Die „Dritte Universaltheorie“ – Der „dritte Weg“ des Muammar al Gaddafi

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Ein Jahrzehnt nach seinem Tode ist Gaddafi meist nur noch Thema, wenn es um die Intervention der NATO in den libyschen Bürgerkrieg geht. In der Vergangenheit kam es vor, dass gewisse ideologische Sympathien zur sogenannten „Großen Sozialistischen Libysch-Arabischen Volksrepublik“ gehegt worden sind. Was machte Gaddafis Denken aus, dass er Einfluss auf einige Köpfe ausüben konnte?

Ende der 70er Jahre begann Gaddafi seine eigene Ideologie zu propagieren, die sogenannte „Dritte Universaltheorie“, die einen Mittelweg zwischen westlichem Liberalismus und Marxismus bilden sollte. Diese Ideologie manifestierte sich in einem relativ kurzen Büchlein, welches unter dem Titel „Das Grüne Buch“ Bekanntheit erlangt hat. Wie steht es um seine dort vertretenen Anschauungen?

Das Buch ist in drei Kapitel unterteilt: 1. „Die Macht des Volkes“; 2. „Der Sozialismus“; 3. „Die soziale Basis der Dritten Universaltheorie“.

Die Macht des Volkes“

Im ersten Kapitel kritisiert Gaddafi die Demokratieauffassung der bürgerlichen und sozialistischen Staaten ohne sie direkt zu benennen. Alle politischen Systeme in der heutigen Welt sind das Ergebnis der Machtkämpfe zwischen Herrschaftsinstrumenten. Der Kampf kann friedlich oder gewaltsam sein, so wie der Konflikt der Klassen, Sekten, Stämme, Parteien oder Individuen. Das Ergebnis ist immer der Sieg eines Herrschaftsinstruments – sei es ein Individuum, eine Gruppe, eine Partei oder eine Klasse – und die Niederlage des Volkes, d. h. die Niederlage der wahren Demokratie.“1, behauptete er. Gaddafi erkennt offensichtlicherweise keinen Klassencharakter der politischen Systeme an. Er setzt gewissermaßen eine „absolute Demokratie“ und „absolute Diktatur“ gegenüber, ohne es so zu benennen. Ähnlich tat dies Kautsky, ebenfalls ohne es so zu benennen. Entsprechend behauptete Gaddafi: „Wenn eine Klasse, eine Partei, ein Stamm oder eine Sekte eine Gesellschaft beherrschen, wird das ganze System zu einer Diktatur.“2 Daraus geht auch hervor, dass Gaddafi nicht auf der Seite der Arbeiter stehen konnte, weil er ihre Klassenherrschaft ablehnte. Entsprechend lehnt Gaddafi auch jegliche Parteien ab, womit er natürlich auch die proletarische Avantgardepartei ablehnt. „Die Partei ist die zeitgenössische Diktatur. Sie ist das moderne diktatorische Instrument zum Regieren. Die Partei ist die Herrschaft eines Teiles über das Ganze.“3, behauptete er. Eine Partei sei dazu da, um das Volk zu beherrschen, also die Nichtparteimitglieder4. Das stimmt zu einem gewissen Grad. Würde die Partei unmittelbar herrschen ohne Wahl sowie Rechenschaftspflicht und Abberufbarkeit durch die Massen, dann könnte man von einer „Diktatur der Partei“ als Staatsform sprechen. Bei Gaddafi handelt es sich aber um eine Pauschalunterstellung gegen sämtliche Parteien. Das ist wohl mit einer der Gründe dafür, dass Gaddafi seine eigene Partei, die Arabische Sozialistische Union Libyens, im Jahre 1977 auflöste. Er ging aber noch weiter. Er ging sogar so weit zu behaupten: „Das Parteisystem ist das moderne Stammes- und Sektensystem. Die Gesellschaft, die von einer Partei regiert wird, gleicht genau jener, die von einem Stamm oder einer Sekte regiert wird.“5 Natürlich kann eine Partei mit Personenkult wie eine Sekte erscheinen, aber das trifft den Kern der Sache nicht. Gaddafi erkennt nicht, wessen Interessen die Parteien stellvertretend repräsentieren. „Ursprünglich wird eine Partei zur Repräsentation des Volkes aufgebaut.