Die Freiheit auf Knien?
erschienen am 26.April 2019 via KenFM
Wenn man Frankreich in drei Bilder zusammenfassen müsste, wären dies der Eiffelturm für die Technik, Notre Dame für die Geschichte und das bekannteste Gemälde von Delacroix, Die Freiheit führt das Volk, für das schlagende politische Herz des Landes. Frankreich heute lässt sich ebenfalls in zwei Bilder bannen – das brennende Dach von Notre Dame, und ein einzelnes Foto von einer Gelbwesten-Demonstration des letzten Wochenendes.
Jeder hat das Gemälde von Delacroix im Kopf. Die Freiheit, keine Dame, eher eine Wäscherin, hält hoch erhoben die Tricolore, links neben sich einen Jungen mit Baskenmütze und zwei Pistolen, rechts einen Bürger mit Zylinder; barfuß und barbrüstig geht sie voran, über die bereits Gefallenen. Als das Bild, das die Julirevolution 1830 verherrlicht, das erste Mal ausgestellt wurde, mokierte sich das bürgerliche Publikum über ihre plebejische Erscheinung. Heinrich Heine, der im französischen Exil die Ausstellung besuchte, beschrieb diese Reaktion (1):
„Papa!“ rief eine kleine Karlistin, „wer ist die schmutzige Frau mit der roten Mütze?“ . „Nun freilich“, spöttelte der noble Papa mit einem süßlich zerquetschten Lächeln, „nun freilich, liebes Kind, mit der Reinheit der Lilien hat sie nichts zu schaffen. Es ist die Freiheitsgöttin.“ – „Papa, sie hat auch nicht einmal ein Hemd an.“ – „Eine wahre Freiheitsgöttin, liebes Kind, hat gewöhnlich kein Hemd, und ist daher sehr erbittert auf alle Leute, die weiße Wäsche tragen.“ Bei diesen Worten zupfte der Mann seine Manschetten etwas tiefer über die langen müßigen Hände…“
Nicht nur die bloße Brust verbindet dieses Gemälde mit dem Gelbwesten-Foto vom letzten Wochenende.
Obwohl auf diesem Foto ein Mann kniet, mit bloßem Oberkörper, die Hände hinter dem Kopf; die Hose ist ihm nach unten gerutscht, eigentlich eine zutiefst entwürdigende Haltung. Vor ihm ein Polizist mit voller Aufstandsbekämpfungsmontur, Helm, Knieschoner, Weste.
Er hält seine linke Hand flach auf die Brust des Mannes, und daneben hält er mit der Rechten ein Gummigeschossgewehr, aufgesetzt auf die Brust. Auf diese Entfernung abgefeuert, wäre das Geschoss auf jeden Fall tödlich. Die Machtverhältnisse scheinen also klar, wie gewohnt.Der Kniende allerdings blickt nicht nach unten, sondern seinem Bedroher direkt in die Augen. Da ist keine Unterwerfung und keine Furcht. Vor diesem Blick wird die ihm gegenüberstehende Macht zum Trugbild.
Im Gegensatz zu den Demonstrationen der Gelbwesten, die inzwischen bald ein halbes Jahr andauern, in allen großen Städten, jedes Wochenende, und die doch nicht stattzufinden scheinen, wird über den Brand von Notre Dame ausführlich berichtet. Wobei man hinzufügen muss, nicht wirklich über den Brand selbst; da gibt es zwar reichlich Schlagzeilen über Bauarbeiter, die trotz Verbots geraucht haben sollen, aber kaum über die Unwahrscheinlichkeit, dass alte Eichenbalken, die selbst brandrechtlich wie Stahlträger zählen, derart spontan entflammen(2). Nein, berichtet wird besonders gern über die Spendenbereitschaft der französischen Oligarchie.
Josef Joffe, das transatlantische Sturmgeschütz der ZEIT, scheint tief erschüttert über mangelnde Dankbarbeit für diese Spenden: „Der Milliardär Bernard Arnault brachte es auf den Punkt: Er sei „bestürzt, dass man in Frankreich auch dann kritisiert wird, wenn man etwas für das Gemeinwohl tut“. Steuerliche Abzüge wolle er nicht. Dito die Milliardärsfamilie Pinault”(3). Was Joffe tunlichst unterschlägt, ist die Vorgeschichte. Nicht nur, dass die genannten Spender erst jüngst von Macron reichlich beschenkt wurden, durch die Abschaffung der Vermögenssteuer auf Finanzanlagen.
2003 wurde per Gesetz auf Anfrage des Spenders die Erstattung von 60% der Spenden für kulturelle Zwecke in Form von Steuerersparnissen ermöglicht. Benannt wurde das Gesetz nach Jean-Jacques Aillagon, ehemals Kulturminister unter Jacques Chirac, inzwischen Finanzberater des Oligarchen Pinault, der ein Vermögen von über 30 Milliarden Euro besitzt. Wenn es um die Rettung von nationalem Kulturerbe geht, ist sogar ein Steuerabzug von 90% möglich.
