Die Politisierung des Fleischverzichts – Wie eine Frage des Lebensstils zum Politikum aufgebläht wird

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Der Fleischkonsum ist zum Politikum geworden. Einst war es eine eher ethische Frage, ob man Tiere essen darf oder nicht. Für diese Frage kann man Verständnis entgegenbringen, schließlich gibt es in der Massentierhaltung massive Missstände, die einem den Appetit vergehen lassen, wie auch die Tatsache, dass ein Tier sterben musste, um als Fleischhappen auf dem Teller zu landen. Auch ich als Autor bin das, was man Neudeutsch als „Flexitarier“1 bezeichnen würde. Dennoch will ich niemanden damit missionieren.

Natürlich gibt es auch ökologische und wirtschaftliche Gründe mit dem Fleischverzehr aufzuhören oder ihn zumindest auf ein Minimum zu beschränken. Vor allem der Flächenverbrauch für Futtermittel wäre da anzuführen, vor allem für das in dieser Hinsicht sehr ineffektive Rindfleisch. Die Käseproduktion benötigt nur ein Viertel der Fläche von Rindfleisch, Milch sogar noch etwas weniger2. Milchprodukte sind also nicht das Hauptproblem. Dies sind aber rationale Erwägungen, die Tiere nicht buchstäblich als „heilige Kühe“ ansehen. Aber gerade um diese Heiligung des Fleischverzichts und gar des Verzichts auf den Konsum von Tierprodukten soll es hier gehen.

Religiöser Fleischverzicht

Es gab und gibt in der Geschichte religiösen Fleischverzicht. Dies ist kein unmittelbares Politikum, aber letztendlich finden religiöse Werte auch politischen Ausdruck. Die Religion gehört als ein gesonderter Bereich in die ideologische Sphäre. Im Daoismus gibt es eine Schlüsselgeschichte. Zhuangzi ging einst mit seiner Armbrust auf die Jagd und erblickte einen großen Vogel, den er schießen wollte. Dann erblickte er eine Zikade, welche von einer Gottesanbeterin gefressen wurde. Der große Vogel kam angeflogen und fraß die Gottesanbeterin. Als Zhuangzi das sah, legte er seine Armbrust nieder und sprach: Ach, wie die Geschöpfe einander bedrängen, und dadurch ein jedes sich selbst das Unglück zuzieht!“3 Zhuangzi sah im gegenseitigen Auffressen der Lebewesen ein Übel. Er drohte aber keine himmlischen Strafen an. Liezi wandte sich gegen den Gedanken, dass die Tiere nur dazu geschaffen seien, um vom Menschen verspeist zu werden. Er schreibt in einer Parabel: „Was der Mensch an eßbaren Dingen unter die Hand bekommt, das ißt er auf. Aber das ist nicht ursprünglich vom Himmel für die Menschen erzeugt. Schnaken und Mücken beißen uns in die Haut, Wölfe und Tiger fressen unser Fleisch; aber darum hat doch nicht ursprünglich der Himmel den Menschen und sein Fleisch für Schnaken und Mücken, Wölfe und Tiger wachsen lassen.“4 Auch Liezi droht keine himmlischen Strafen an, falls man Fleisch konsumiert. Lediglich wird von ihm in Frage gestellt, dass die Möglichkeit des Fleischkonsums auch bedeutet, dass dies so vorherbestimmt sei. Der französische Anarchist Elisée Reclus kritisierte, dass ein Schwein ein Jahr lang wie ein „Kind des Hauses“ gehätschelt und gefüttert wird, nur um es letztendlich zu schlachten5. Der Daoismus kennt eine ähnliche Geschichte: Das Gleichnis vom Festochsen. Zhuangzi schreibt: „Habt Ihr schon einmal einen Opferstier gesehen? Er wird bedeckt mit köstlichen Stickereien und wird gemästet mit Gras und Kräutern. Aber wenn es dann so weit ist, daß er zum Tempel geführt wird, da möchte er wohl gerne mit einem verwaisten Kalb tauschen.“6 Natürlich ist dieses Gleichnis nicht direkt auf den Fleischkonsum bezogen, sondern soll versinnbildlichen, dass man, wenn man nach Annehmlichkeiten strebt, letztendlich auch die Rechnung dafür bezahlen muss. Im Daoismus gibt es keinen Glauben an eine Wiedergeburt, die gegebenenfalls auch als Tier erfolgen könnte. Der Daoismus übt eine eher philosophische Kritik am Fleischkonsum aus, ohne mit Vergeltung zu drohen.