“6, behauptete er. Genau das ist eben falsch. Hier sind wir wieder bei dem Problem angekommen, dass Gaddafi keinen Klassencharakter von politischen Systemen kennt. Entsprechend kennt er auch keinen Klassencharakter von politischen Parteien und sieht stattdessen nur „Parteien des ganzen Volkes“, welche keine sein können. Und weil sie es nicht sein können, kritisiert er sie dafür. Gaddafi gleicht einem Farbenblinden, der schwarz und rot nicht unterscheiden kann und entsprechend jene kritisiert, die den Unterschied erkennen können. Interessant ist aber, dass Gaddafi in stark vulgarisierter Form marxistische Grundgedanken vertritt, aus denen der Klassenkampf im Sozialismus folgt. Er äußert sich folgendermaßen: Jede Klasse, die das Erbe einer Gesellschaft antritt, erbt zur gleichen Zeit auch ihre Charakterzüge. Das bedeutet, daß z.B. die Arbeiterklasse, wenn sie alle anderen Klassen überwältigt hat, das Erbe der Gesellschaft antritt, das heißt, sie wird zur materiellen und sozialen Basis der Gesellschaft. Der Erbe trägt die Merkmale dessen, den er beerbt, obwohl diese vielleicht nicht sofort offenbar werden. Im Lauf der Zeit bildet sich in den Reihen der Arbeiterklasse charakteristische Eigenschaften anderer, ausgeschalteter Klassen heraus. Und die Eigner dieser Charakterzüge nehmen Haltungen und Ansichten an, die ihren Charakterzügen entsprechen. So zeigt sich, daß die Arbeiterklasse eine abgespaltene Gesellschaft ist, die die gleichen Widersprüche wie die alte Gesellschaft aufweist. Die materiellen und moralischen Normen der Mitglieder dieser Gesellschaft sind zuerst andere als die vorangegangener Herrschaftsformen, aber dann entwickeln sich die Fraktionen, die sich automatisch zu den ausgeschalteten Klassen weiterentwickeln. So beginnt der Kampf um die Herrschaft über die Gesellschaft von neuem. Jede Gruppe von Menschen, dann jede Fraktion und schließlich jede neue Klasse versucht, das Regierungsinstrument zu beherrschen.“7 Darin steckt eklektisiert etwas von Marx Bemerkung, dass die sozialistische Gesellschaft noch Muttermale des Kapitalismus tragen werde, etwas von Lenins Feststellung, dass der Klassenkampf auch nach der Beseitigung der Bourgeoisie als Klasse gegen ihre Traditionen und Ideen geführt werden muss und Maos Erkenntnis, dass führende Kader zu kapitalistischen Wegbereitern werden können. Diese Gedanken sind zwar zusammenpüriert worden, aber man kann noch erkennen, wo Gaddafi sie ursprünglich aufgeschnappt hat. Der Unterschied zu Marx, Lenin und Mao ist aber, dass Gaddafi es so darstellt, als ob die Arbeiterklasse sich wie Sisyphus an einem unlösbaren Problem abmühen würde. Das liegt aber wiederum an Gaddafis Ablehnung des Klassenkampfes um die politische Macht. Sicherlich aber nicht nur darin. Gaddafi hegte engen Kontakt zu Tito-Jugoslawien. Möglicherweise kannte er die Schriften von Djilas. Der Revisionist Djilas behauptete, dass in den sozialistischen Staaten aus der politischen Führung „die Bürokratie“ als eine „neue Klasse“ entstanden sei8, wobei er selbst anmerkte, dass er damit weiter ging als Trotzki, der „die Bürokratie“ nicht als Klasse ansah, da ihnen keine Produktionsmittel gehören9. Eine solche Lektüre würde die pessimistische Tendenz und Ablehnung des Klassenkampfes durch Gaddafi erklären. Abgesehen davon behauptete Gaddafi, dass gewaltsame Revolutionen „diktatorisch“ und „undemokratisch“ seien10. Dies folgt aus seiner prinzipiellen Ablehnung des Klassenkampfes. Er lehnte ihn in Theorie und Praxis gleichermaßen ab. Es gibt aber etwas, das lehnt Gaddafi noch mehr ab als als den Klassenkampf.

