Die Heuchelei der Unbekümmertheit
Allzu viele denken oder sagen ganz offen: „Ach, das interessiert mich nicht, weil es mich eh nicht betrifft!“ Ihr Selbstbild ist das einer Blase in der Welt, von der man zwar nach außen blicken kann, aber von außen nicht direkt getroffen wird von den Geschehnissen und Entscheidungen anderer. Das mag bei privaten Entscheidungen zutreffen, die nur einen selbst und den Kreis der Familie betreffen, aber zum Beispiel politische Entscheidungen, die ein ganzes Land betreffen, sind eben nicht derartig beschaffen. Besonders aber die heutige Jugend hat die Mentalität, als sei dem so.
Hermann Hesse monierte schon vor einem Jahrhundert: „Wir töten, indem wir begabte junge Menschen aus Not in Berufe gehen lassen, für die sie nicht geeignet sind. Wir töten, indem wir vor Armut, Not, Schande die Augen zudrücken. Wir töten, indem wir aus Bequemlichkeit abgestorbenen Einrichtungen in Gesellschaft, Staat, Schule, Religion gelassen zusehen und Billigung heucheln, statt ihnen entschlossen den Rücken zu kehren.“1 Alle Punkte treffen noch immer zu. Der erste Punkt führt zum Burnout, der zweite ignoriert das materielle Elend breiter Teile des Volkes und der dritte Punkt nimmt die reaktionäre Herrschaft der Bourgeoisie hin, auch wenn man merkt, dass es so nicht funktioniert.
Das Kernproblem ist, dass die Dialektik von Individuum und Kollektiv nur einseitig von der Seite des eigenen Individuums betrachtet wird. Statt Tatsachen gelten zu lassen, heißt es „Jeder hat doch seine eigene Meinung.“, als seien alle Meinungen gleich viel wert, als sei eine richtige Antwort genauso gut wie eine falsche. In einem Satz: Viele haben eine subjektivistische Weltanschauung. Man kann auch niemanden, der eine solche Anschauung hat, mit Fakten überzeugen, wenn er daran kein Interesse hat. Das mag fatalistisch klingen, aber ist es keineswegs. Es ist eine Feststellung. Niemand ändert einfach so eine Meinung, ohne Erlebnisse gehabt zu haben, die zum Umdenken anregen. „Wissen hilft dem Willen.“2, schrieb einst Mao Tsetung. Wissen ist ein Werkzeug, das alleine erzeugt keine Veränderung der Meinung des Gegenübers. Worauf es ankommt, ist, dass man die grundlegenden Interessen des Gegenübers aufzeigt und wie sie mit den Fakten zusammenhängen. Klassenbewusstsein ist nichts anderes als der Wille einer Klasse. Dafür ist die Grundbedingung, dass das Gegenüber auf eigene Erfahrungen aus der Praxis zurückgreifen kann, bei denen man ansetzen kann und die man ausbaut.
Natürlich ist hier das werktätige Volk im Blickpunkt, aber gleiches gilt auch für Schüler: Sie sind kein leerer Schrank, den man von außen vollzustopfen hat, sondern man muss zwei Fragen nachgehen: „Womit hat das Gegenüber Erfahrungen gemacht?“ und „Was weiß das Gegenüber bereits?“ Die erste Frage ist der Ansatz bei den vorhandenen materiellen Bedingungen, die das Gegenüber erlebt hat und die zweite Frage ist der Bezug auf theoretisches Wissen. Die Massen haben keinen uniformen Kenntnisstand, deshalb sind diese Fragen wichtig. Es gibt keinen Universalschlüssel, um die Massen für unsere Sache zu interessieren und sie aus der Unbekümmertheit rauszuholen. Es muss versucht werden von den subjektiven Erkenntnissen von Bruchstücken der objektiven Realität zum fertigen Puzzle zu gelangen. Genau dafür ist wichtig, welche Teile vorliegen, worauf man zurückgreifen kann. Es gibt sogar Menschen, die zwar an praktischen Erfahrungen genug besitzen würden, um die Notwendigkeit des proletarischen Klassenkampfes um den Sozialismus zu begreifen, wenn sie eine zusammenhängende Weltanschauung hätten. Manchmal fehlt nur ein Puzzleteil, ohne welches kein Verständnis möglich ist. Bei einer metaphysischen Weltanschauung stehen Daten und Fakten nebeneinander ohne Querverbindungen. Es ist rein abrufbares Wissen, wie von einem Computer. Es ist Bildung auf eine Art und Weise, wie sie Antonio Gramsci3 und Paulo Freire4 kritisierten. Eben deshalb ist es so wichtig, frühestmöglich den dialektischen Materialismus zu vermitteln, damit überhaupt eine geordnete Aneignung der Weltkenntnisse möglich ist samt deren Zusammenhängen. Das tut am meisten Not.
Die Unbekümmertheit ist also nur dadurch zu bekämpfen, dass man kleinschrittiger anfängt bei der Vermittlung unserer Weltanschauung, nicht etwa durch Gejammer darüber, dass alle anderen Menschen sich zu wenig scheren würden. Wir müssen unsere Propaganda- und Lehrmethoden den realen Bedingungen anpassen. Das bedeutet, dass man den Kenntnisstand der Massen nicht überschätzen darf aus subjektiven Wünschen heraus, sondern es bedarf einer realistischen Evaluierung dieses Kenntnisstandes und der Schlussfolgerungen für die Agitation. Wir werden keinen Schritt vorankommen, wenn wir vom hohen Ross herab reden, statt am Boden anzufangen. Nun denn, von den Wurzeln in die Höhe sprießen!
1„Du sollst nicht töten“ (1919) In: Hermann Hesse „Politische Betrachtungen“, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1981, S. 46.
2„Randnotizen zu: Friedrich Paulsen ´System der Ethik´“ (1917/1918) In: „Mao´s Road to Power“, Vol. I, M. E. Sharpe, Armonk (New York)/London 1992, S. 192, Englisch.
3Siehe: „Sozialismus und Kultur“ (29. Januar 1916) In: Antonio Gramsci „Philosophie der Praxis – Eine Auswahl“, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1967, S. 21.
4Siehe: Paulo Freire „Pädagogik der Unterdrückten“, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 1990, S. 57.