Bei den Jaina, einer heutzutage relativ unbekannten indischen Religion, ist Fleischverzehr ebenfalls verboten. Das liegt daran, dass das Töten von Tieren aufgrund des religiösen Kodexes untersagt ist7. Tiruvalluvar, der wahrscheinlich dem Jainismus angehörte, kritisierte im Tirukkural, einem den Tamilen heute als heilig geltendes Buch, ebenfalls den Fleischkonsum. „Fragt man, was Gnade ist: Nicht töten – Fleisch essen ist ebensowenig Gnade wie töten.“8, schrieb er. Religiös predigte er: „Kein Fleisch zu essen macht das Leben unaufhörlich – ißt einer Fleisch, öffnet die Unterwelt nicht noch einmal ihr Maul, ihn auszuspeien.“9 Es wird also mit Vergeltung gedroht, falls man doch Fleisch essen sollte. Das Tirukkural ist weitgehend philosophisch, aber in dieser Frage eindeutig religiös.

Im Buddhismus gibt es einen Glauben an Wiedergeburten, was den Fleischverzicht auch aus einer religiösen Angst davor erklärt, man könnte als Wiedergeborener irgendwann einmal selbst auf dem Teller landen. Für die Wiedergeburt gibt es aber keinerlei wissenschaftlichen Nachweis. Wohl aber mit Hinblick auf eine mögliche Wiedergeburt sprach der Buddha im Nirvana-Sutra: „Jemand, der Fleisch isst, tötet den Samen des großen Mitgefühls.“10 Es ist klar, dass der Konsum von Fleisch den Tod eines Tiers bedeutet. Darin liegt das Gegenteil von Mitgefühl für Lebewesen. Der Buddhismus geht aber weiter als eine solche Moralpredigt. Im Lotos-Sutra heißt es, dass man Tierzüchtern, Jägern, Fischern und Metzgern zwar die buddhistische Lehre predigen könne, man davon aber kein Ergebnis erwarten könne11. Es klingt danach, als seien diese außerhalb der Erlösbarkeit gestellt worden. Andererseits gibt es aber auch buddhistische Lehren, die dem Widersprechen. Bodhidharma, der Begründer des Zen-Buddhismus, sagte, dass selbst ein Metzger zum Buddha werden könne, wenn er seine Buddhanatur erkennt; sein Karma würde dann keine Rolle mehr spielen12. In der „Legende vom Großen Stupa“ ist es ausgerechnet eine verstoßene Tochter des Hindu-Gottes Indra in eine Familie aus Geflügelhändlern wiedergeboren worden. Sie hatte vier Kinder von vier verschiedenen Männern aus „unreinen“ Berufsgruppen: Mit einem Pferdeknecht, mit einem Schweinehirten, mit einem Hundezüchter und mit einem Geflügelhändler13. Laut dem Lotos-Sutra sind diese Leute das allerniedrigste. Trotzdem macht sich diese verstoßene Tochter dran, die Große Stupa zu bauen, um den Buddha zu ehren14. Das heißt, dass je nach buddhistischer Konfession sogar der Fleischkonsum keine Sünde darstellt. Natürlich gibt es auch Konfessionen, die den Vegetarismus sehr strikt auslegen. So strikt, dass Elisée Reclus, obwohl er selbst Vegetarier war, diese Art Buddhisten ins Lächerliche zog. Er schrieb: „Wir haben natürlich nicht die Absicht, alle unsere Gewohnheiten und Handlungen zu jeder Zeit der Achtung des Lebens des unendlich Kleinen unterzuordnen. Wir werden nicht Hunger und Durst leiden wie einige Buddhisten, wenn wir unter dem Mikroskop sehen, daß in einem Topf Wasser viele mikroskopisch kleine Tierchen herumschwirren.“15 Dabei lässt Reclus die Frage offen, ab welcher Größe des Lebewesens dieses nicht zu töten sei.