Der Parlamentarismus wird von Gaddafi am härtesten kritisiert. Er sagt: „Die Parlamente sind das Rückgrat der traditionellen Demokratie, wie sie heute besteht. Ein Parlament ist eine Mißrepräsentation des Volkes, und parlamentarische Regierungen sind eine irreführende Lösung des Demokratieproblems.“11 Dies stimmt zu einem gewissen Grad. Die sogenannte „parlamentarische Willensbildung“ ignoriert die Wählerintention und macht aus der Volksvertretung einen Marktplatz für Pöstchen und die Gunst von Lobbyisten im Interesse der Konzerne. Die bloße Existenz eines Parlaments bedeutet die Abwesenheit des Volkes, denn wahre Demokratie besteht nur durch die Beteiligung des Volkes, nicht durch die Aktivität seiner Repräsentanten.“12, sagt Gaddafi. Er erkannte Vertreter nicht als demokratisch legitimiert an13. Daraus folgend sah er es als unrechtmäßig an, wenn diese Vertreter über Gesetze entscheiden14. Damit hörte aber seine Kritik nicht auf.

Gaddafi übte außerdem Kritik an gewissen Abstimmungsmodi. Gaddafi bezeichnete es als „demokratisch bemäntelte Diktatur“, wenn sich ein Kandidat mit 51% gegenüber einem anderen mit 49% durchgesetzt hat, da eine Hälfte der anderen etwas auferlegt, für das sie nicht gestimmt hat15. Auch hier zeigt sich der starke ideologische Einfluss des Anarchismus auf das Denken Gaddafis. Es ist richtig, dass Abstimmungen polarisieren, knappe Mehrheiten erst recht. Man erinnere sich nur an die jahrelange Diskussion nachdem der Brexit mit 51,89% per Volksentscheid beschlossen worden ist! Letztendlich kann Demokratie aber nur durch Mehrheitsentscheid funktionieren. Wäre dem nicht so, dann würden keine Entscheidungen getroffen werden. Ohne Entscheidungen kann man nichts voranbringen. Nicht nur an der Wahl selbst übte Gaddafi herbe Kritik. Zur Wahlkampagne schrieb er: „Arme Leute scheitern in der Konkurrenz der Wahlkampagne und es sind immer die Reichen – und nur die Reichen – die siegreich daraus hervorgehen!“16 Gaddafi erkennt also, dass nur die Parteien gewinnen, die am meisten Spenden erhalten. Daraus folgt alles andere: Medienpräsenz, Verbreitung von Wahlkampfmaterial, Aufstockung von Personal für den Wahlkampf und noch vieles mehr. Die tyrannischsten Diktaturen, die die Welt gekannt hat, existieren im Schatten der Parlamente.“17 – So lautet Gaddafis Kernkritik. Er mag zwar den Klassencharakter des bürgerlichen Staates ignorieren, aber er erkennt die Mechanismen, mit denen das werktätige Volk faktisch ausgeschlossen wird von der politischen Willensbildung.

Gaddafi lehnt nicht nur Parlamentswahlen ab, sondern auch Kampfabstimmungen. Volksentscheide sind ein Betrug an der Demokratie.“18, sagte Gaddafi. Der Grund dafür liegt darin, dass diese Fragen zu einer bloßen „Ja oder Nein?“-Frage herunterbrechen. Eine solche Abstimmung trägt gewissermaßen den Charakter einer Suggestivfrage. Gaddafi lehnt sie kategorisch ab. Dabei sind sie durchaus brauchbar in Fragen, die die Gesellschaft so sehr polarisiert haben, dass eine Entscheidung herbei muss. Gaddafis Kritik ist berechtigt, trifft aber nicht den Kern des Problems und ignoriert mögliche Anwendungsbereiche.