Es war eben dieser Aillagon, der unmittelbar nach dem Brand empfahl, Spenden für Notre Dame mit diesem höheren Steuerabzug zu bedenken. Es war diese Dreistigkeit, die letztlich dazu führte, dass der Verzicht auf die Steuerbefreiung erklärt wurde.
Joffe meint, die Franzosen seien noch nicht arm genug, um solche Wohltaten kritisieren zu dürfen. “Dabei hat Frankreich im EU-Vergleich neben Dänemark die geringste Armutsrate und die höchste Umverteilungsquote – höher als in Deutschland und Schweden.” Und er lobt die braven Deutschen: “In einer liberalen Gesellschaft kommt es darauf an, mit den selbstsüchtigen Motiven der Leute gute Politik für das Ganze zu machen.(…) In Deutschland entsteht eine Kultur des Gebens (fünf Milliarden 2017). In Frankreich muss wie seit dem 14. Ludwig der Staat her, der freilich allzu oft Gruppen bedient, die strategische Macht besitzen, wie Lkw-Fahrer oder Eisenbahner. “
Es muss nicht verwundern, dass Herr Joffe mit zwei fest geschlossenen Augen durch die Welt geht, und deshalb übersieht, dass auch hier eher eine Kultur des Nehmens herrscht in den gewissen Kreisen, weil den von ihm gepriesenen 5 Milliarden allein geschätzte 55 Milliarden durch Cum-Ex-Betrug von den Superreichen ergatterte Steuergelder gegenüberstehen, und es auch in Frankreich selbstverständlich nicht die LKW-Fahrer und die Eisenbahner sind, die die Macht besitzen. Herr Joffe beisst nun einmal ungern in die Hand, die ihn füttert.
Aber um zu begreifen, warum diese plakative “Wohltätigkeit” in Frankreich eher Öl ins Feuer gießt statt die Wogen zu glätten, muss man sich die großzügig ausgereichten Millionen in normale Verhältnisse herunterrechnen. Wenn ein Bernard Arnault, Eigentümer des Luxuskonzerns Luis Vuitton-Mouton-Hennessy sowie noch einiger anderer Dinge, zweihundert Millionen aus seinem Vermögen spendet, dann wäre das bei, sagen wir mal, Oma Erna mit einem Vermögen von 40 000 Euro eine Spende von hundert Euro. Nie im Leben wäre der Hunderter von Oma Erna eine Schlagzeile wert.
Auf die Vermögens- oder eher Einkommensverhältnisse von Hartz-IV-Beziehern lässt sich eine solche Spende gar nicht mehr herunterrechnen, weil kein Vermögen da ist, also alles aus dem täglichen Bedarf abgezweigt werden muss. Oder anders herum – damit jemand wie Bernard Arnault über den Akt einer Unterschrift hinaus überhaupt etwas von dieser Spende an seinem Geldsäckel bemerkt, müsste sie im Bereich von Milliarden, nicht von Millionen liegen. Er besitzt 73,2 Milliarden Euro; ein Jahr zuvor waren es erst 46,9 Milliarden.
Der französische Sozialwissenschaftler Rémy Herrera kommentiert diese Gabenbereitschaft also zu Recht mit einer gewissen Verachtung:„Unter dem bösartigen Blick der gotischen Wasserspeier erbricht das Laster vor der Kirche, würgen die Mäuler der Ausbeuter, der Betrüger, der Verschmutzer, der Wucherer ihre Profite hervor. Mit einem Fingerschnippen wirft eine Hand voll privater Könige, der Reichen Frankreichs, die so in Steuerschlupflöcher verliebt sind, mehr als das dreifache der dreihundert Millionen Euro auf den Banketttisch, die der Staat jährlich für die Erhaltung nationaler Kulturdenkmäler zur Verfügung stellt..