Jedenfalls sind diese angeführten Glaubensgründe bloß religiös umhüllte Ethik. Es gibt auch aktuellere Beispiele von als „links“ geltenden Autoren des 20. Jahrhunderts. Jahrtausende nach Buddha, Zhuangzi und Liezi sprach sich Tolstoi gegen den Fleischkonsum aus. Er nannte diesen einfach „unmoralisch“16. Es gab bei ihm dafür keine religiöse Erklärung, dafür aber eine ethische. Tolstoi sagte zu einem Jäger, dass, wenn man Fleisch konsumiert, sich auch selbst ansehen soll, wie es geschlachtet wurde. Der Jäger antwortete, dass er dies nicht könne17. Der französische Anarchist Elisée Reclus sah als Kind eine Schlachtung und wurde dabei vor Schreck ohnmächtig18. Das ist in der Tat kritikwürdig, sich keine Schlachtungen anzusehen, aber Fleisch zu konsumieren. Wenn man Fleisch konsumiert, sollte man sich vergegenwärtigen, dass man ein Stück Tierkadaver isst. Das klingt nicht appetitlich, aber es ist die Wahrheit. Dies würde auch dabei helfen, den Fleischkonsum zu mäßigen. Tolstoi bezeichnete Fleisch als „Luxus“19. Historisch gesehen war es Luxus, denn die Mehrheit der werktätigen Bevölkerung aß allein schon aus der Not heraus wenig Fleisch. Heutzutage ist Fleisch, wenn man das billigste als Maßstab nimmt, kein Luxusgut mehr für den Geldbeutel – dafür aber für die Umwelt. Damit wären wir wieder bei den ökologischen und ökonomischen Aspekten des Fleischkonsums. Mäßigung wäre schon ein großer Fortschritt, statt totalen Verzicht zu fordern.

Moral versus Wissenschaft

Prinzipielle Kritik am Fleischkonsum an sich kann also nur auf einer ethisch-moralischen Ebene erfolgen. Diese betreffen nur uns Menschen. In der Natur gibt es weder Ethik noch Moral, denn diese beiden Kategorien haben nur innerhalb der menschlichen Gesellschaft Gültigkeit. Schließlich gibt es in der Natur fleischfressende Tiere. Biologisch gesehen ist der Mensch ein „Allesfresser“. Als ein „Argument“ gegen den Vergleich von fleischfressenden Tieren mit dem Fleischkonsum von Menschen wird ins Feld geführt, dass Tiere ja keine Tiere züchten würden für den Verzehr, wie Menschen es tun. Letztendlich sagt dies aber nichts darüber aus, ob es gerechtfertigt ist oder nicht. Man versucht damit den Fleischkonsum als „unnatürlich“ darzustellen. Dieses „Argument“ würde aber nicht dem Konsum von Wildfleisch widersprechen. Außerdem würden Tiere auch ihre Beute züchten, wenn sie könnten. Ein Beispiel dafür ist es, wie Ameisen Blattläuse als „Zuckerkühe“ benutzen. Wie ein Hirte seine Herde auf eine Weide treibt, so tragen Ameisen Blattläuse sogar aktiv auf Blätter, um von ihnen den ausgeschiedenen Zucker zu melken. Vergleiche hinken stets ein wenig. Aber dieses Beispiel zeigt, dass auch Tiere Viehzucht betreiben würden, wären sie dazu in der Lage. Das Problem an dieser „Argumentation“ liegt darin, dass der Mensch als „außerhalb der Natur stehend“ betrachtet wird. Biologisch gesehen existiert der Mensch aber nicht „außerhalb der Natur“. Die Natur ist nicht so friedlich und harmonisch, wie das Vogelgezwitscher und das Brausen des Windes über ungemähte Wiesen auf dem ersten Blick vermuten lässt. Auch wenn heutzutage jeder aus dem Biologieunterricht der Schule etwas vom „Kampf ums Dasein“ in der Natur gehört haben mag, so denken nur die wenigsten konsequent danach, wenn sie in die Natur blicken.