Im Gegensatz zum Parlament mit seinen Vertretern und den umkämpften Abstimmungen sieht Gaddafi sein eigenes System. Dieses ist aber, wenn man es genauer betrachtet, gar nicht wesentlich anders. Jedes andere Regierungssystem außer den Volkskongressen ist undemokratisch.“19, behauptet Gaddafi. Damit erhebt er sein System zur „einzig wahren Demokratie“. Er lobt sein eigenes System20, ohne dass daraus ersichtlich wird, wieso es nicht genauso ein System von Volksvertretern sein soll. Letztendlich handelt es sich bei seinem Volkskongress-System um ein, der Form nach, der Volksrepublik China ähnliches System21. Abgesehen von der Basisebene wählen die Massen nicht direkt Vertreter der höheren Ebenen, sondern die unteren Volkskongresse wählen die Zusammensetzung der jeweils höheren Volkskongresse, bis hin zum Generalvolkskongress als oberstes Organ. In China können die Massen zumindest auf Gemeinde- und Kreisebene die Vertreter direkt wählen. In Libyen war dies nur auf der Gemeindeebene vorgesehen in Gaddafis Konzept. Weil Gaddafi die Repräsentanten in seinen Volkskongressen nicht einmal als Vertreter ansieht, dachte er nicht einmal an ein Recht auf Abberufung durch die Basis. Dadurch wird Gaddafi seinem demokratischen Anspruch noch weniger gerecht, als diejenigen, die er kritisiert. Die anarchistische Anleihe wird daraus besonders erkennbar, denn Gaddafi übt zwar Kritik an Missständen, aber auf eine so unkonstruktive Weise, dass er letztendlich alte Probleme in neue begriffliche Gewänder hüllt. Als Libyen von Unruhen während des „Arabischen Frühlings“ erschüttert wurde, sagte Gaddafi am 2. März 2011, dass er nicht als Präsident zurücktreten könne, weil es einen solchen Posten in Libyen nicht gäbe und dass er kein Parlament auflösen könne, da in Libyen ein solches nicht bestehe22. Um das Problem auf einen Satz herunterzubrechen: Bei dem Vorhaben, die „perfekte“ direkte Demokratie zu schaffen beseitigte er nur noch mehr die demokratischen Einflussmöglichkeiten der Massen. Gaddafis politisches System war nur auf dem Papier „am demokratischsten“, wenn man jedes seiner Worte auf die Goldwaage legt. Schaut man aber, wie dies in der Praxis aussieht – abseits seiner sophistischen Begriffe – erkennt man bei ihm kein prinzipiell anderes System, als in anderen Ländern mit Volksvertretungen. „Viele haben sich Republiken und Alleinherrschaften zusammenphantasiert, die nie existiert haben.“23, sagte einst Machiavelli. Dasselbe kann man von Gaddafis politischem System behaupten. Sein Rückgriff auf anarchistisches Gedankengut bei der Ausarbeitung seines politischen Systems verwürzte seine ohnehin schon breiartige, eklektische Theorie.

Gaddafi ist auch noch dafür bekanntgeworden, dass er sich bei seinem politischen System religiös auf den Islam berief. Das ursprüngliche Gesetz einer jeden Gesellschaft beruht auf Tradition und Religion.“24, behauptet Gaddafi. Weiter schrieb er: „Die Religion umschließt die Tradition, die ein Ausdruck des natürlichen Lebens der Völker ist. Auf diese Weise ist die die Tradition umfassende Religion eine Bekräftigung des Naturgesetzes. Nichtreligiöse, nichttraditionelle Gesetze werden zum Gebrauch von einem Menschen gegen einen anderen erlassen. Sie sind nicht auf den natürlichen Quellen der Tradition und der Religion aufgebaut und deshalb unrechtmäßig.“25 Kurzum: Tradition und Religion seien letztendlich bloß Religion und abseits der Religion sei alles bloß künstlich, menschengemacht. Gaddafi stellt die Religion gewissermaßen außerhalb der kulturgeschichtlichen Entwicklung. Georg Lichtenberg sagte einst über jene Geistliche, die auf ähnliche Weise mit dem Christentum verfuhren: Unsere Theologen wollen mit Gewalt aus der Bibel ein Buch machen, worin kein Menschenverstand ist.“26 Gaddafi will letztendlich aus dem Koran ein Buch ohne Menschenverstand machen. Im sunnitischen Islam, der in Libyen vorherrscht, ist das für die Gläubigen nicht schwer zu akzeptieren, schließlich gelten Glaubenszweifel dort als Sünde. Ein Problem, was sich aus Gaddafis Verbindung zum Islam ergibt ist eher, dass der Islam nicht die „traditionelle Religion“ Libyens ist, wenn man in der Geschichte in die Zeit vor Mohammed zurückgeht. Auch ist Arabisch nicht die traditionelle Sprache Libyens. Diese Sprache kam ebenfalls erst mit der Islamisierung nach Libyen. Gaddafi setzt also etwas als „ewig“ voraus, was nicht ewig gewesen ist. Und selbst das war noch nicht alles: Die Betonung des Islam als nationalen Traditionsanker mag einzigartig erscheinen für Gaddafis Denken. Das stimmt aber nicht. Nicht einmal die Überbetonung der Rolle der Religion für die nationale Identität stammt letztendlich von Gaddafi selbst. Machiavelli vertrat eine solche Auffassung bereits, ebenfalls unter dem Aspekt der Einigkeit des Volkes und der daraus folgenden einfacheren Regierbarkeit27. Auch bei Gaddafi erscheint die Religion eher als eine stabilisierende Institution als ein ernst genommener Glaube. Im dritten Kapitel seines Buches sollte Gaddafi seine These noch einmal wiederholen mit noch klarerem Bezug zu Machiavelli: „Eine vernünftige Regel ist, daß jede Nation eine gemeinsame Religion haben sollte. Das Gegenteil ist als abnorm zu betrachten.“28 Gaddafi war durch und durch Machiavellist.