Die mediale Inszenierung hält er für gescheitert:„Und plötzlich, wie durch einen Akt des Heiligen Geistes, haben sich die Kapitalisten, die das Land zu Grunde richten und die soziale Ungleichheit vertiefen, in „Erbauer von Kathedralen“ und Garanten der „nationalen Einheit“ verwandelt. Das wird vermutlich böse enden.“
Die Gelbwesten führen ihr Leben in einem anderen Universum als Herr Arnault. So beschreibt eine Teilnehmerin ihre Mitstreiter (4):“Einige haben sich selbständig gemacht, kommen nicht einmal auf 500 Euro im Monat. Jaqueline hat ein Haus neben der Autobahn, das sie sich nicht mehr leisten kann. Einige wohnen in Wohnwagen, die Miete ist zu teuer, und leben von kleinen Bauarbeiten, die auf die Hand bezahlt werden. Ein ehemaliger Legionär kommt jeden Abend zum Grillen, „weil er die Heimat so besser verteidigt als an vorderster Front“. Dany arbeitet im Krankenhaus: „Wir können keine Menschen mehr heilen, es ist nur eine Schande.“
Sie gehen Woche für Woche auf die Straße, und alles, was in Deutschland darüber berichtet wird, ist, dass aus Demonstrationen heraus den Polizisten zugerufen wurde: “Bringt Euch um.” Die Hunderte schwer Verletzter und Verstümmelter, ins Gefängnis gesteckten waren noch nie Thema. Die Aufforderung “bringt euch um” wird nur dadurch zum Thema, weil sich in diesem Jahr bereits 28 Polizisten in Frankreich das Leben genommen haben. Sie wurden zwischen Überstunden, schlechter Bezahlung, den Gewalteinsätzen gegen legitimen Protest und der daraus folgenden sozialen Ausgrenzung schlicht zerrieben. Es bleibt abzuwarten, wann die ersten die Konsequenz ziehen und die Seite wechseln.
Aus den Reihen der Gelbwesten existiert jedenfalls bereits ein entsprechender Aufruf (5):
“Aber vergesst nicht, dass ihr auch ein Teil des Volkes seid. Heute CRS oder BAC, aber morgen? Ein kleiner Fehltritt, ein ernstes Gesundheitsproblem, und ihr seid nichts. Eure heutigen Auftraggeber werden schnell von Amnesie befallen und sie werden sich nicht einmal daran erinnern, dass ihr ihren Befehlen gefolgt seid und in ihrem Interesse. Eure Kollegen in Algerien haben die Manipulation erkannt. Sie nahmen ihre Helme ab, senkten ihre Schilde. Sie weigerten sich, den Forderungen von Politikern zu folgen, die so korrupt sind wie jene bei uns.
Sagt mir nicht, dass ihr keine Wahl habt! Diese Entschuldigung ist wertlos; erinnert euch daran, dass im Namen blinden und stummen Gehorsams Millionen gestorben sind.
Ihr seid frei, eure schmutzige Arbeit, die Demonstranten zu brechen, fortzusetzen. Aber wisst, dass sich die Gewalt immer gegen die Gewalttäter kehrt.
Glaubt nicht, dass wir nicht reagieren werden, dass wir eure Schläge schweigend hinnehmen.
Begeht keinen Selbstmord, schließt euch uns an.
Beendet dieses Gemetzel, ehe ihr etwas tut, das nicht mehr gut gemacht werden kann.”
Sollten solche Aufrufe Erfolg haben, wäre die Macht Macrons – und damit jene der EU – am Ende. Es gab bereits Äußerungen aus der Armee, man wolle nicht auf das eigene Volk schießen; während Soldaten der Fremdenlegion unter der Bezeichnung ‚Sentinel‘ Gebäude schützen, um die Polizei zu entlasten, sind andere, ehemalige Legionäre nicht nur beim Grillen bei den Gelbwesten aktiv, sondern auch schon in Uniform auf Demonstrationen gesichtet worden. Das Eis unter Macrons Füßen könnte dünner sein, als er wahrhaben will.
Das wichtigste Wahrzeichen Frankreichs, das sich im Gemälde von Delacroix ebenso findet wie im unerschrockenen Blick des Mannes auf Knien, ist jedenfalls unbeschädigt; es ist gerade dabei, seinen Kopf zu heben und erneut die Bühne der Geschichte zu betreten. Womöglich ist es bald an uns, Ereignisse in Frankreich so zu würdigen, wie Heine es angesichts des Gemäldes von Delacroix getan hat:
“Heilige Julitage! Wie schön war die Sonne, und wie groß war das Volk von Paris! Die Götter im Himmel, die dem großen Kampfe zusahen, jauchzten vor Bewunderung, und sie wären gerne aufgestanden von ihren goldenen Stühlen und wären gerne zur Erde herabgestiegen, um Bürger zu werden von Paris!“
Quellen:
- http://www.mnge.de/content/docs_kumudg/delacroix/allegorie.html
- https://www.youtube.com/watch?v=-i3ftb_u_O8&t=20s
- https://www.zeit.de/2019/18/notre-dame-brand-frankreich-spenden-wiederaufbau-kapitalismus
- https://ricochets.cc/Gilets-jaunes-Revue-de-presse-du-20-21-22-avril.html
- http://by-jipp.blogspot.com/2019/04/therese-di-malta-lettre-tous-les-crs-et.html
Bildquelle: : David Dufresne davduf.net/@DrMomour