaspekt: Den Versuch, die eigenen vorgefertigten Anschauungen mit einem externen „Beleg“ zu „beweisen“.
Bernard Shaw weist letztendlich auf eine wissenschaftliche Erkenntnis hin, aber versucht sie mit einem moralischen Imperativ zu rechtfertigen. Dies mag in der Tat bei der Mehrheit der Bevölkerung größere Wirkung zeigen, als das bloße Hinweisen auf die nackten Fakten. Der französische Psychologe Gustave Le Bon sagte zurecht: „Der unbekannte Redner, dessen Rede gute Beweisgründe, aber nur Beweisgründe enthält, hat keine Aussicht, auch nur angehört zu werden.“11 Die meisten Menschen sind weniger adaptiv gegenüber bloßen Fakten, es sei denn, sie werden mit ihnen bereits bekannten Konzepten verbunden. Es ist einfacher, bestehende Konzepte umzudeuten, als mit ihnen radikal zu brechen und diese durch komplett neue zu ersetzen. So war es ein lächerliches Unterfangen, die biblischen Zehn Gebote auf Biegen und Brechen durch die „Zehn Gebote der sozialistischen Moral“ zu ersetzen. Diese waren im Hinblick auf den Inhalt nicht schlecht gewesen, aber sie besaßen keinerlei Tradition, außer dem Zehn-Punkte-Schema, welches allzu gerne als eine Art „magische Zahl“ inflationär genutzt wird. Effektiver wäre es gewesen, die biblischen Zehn Gebote auf den Kontext der aktuellen materiellen Bedingungen umzudeuten. Man kann also durchaus das Gebot „Du sollst nicht stehlen!“ auch gegen die kapitalistische Ausbeutung deuten, indem man auf den heutigen materiellen Kontext verweist, aber sollte sich dabei stets bewusst sein, dass der wissenschaftliche Nachweis der Ausbeutung das Wesentliche ist, der Verweis auf das Gebot bloß ein moralischer Anhang sein kann. Mit Moral allein kann man nichts beweisen. Das muss uns klar sein.
Wir können also versuchen, allgemein bekannte Moralformeln zu nutzen, um sie mit sozialistischem Inhalt zu füllen, aber müssen uns dessen bewusst sein, dass diese bloß eine Form der Argumentation sind, kein für sich selbst stehender Inhalt.
1 3. Mose 19, 11.
2 Vgl. „Unsere verlorene Ehrlichkeit“ (22. Mai 1884) In: Bernard Shaw „Der Sozialismus und die Natur des Menschen“, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1973, S. 11.
3 Vgl. Karl Marx „Lohn, Preis und Profit“ (20./27. Juni 1865) In: Karl Marx/Friedrich Engels „Werke“, Bd. 16, Dietz Verlag, Berlin 1962, S. 136.
4 Vgl. „Unsere verlorene Ehrlichkeit“ (22. Mai 1884) In: Bernard Shaw „Der Sozialismus und die Natur des Menschen“, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1973, S. 20.
5 3. Mose 19, 13.
6 Matthäus 6, 24.
7 Vgl. „Die letzten Worte Davids“ (1543) In: Martin Luther „Judenfeindliche Schriften“, Bd. 3, Alibri Verlag, Aschaffenburg 2018, S. 79.
9 Psalm 1, 1-2.
11 Gustave Le Bon „Psychologie der Massen“, Nikol Verlag, Hamburg 2021, S. 180.