Insgesamt ist dieses Buchkapitel in sich nicht schlüssig. Es enthält ein Potpourri verschiedener ideologischer Anleihen, die widersprüchlich zusammengefügt worden sind oder, wie im Fall der anarchistischen Anleihen, bereits mit schweren inneren Widersprüchen übernommen worden sind. An dieses Konsistenzproblem von Gaddafis „Grünem Buch“ wird man sich gewöhnen müssen, denn die anderen Kapitel sind ähnliche Haufen zusammengeworfener Ideen.

Einen Vorgeschmack auf das nächste Kapitel bildet Gaddafis Ablehnung von Privatmedien. „Aus Gründen der Demokratie sollte es einer natürlichen Person nicht erlaubt sein, Eigentum an irgendwelchen Publikations- oder Informationsmitteln zu haben.“29, schrieb er. Es stimmt, dass das Privateigentum an der Presse der Demokratie schädlich ist, weil dadurch Unternehmen ihre Meinung vervielfältigen können. Diese Meinung entspricht den Kapitalinteressen, nicht den Interessen der Massen. Diese Bemerkung Gaddafis fällt durchaus mit der Bemerkung von Marx zusammen, dass die erste Freiheit der Presse darin bestehen würde, kein Gewerbe zu sein30. Gaddafi wollte aber nicht bloß das Privateigentum an der Presse aufheben. Er hatte eine Vorstellung von einem „Sozialismus“ Marke Eigenbau.

Der Sozialismus“

Vorweg ist zu sagen, dass Gaddafi zwischen Volkseigentum und Privateigentum keine klare Trennlinie im Klassencharakter zieht. „All die Versuche, die sich auf das Eigentum konzentrierten, haben nicht das Problem der Produzenten gelöst.“31, behauptete Gaddafi. Die Arbeiter auf der ganzen Welt seien Lohnarbeiter, egal unter welcher Eigentumsform32. Damit stellt er sich bereits außerhalb eines marxistischen Verständnis des Sozialismus. Zurecht bezeichnete Gaddafi aber Lohnarbeiter als „Sklaven auf Zeit“33. Sein Vorschlag ist die Abschaffung des Lohnsystems34. Damit kommt er mit Marx in der Form überein. In der Praxis jedoch ist diese Forderung anders. Bei Marx wird das Lohnsystem in der sozialistischen Gesellschaft noch benötigt, um das Prinzip „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung“ zu verwirklichen. Im Kommunismus steht an, dass das Lohnsystem beseitigt wird mit dem Prinzip „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“. Gaddafi hingegen behauptet, dass man dies schon im „Sozialismus“ nach libyscher Art erreichen könne. Darauf werde ich an späterer Stelle zurückkommen.