Charles Darwin sagte: „Nichts ist leichter, als in Worten die Wahrheit des allgemeinen Wettkampfes ums Dasein zuzugestehen, aber auch nichts schwerer – wie ich wenigstens gefunden habe –, als sie beständig im Sinne zu behalten. Wenn wir aber dieselbe dem Geist nicht ganz fest eingeprägt haben, wird der ganze Haushalt der Natur, mit allen den Tatsachen der Verbreitungsweise, der Seltenheit und des Häufigseins, des Erlöschens und Abänderns, nur dunkel begriffen oder ganz missverstanden werden. Wir sehen das Antlitz der Natur in Heiterkeit strahlen, wir sehen oft Überfluss an Nahrung; aber wir sehen nicht oder vergessen, dass die Vögel, welche um uns her müßig und sorglos ihren Gesang erschallen lassen, meistens von Insekten oder Samen leben und mithin beständig Leben zerstören; oder wir vergessen, wie viele dieser Sänger oder ihrer Eier und ihrer Nestlinge unaufhörlich von Raubvögeln und Raubtieren zerstört werden; wir behalten nicht immer im Sinn, dass, wenn auch das Futter jetzt im Überfluss vorhanden sein mag, dies doch nicht zu allen Zeiten jedes umlaufenden Jahres der Fall ist.“20 Charles Darwin erkannte mit dem Kampf ums Dasein einen biologischen Prozess, der sich tagtäglich in der Natur abspielt.

Der Vegetarier und Pazifist Magnus Schwantje hingegen lehnte das biologische Konzept des „Kampfes ums Dasein“ als „falsch“ ab21, ohne eine wissenschaftliche Widerlegung dafür zu liefern. Genauso attestierte er Tieren, dass sie Ethik besitzen würden22. Er übertrug also menschliche Eigenschaften auf Tiere, welche diese nicht haben. Menschliche Moralvorstellungen setzt wissenschaftliche Fakten nicht außer Kraft. Bei Schwantje nahm der Vegetarismus scheinreligiöse Züge an. Er führte Jesaja 11, 6-7 als ein Idealbild an23: „Da wird der Wolf beim Lamm wohnen und der Panther beim Böcklein lagern. Kalb und Löwe werden miteinander grasen, und ein kleiner Knabe wird sie leiten. Kuh und Bärin werden zusammen weiden, ihre Jungen beieinanderliegen, und der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind.“ Schwantje schreibt, dass der Vegetarismus ein „Segen“ für Menschheit und Tierwelt sein würde24. Das klingt fast danach, als wolle Schwantje sich aufschwingen, zu einer Art „Messias des Vegetarismus“ zu werden, schließlich war es auch Jesaja, der die Ankunft des Messias verkündete. Schwantje sah Vegetarier und Pazifisten als Verbündete, da beide Grausamkeit ablehnen würden25. Er erkannte aber: „Der Krieg wird gewiß viel früher abgeschafft werden als das Fleischessen.“26 Es zeigt sich, dass diese beiden Ideale miteinander nur oberflächliche Gemeinsamkeiten besaßen. Pazifisten wenden sich gegen den Krieg und die Brutalität unter den Menschen. Es geht ihnen nicht um Tiere, wie etwa beim Vegetarismus nach der Art von Schwantje. Jedenfalls lässt sich Schwantjes Ideal nicht mit vereinbaren mit der Realität. Dieses falsche Ideal scheint aber auch ein ganzes Jahrhundert später noch fortzuleben, auch wenn es von dessen faktischen Vertretern kaum einen geben wird, der sich namentlich auf Magnus Schwantje beruft.

Heutzutage gibt es Menschen, die nicht einmal die Notwendigkeit des Fleischkonsums bei fleischfressenden Tieren anerkennen wollen. Die sogenannten Antispeziesisten praktiziert genau das. Diese sind Veganer. Dieser Irrsinn der Veganer führte sogar dazu, dass die YouTuberin Sonia Sae ihren Haustier-Wüstenfuchs vegan ernährte, was bei diesem Fleischfresser natürlich zu Mangelerscheinungen führte27. Solche Handlungsweisen von veganen Extremisten sind wissenschaftsfeindlich. In gewissem Sinne gilt hier, wie es in der Bibel steht: Wer sein Leben erhalten will, der wird es verlieren; wer aber sein Leben verliert, der wird es finden28. Wer das Leben aller Tiere erhalten will, der wird letztendlich die Fleischfresser töten müssen (ob direkt mit der Waffe oder indirekt durch das Aushungern); wer das Leben gewisser Tiere für das der Fleischfresser opfert, der wird sie am Leben erhalten. Raubtiere fressen andere Tiere, fressen deren Fleisch. Wieso sollten wir Menschen uns ein moralisches Korsett gegenüber Tieren auferlegen, welches die Tiere unter sich selbst nicht einzuhalten vermögen? Wir Menschen haben uns auch um unser eigenes Überleben zu sorgen. Unser Überleben als Art ist das biologische Ziel, das uns gesetzt ist. Es wird viel mehr durch Rücksichtslosigkeit unter den Menschen gefährdet, als durch eine „unmoralische Behandlung“ von Tieren.