Die Produzenten sind die Arbeiter.“35, sagte Gaddafi. Der Grund der Verwendung des Begriffs „Produzent“ statt „Arbeiter“, „Arbeitnehmer“ und „Werktätiger“ sei, dass diese nicht länger zutreffen würden. Wieso das? Gaddafi behauptete: Die Arbeiterklasse verkleinert sich fortlaufend mit der Entwicklung von Wissenschaft und Maschinen.“36 Gaddafi sieht nicht die Lohnarbeiter als Arbeiterklasse, sondern den Klischeetypus eines Industriearbeiters mit dem schweren Schmiedehammer. Dabei sagte er selbst: „Obwohl sich die Produktionsfaktoren quantitativ und qualitativ verändert haben, hat sich die grundlegende Rolle jedes einzelnen Faktors nicht verändert.“37 Gaddafi ging aber auch auf Allgemeinplätze ein: Eine Industrie basiert auf Rohstoffen, Maschinen und Arbeitern.“38 Wenn nur einer dieser Faktoren fehlt, dann kann keine Produktion stattfinden39. Welch eine schwer nachzuvollziehende Erkenntnis! Gaddafis wirtschaftliche Thesen sind im Gesamtkontext nicht recht schlüssig. Das liegt aber wohl auch daran, dass seine ökonomischen Beispiele aus einem Mathematiklehrbuch einer Grundschulklasse entnommen zu sein scheinen. Er lieferte drei davon:

1. Beispiel. Ein Arbeiter produziere 10 Äpfel für die Gesellschaft und erhalte einen einzigen zurück. Dieser reiche ihm je nach dem entweder für die Befriedigung seiner Bedürfnisse oder auch nicht40.

2. Beispiel. Ein Arbeiter produziere für eine andere Person 10 Äpfel und erhielte einen Lohn von weniger als einem Apfel41.

3. Beispiel. Ein Arbeiter produziere 10 Äpfel für sich selbst42.

Diese Beispiele sind so krasse Abstraktionen von realen Situationen, dass sie den Kerninhalt der Sache kaum darzustellen vermögen. Gaddafi versucht daraus aber für die Realität Schlussfolgerungen zu ziehen. Gaddafi behauptet, es gäbe keinen Anreiz zur Arbeit, wenn jemand einen Lohn erhält43. Er ignoriert die Möglichkeit einer Bonuszahlung bei der Erhöhung der Produktivität als materiellen Anreiz beispielsweise. Aus diesem Grund behauptet er als Folge, dass im ersten Beispiel der Arbeiter keinen Anreiz habe die Produktion zu erhöhen. Der Grund sei, dass er lediglich einen einzigen Apfel behalten dürfe, ob er reicht oder auch nicht44. Im zweiten Beispiel habe der Arbeiter kein Interesse daran, weil er nur arbeite, um seinen Lohn zu erhalten, nicht aus Interesse am Produkt45. Im dritten Beispiel sieht Gaddafi die „sozialistische“ Gesellschaft verwirklicht, da dieser Arbeiter zur Befriedigung seiner individuellen Bedürfnisse arbeite. Außerdem lobte er sich selbst dafür, dass das „Grüne Buch“ dieses ökonomische Problem gelöst habe46. Hier offenbart sich, dass Gaddafis „Sozialismus“ Marke Eigenbau die kleine Warenproduktion idealisiert. Dem liegt dies zugrunde: Gaddafis „Dritte Universaltheorie“ geht dem Wesen nach davon aus, dass alle Menschen nach dem egoistischen Prinzip des Homo Oeconomicus funktionieren würden.

An dieser Aussage Gaddafis ist etwas Wahres dran: Es gibt keine Freiheit des Menschen, wenn ein anderer die Kontrolle über seine Bedürfnisse hat. Denn Bedürfnisse können die Versklavung des Menschen zur Folge haben, Bedürfnisse verursachen Ausbeutung.“47 Problem dabei ist, dass er sich sehr vage ausdrückt. Wie erlangt man denn Kontrolle über die Bedürfnisse anderer? Indem einem die Produktionsmittel gehören, mit denen die materiellen Bedürfnisse der Massen befriedigt werden können! Dennoch zieht er einige Schlussfolgerungen, die als progressiv gelten können. Gaddafi verbot den Besitz von privaten Mietshäusern, da jeder nur das Bedürfnis nach einem Eigenheim besitzt48. Jeder benötige ein Einkommen, um daraus die materiellen Bedürfnisse zu befriedigen49. Mietwagen sollten verboten sein50, eben aus dem Grund der Vermeidung von Bedürfniskontrolle durch Fremde. Gaddafi erlaubte Landbesitz nur für den Fall, dass es auch von den Besitzern bewirtschaftet wird. Seine dem zugrundeliegende These: „Das Land gehört niemandem.“51 Er sagt nicht, wie in einem sozialistischen Staat, dass das Land dem Volk gehöre, sondern in anarchistischer Weise, dass es niemandem gehöre. Außerdem solle Privatproduktion, die über die eigene Bedürfnisbefriedigung hinausgehe, untersagt sein, da es sich dabei um Ausbeutung handele52. Das stimmt zwar im Hinblick auf die Lohnarbeit, aber nicht im Hinblick auf die Produktion für gesamtgesellschaftliche Bedürfnisse. Gaddafi drückt sich vage aus. Vielleicht um sich verschiedenste Interpretationsoptionen offen zu halten, wie bei einem Orakelspruch? Schließlich besaß Libyen nach 1977 per Deklaration keine Verfassung im eigentlichen Sinne mehr. Der Koran wurde zur Verfassung erklärt53 – faktisch wurde das „Grüne Buch“ aber zu einer, da ein religiöser Text als Verfassung eine Absurdität ist. Nun aber zurück zum Buchkapitel.

Gaddafi führte als ein Beispiel für die Ungleichverteilung in einer Gesellschaft dies an: Wenn auf 10 Personen 10 Einheiten gesellschaftlicher Reichtum verteilt werden sollten, dann bekäme jeder eine einzige Einheit bei gleicher Verteilung. Sollten Einzelpersonen mehr als eine Einheit besitzen, so bedeutet dies, dass andere nichts besitzen. Dadurch seien diese an ihrem Recht auf Eigentum beraubt54. Dies kratzt an der Thematik von Marx und Engels, dass das Privateigentum an den Produktionsmitteln nur deshalb existieren kann, weil es für die absolute Mehrheit des Volkes nicht existiert. Gaddafi jedoch führt es auf eine bloße Verteilungsthematik zurück. Nicht das letzte Mal, dass er dies tun würde.

Gaddafi hatte ein sehr unfruchtbares Revolutionskonzept für die westlichen Staaten im Sinn: „Die große Macht der Gewerkschaften in der kapitalistischen Welt ist fähig, die kapitalistischen Gesellschaften der Lohnarbeiter in Gesellschaften von Partnern umzukehren. Es ist wahrscheinlich, daß der Ausbruch der Revolution zur Erreichung des Sozialismus mit der Aneignung ihres Anteils an der Produktion durch die Produzenten beginnt. Streikobjekt der Arbeiter wird dann nicht mehr die Forderung nach Lohnsteigerungen, sondern die Forderung des Anteils an der Produktion sein. All dieses wird sich früher oder später unter der Anleitung des Grünen Buches ereignen.“55 Syndikalismus mit vagem Ziel, welches nicht einmal die Wurzel trifft: Das Privateigentum an den Produktionsmitteln. Stattdessen setzt Gaddafi bei der Verteilungsfrage an. Letztendlich sieht er in der Verteilung des Mehrprodukts und des Lohnes einen Wesensunterschied, der aber nur in der Form existiert.

Beim Philosophieren über den Sozialismus blieb Gaddafi ebenfalls vage, aber zumindest schnitt er dabei ein paar annähernd richtige Kernwerte an. „Es ist eine Ironie, daß die grundlegenden Bedürfnisse des Menschen durch juristische, verwaltungsmäßige oder andere Maßnahmen gehandhabt werden.“56 – Der Grundwert stimmt, denn er stellt die Sinnmäßigkeit der bürgerlichen Eigentumsverhältnisse in Frage. Man wird aber bei dieser Aussage den Eindruck kaum los, dass hier der anarchistische Einfluss auf Gaddafi hier durchschimmert. Es gibt aber auch Aussagen von Gaddafi, bei denen der Wurm drinsteckt. „Der Zweck der sozialistischen Gesellschaft ist die Schaffung einer Gesellschaft, die glücklich ist, weil sie frei ist.“57 – Diese Aussage zum Beispiel stimmt nicht. Eine Gesellschaft auf Grundlage des Klassenkampfes kann nie völlig „frei“ sein. Die Befreiung der Werktätigen bedeutet nicht, „frei“ zu sein von jeglicher klassenmäßiger Verpflichtung. Das Problem liegt im Freiheitsbegriff, der als absolut verstanden wird, es aber nicht sein kann. Bei Gaddafi bilden richtige Schlussfolgerungen und grundlegende Fehler einen untrennbaren Klumpen.