Unnötige Grausamkeit gegenüber Tieren

Natürlich gibt es auch barbarische Schlachtungsmethoden, wie etwa das im Judentum29 und Islam30 verbindliche Schächten, bei dem Tiere ohne Betäubung ausbluten. Das verursacht bei den Tieren einen qualvollen und langsamen Tod31. Das Schächten gehört verboten und Schächtungsfleisch sollte nicht importiert werden dürfen. Solche Schlachtungsmethoden zu verbieten kann man nicht als „Einschränkung der Religionsfreiheit“ bezeichnen, wie es muslimische und jüdische Fanatiker32 tun. Plutarch sagte, dass es besser sei, keine Religion zu haben, statt einer grausamen Religion zu folgen33. So sollte man es auch hier sehen. Wenn Juden und Muslime nur Fleisch aus tierquälerischer Schlachtung verzehren wollen, weil ihnen dies „göttlich“ aufgetragen sei, dann sollten sie lernen, sich vegetarisch zu ernähren. Buddhisten und Daoisten sind schließlich auch Vegetarier aus religiösen Gründen. Im Tirukkural steht geschrieben: „Tötete die Welt kein Leben fürs Essen, verkaufte niemand Fleisch für Geld.“34 Mit einem Verbot von Schächtungsfleisch, ob im Land hergestellt oder importiert, träte genau dieser Fall ein. Dadurch würden die betroffenen Personen aber nicht unbedingt zu moralisch besseren Menschen werden.

Fleischverzichter – die besseren Menschen?

Der Fleischkonsum macht einen Menschen aber auch nicht per se „schlecht“. Tolstoi sagte: Was will ich beweisen? Vielleicht, daß die Menschen, um gut zu werden, das Fleischessen aufgeben müssen? Keineswegs.“35 Tolstoi erhoffte sich aber, dass der Mensch durch den Vegetarismus sich moralisch verbessern würde36. Dass dies nicht unbedingt der Fall ist, kann man an Adolf Hitler ersehen. Auch wenn mittlerweile in Zweifel gezogen wird, ob Hitler ein „reinrassiger“ Vegetarier gewesen ist, so ist unbestritten, dass er zumindest „äußerst wenig Fleisch“ aß37. Passend dazu merkten Lou Marin und Johann Bauer in ihrem Vorwort zum Sammelband „Das Schlachten beenden!“ an, dass unter den Nazis, aufgrund der Tierschutzgesetze, Tierleben mehr wert gewesen seien, als Menschenleben38. Diese Feststellung kommt wohlgemerkt von Befürwortern von Vegetarismus und Veganismus. Auch hier bestätigt sich wieder einmal die Schranke zwischen menschlicher Gesellschaft und der Natur.

Vegetarismus und Veganismus machen Menschen nicht zu besseren Wesen. Die Vermengung von persönlicher Ethik und Moral mit politischem Eifer bildet eine unheilvolle Synthese. Es geht in dieser Fleischdebatte nicht einmal im Kern um die Umweltschädlichkeit eines übermäßigen Fleischkonsums, denn dann wäre die Kernforderung der vegetarisch-veganen Seite, dass man den Fleischkonsum lediglich reduziert. Die Umwelt spielt hier keine Rolle. Es geht um ein moralisches Axiom, das lautet: „Fleischkonsum ist unmoralisch!“ Wie aber aufgezeigt, kann man im Hinblick auf die Natur auch das Axiom aufstellen: „Fleischkonsum ist moralisch!“ Das liegt eben daran, dass die Natur keine Moral besitzt, sondern nur die menschliche Gesellschaft.

Ein Lifestyle als Politikum

Ein größeres Problem, als die Moralisierung des Fleischkonsums, die man in politische Forderungen wickelt, ist es, wenn die Behauptung aufgestellt wird, der sozialistische Kampf gegen Ausbeutung würde auch bedeuten, dass man keine Tiere „ausbeuten“ dürfte. Im Marxismus ist ein Ausbeutungsverhältnis durch die Abschöpfung des Mehrprodukts bzw. Mehrwerts eines Werktätigen durch ein Mitglied der Ausbeuterklasse definiert. Es gibt aber leider auch selbsternannte Sozialisten, die diese Klassenkampfkategorien ebenfalls auf die Moralebene verschieben.

Der SPDler Willi Eichler war ein Beispiel dafür. Im Jahre 1926 kritisierte er den negativen Unterton von SPD-Führern gegenüber vegetarischen Jugendlichen39. Seine politische Theorie bestand daraus, Sozialismus und Vegetarismus zu vermengen. Er schrieb: „Wir sind Sozialisten und kämpfen gegen die Ausbeutung. Ausbeutung heißt willkürliche Verletzung von Interessen. Pflanzen-Interessen kennen wir nicht, können sie also auch nicht willkürlich verletzen; wir können Pflanzen auch nicht ausbeuten. Tier-Interessen kennen wir; wir können also Tiere ausbeuten, und wir tun dies, wenn wir uns von ihrem Fleisch ernähren, solange Pflanzen genug da sind. Solange wir selbst ausbeuten, verwirken wir damit das Recht, von anderen zu verlangen, daß sie uns nicht ausbeuten. Wir hören damit also auf, Sozialisten zu sein. Wer die Forderung der ausbeutungsfreien Gesellschaft ehrlich zu Ende denkt, wird Vegetarier.“40 Der Ausbeutungsbegriff wird von ihm offensichtlich als Moralbegriff missbraucht. Vor allem, dass er die Klassenausbeutung mit dem Fleischkonsum auf dieselbe Stufe setzt, ein Verhältnis innerhalb der menschlichen Gesellschaft mit einem Verhältnis zwischen der menschlichen Gesellschaft und der Natur, ist höchst bedenklich. Pflanzen sind auch Lebewesen. Sie können zwar nicht fühlen, wie Menschen und Tiere, aber dennoch sind es Lebewesen. Auch sie haben ein Lebensinteresse. Eichler reduziert die Interessen auf das bloße Anerkennen von Interessen durch den Menschen. Sein ganzes Statement beruht also eher auf einer subjektiven Selbsterkenntnis als auf einer objektiven Analyse der Interessenlage. Mit Pflanzen hat man wohl kein Mitleid, wenn sie getötet, zerhäckselt und gegessen werden, da sie sich nicht äußern können, wie Tiere.

Die Tierrechtsbefürworterin Renate Brucker schreibt: „Tierschutz und Tierrechtsbewegung werden häufig als typische Produkte der Moderne, der Überflussgesellschaft oder auch der Dekadenz gesehen, andererseits auch mit antimodernen Strömungen in Zusammenhang gebracht.“41 Sie mag diese Einschätzung nicht teilen. Aber sie erscheint logisch. Von niemandem wird sich so sehr für Tierrechte stark gemacht, als von Leuten, die nicht an materiellen Nöten zu leiden haben. Anstatt die Zeit sinnvoll zu nutzen für eine Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse und damit von Menschenleben, wird diese in Tierleben investiert. Solche Menschen sind an den Punkt angelangt, über welchen Blaise Pascal schrieb: „Niedrigkeit des Menschen: so niedrig, daß er sich den Tieren untertan machte, so niedrig, daß er sie anbetete.“42 Der Mensch steht nicht mehr im Mittelpunkt. Die humanistischen Werte sind über Bord geworfen worden zugunsten eines buchstäblichen Niederbückens vor Tieren.

Das zeigt sich auch im späteren Leben von Willi Eichler. Es ist wenig verwunderlich, dass Willi Eichler später einer derjenigen war, die am Bad Godesberger Parteiprogramm der SPD mitgewirkt haben, in welchem der Marxismus offiziell als Parteiideologie verworfen worden ist43. 1926 sagte er selbst: „Was würden wir zu einem ´Sozialisten´ sagen, der glaubt, seiner Pflicht als Sozialist dadurch zu genügen, daß er sich nicht an der Ausbeutung der Arbeiter beteiligt. Als Sozialisten bezeichnen wir doch im Ernst nur den, der gegen den Kapitalismus den Kampf aufnimmt und sich nicht damit begnügt, selbst kein Kapitalist zu sein.“44 So eine Art „Sozialist“, wie sie hier kritisiert wird, ist er im Verlaufe seines Lebens selbst geworden. Die Vermengung von Sozialismus und politischem Vegetarismus oder gar Veganismus führt letztendlich zur revisionistischen Degenerierung. Der Missionierung von Menschen zu einer anderen Ernährungsweise wird dabei letztendlich, wie bei Eichler, vor den Klassenkampf gesetzt. Daraus wird das, was Antirevisionisten an solchen intersektionalistischen Projekten kritisieren: „Sozialismus ist alles außer Klassenkampf.“ Das zeigt sich in den ganzen sogenannten „Tierbefreiungsbewegungen“, die in Worten unter anderem den Kapitalismus attackieren, denen es aber in ihren Zielen bloß um die sogenannte „Beseitigung der Ausbeutung von Tieren“45, nicht von Menschen, geht. Extremisten von ihnen, wie die Animal Liberation Front, begehen dafür sogar Anschläge. Die ALF besitzt dasselbe Maß an Radikalität, wie damals die RAF, nur kämpft sie nicht einmal in Worten für die Befreiung der Werktätigen.

Tiere können keine revolutionären Subjekte sein. Selbst sogenannte Antispeziesisten behandeln Tiere in der Praxis wie Objekte, weil diese kein menschliches Verhalten zeigen können, welches aber die Grundlage bietet für ihre moralischen Forderungen. Das ist auch der Grund, wieso Clara Wichmanns Frage danach, wieso nicht auch Tiere Rechte und Eigentum haben können46, absurd ist. Das Recht ist von Menschen für Menschen gemacht. Es spielt dabei keine Rolle, um welche Gesellschaftsordnung es sich dabei handelt. Man kann Vogelnester per Eigentumsrecht „schützen“ – den Kuckuck interessiert dieses Recht recht wenig. Man kann das Töten unter den Tieren rechtlich verbieten, aber das bewahrt die Antilope trotzdem nicht davor, vom Löwen zerfleischt zu werden. Man kann rechtlich Naturschutz festschreiben, welcher etwa die Jagd auf bestimmte Tiere untersagt. Aber auch dies ist ein Gesetz von Menschen für Menschen aus einem Interesse heraus, den Naturraum, von dem die menschliche Gesellschaft nun einmal umgeben ist, zu bewahren.

Clara Wichmann war Anarchistin. Dort ist es wenig verwunderlich, dass sie im Hinblick auf die materiellen Verhältnisse keinen Verstand besaß. Der Anarchismus beruht schließlich auf einer idealistischen Weltanschauung. Es ist aber auch in diesem Falle kein schöner Anblick, wenn heute ähnliche Auffassungen zu Tage treten, obwohl sie schon vor mehr als einem Jahrhundert eine bloße Farce waren.

Politisch gesehen lässt sich mit der Frage nach dem Fleischkonsum und den damit verbundenen sogenannten „Tierrechten“ kein Blumentopf gewinnen. Tiere sind keine politischen Souveräne. Man setzt sich für imaginäre Rechte von artfremden Lebewesen ein, welche diese Tiere nicht einmal untereinander besitzen. Die Frage des Fleischkonsums zum Politikum aufzublähen lenkt von den grundlegenden gesellschaftlichen Problemen ab: Die kapitalistische Ausbeutung und der Klassenkampf gegen diese. Letztendlich ist die prinzipielle Frage des Fleischkonsums eine rein persönliche Frage. Der Vegetarismus lässt sich ethisch rechtfertigen, ohne gesellschaftsschädlich zu sein, schließlich ist das Töten eines Tieres für den Konsum tatsächlich mit einer Hemmschwelle in Tat und Verzehr verbunden. Eine solche Haltung ist nachvollziehbar. Und dennoch kann man nicht davon sprechen, dass er unbedingt vorherrschen müsste. Veganismus aber hat keine rationale Begründung, außer, dass man Tiere über Menschen stellt. Es spricht nämlich nichts dagegen, Tiere auf nicht-letale Weise für unsere menschlichen Zwecke zu nutzen.

Die Reduktion des Fleischkonsums täte der Umwelt schon mehr Gutes, als das Geplärre radikaler Veganer, die Konsumenten von Tierprodukten beschimpfen. Deshalb meine Empfehlung an den fleischessenden Leser: Den eigenen Fleischkonsum überdenken, ihn gegebenenfalls reduzieren und sich nicht von Veganern verunsichern lassen.

Es ist mir bewusst, dass dieser Artikel weder die Fleischesser, noch die Vegetarier und Veganer zufriedenstellen wird. Ich habe mit einem Stock gegen das Wespennest geschlagen, nun sollen sie schwirren.

1 Eine Person, die sehr selten Fleisch isst und sich zum allergrößten Teil vegetarisch ernährt.

5 Vgl. Elisée Reclus „Zur vegetarischen Lebensweise“ (1901) In: „Das Schlachten beenden!“, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2010, S. 86.

7 Vgl. „Die Erlösungslehre der Jaina“, Verlag der Weltreligionen, Berlin 2010, S. 85.

8 Tirukkural 254 In: „Die Welt lebt durch Güte“, Benziger Verlag, Zürich/Düsseldorf 1999, S. 56.

9 Tirukkural 255 In: Ebenda.

11 Vgl. „Lotos-Sutra“, Verlag Lambert Schneider, Gerlingen 1992, S. 252 und 254.

12 Vgl. „Blutstrom-Predigt“ In: „The Zen Teaching of Bodhidharma“, North Point Press, New York 1989, S. 41, Englisch.

13 Vgl. Padmasambhava „Die Legende vom Großen Stupa“, Dharma Publishing Deutschland, Münster 1993, S. 31.

14 Vgl. Ebenda, S. 32.

15 Elisée Reclus „Zur vegetarischen Lebensweise“ (1901) In: „Das Schlachten beenden!“, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2010, S. 92.

16 Leo Tolstoi „Die Fleischesser/Die erste Stufe (Schlussabschnitt)“ (1892) In: Ebenda, S. 65.

17 Vgl. Ebenda, S. 59.

18 Vgl. Elisée Reclus „Zur vegetarischen Lebensweise“ (1901) In: Ebenda, S. 86.

19 Leo Tolstoi „Die Fleischesser/Die erste Stufe (Schlussabschnitt)“ (1892) In: Ebenda, S. 57.

20 Charles Darwin „Die Entstehung der Arten“, Nikol Verlag, Hamburg 2021, S. 96.

21 Vgl. Magnus Schwantje „Tiermord und Menschenmord, Vegetarismus und Pazifismus“ (1916) In: „Das Schlachten beenden!“, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2010, S. 116.

22 Vgl. Ebenda, S. 117.

23 Siehe: Ebenda, S. 118.

24 Vgl. Ebenda, S. 119.

25 Vgl. Ebenda, S. 109.

26 Ebenda, S. 113.

28 Vgl. Matthäus 16, 25.

29 Siehe: 3. Mose 17, 12 und 5. Mose 12, 16.

30 Siehe: Sure 5, 3.

31 https://youtu.be/ZE2svQFH_q0 Nichts für schwache Nerven! Hier wird gezeigt, auf welch grausame Weise „halal“ geschlachtet wird.

33 Vgl. „Über den Aberglauben“ In: Plutarch „Moralphilosophische Schriften“, Philipp Reclam jun., Stuttgart 1997, S. 80. Plutarch sagt hier, dass es besser sei, keinen Glauben zu besitzen, als einen Glauben, der Menschenopfer zum Inhalt hat.

34 Tirukkural 256 In: „Die Welt lebt durch Güte“, Benziger Verlag, Zürich/Düsseldorf 1999, S. 56.

35 Leo Tolstoi „Die Fleischesser/Die erste Stufe (Schlussabschnitt)“ (1892) In: „Das Schlachten beenden!“, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2010, S. 64.

36 Vgl. Ebenda, S. 65.

38 Vgl. Lou Marin/Johann Bauer „Vorwort“ In: „Das Schlachten beenden!“, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2010, S. 12.

39 Vgl. Willi Eichler „´Sogar Vegetarier?´“ (1926) In: Ebenda, S. 151.

40 Ebenda, S. 158/159.

41 Renate Brucker „Die Idee der Tierrechte“ In: Ebenda, S. 17.

42 Blaise Pascal „Gedanken – Eine Auswahl“, Philipp Reclam jun. Verlag, Stuttgart 1979, S. 106.

43 Siehe: Lou Marin „Eine sozialistische Organisation mit vegetarischen Prinzipien im Widerstand gegen den Nationalsozialismus“ In: „Das Schlachten beenden!“, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2010, S. 150.

44 Willi Eichler „´Sogar Vegetarier?´“ (1926) In: Ebenda, S. 155/156.

46 Siehe: Clara Wichmann „Die Rechtsstellung der Haustiere“ (Juli 1920) In: „Das Schlachten beenden!“, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2010, S. 129.

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