Die Anerkennung des Profits ist eine Anerkennung des Profits der Ausbeutung.“58, sagte Gaddafi zurecht. Er behauptet aber, dass der Profit erst im Zuge der „sozialistischen“ Gesellschaft abgeschafft werden könnte und das Streben nach der Steigerung der Profite zu deren Verschwinden führen würde. Darin zeigt sich der grundlegende Fehler seines „Modells“. Gaddafi sieht, dass kapitalistische Kategorien in seinem „Sozialismus“ weiterhin existieren, aber er ist sich nicht bewusst, wie diese loszuwerden sind. Er setzt darauf, dass sich diese Probleme mit der Zeit von selbst lösen würden. Damit wird also auf Spontanität gesetzt. Auch hierin rächt sich die Entstellung der Anleihen der marxistischen politischen Ökonomie.

Im „Grünen Buch“ folgt noch ein weiteres Kapitel:

Die soziale Basis der Dritten Universaltheorie“

Wie bereits im ersten Kapitel ersichtlich, hat Gaddafis „Sozialismus“ nicht die Arbeiterklasse zum Subjekt. Stattdessen sucht Gaddafi nach einer Massenbasis in einem Potpourri aus verschiedenen gesellschaftlichen Kategorien, welche er zwar erklärt, aber deren Rolle für seine Sache der „Dritten Universaltheorie“ kaum verdeutlicht. Es geht aus diesem Kapitel kaum hervor, wie sich Gaddafi seine Massenbasis vorstellt.

Gaddafi beginnt das Kapitel mit der These: „Der soziale, d. h. nationale Faktor ist die treibende Kraft in der Geschichte der Menschheit. Die soziale Bindung, die jede menschliche Gruppe, angefangen von der Familie über den Stamm bis hin zur Nation, zusammenhält, ist die Grundlage geschichtlicher Bewegung.“59 Hier zeigt sich wieder, dass Gaddafi, da er den Klassenkampf ignoriert, einen Ersatz sucht. Dieser ist bei ihm eine Art „Nationalismus des ganzen Volkes“. Nationalismus hat Klasseninhalt. In der bürgerlichen Revolution steht die Bourgeoisie an der Spitze, die um die Sache ihrer Nation kämpft – wobei dabei die wirtschaftlichen Vorzüge eines Nationalstaates natürlich im Vordergrund stehen. Dies erklärt auch, wieso die Bourgeoisie allzu häufig in der Weltgeschichte zum Verrat an der eigenen Nation fähig war – letztendlich ist selbst die nationale Identität verhandelbar. Nationen deren Nationalismus zerstört ist, sind dem Untergang ausgeliefert.“60, sagte Gaddafi. Damit hatte er recht. Wenn eine Nation kein Nationalbewusstsein mehr besitzt, ist sie dabei zu sterben und in eine andere assimiliert zu werden. Es bedarf aber keines Gaddafis, damit die Menschheit zu einer solchen Erkenntnis gelangen kann. Nationalismus mit dem Gruppeninstinkt von Tieren und der Anziehungskraft von Atomen zu vergleichen61 mögen zwar zu einem gewissen Grad passende Analogien sein, aber diese hinken, abgesehen von Oberflächlichkeiten, doch sehr. Der Faktor des menschlichen Bewusstseins wird hierbei ausgeklammert. Dabei ist dies etwas, das weder den Tieren, noch den Atomen zu eigen ist.

Grundsätzlich verstand Gaddafi aber gewisse Dynamiken: Geschichtliche Bewegungen sind Massenbewegungen, d. h. Gruppenbewegungen für ihre eigenen Interessen, für ihre Unabhängigkeit von anderen Gruppen.“62 Er erkannte in der Theorie ein Prinzip an, welches sich bei ihm in der praktischen Konsequenz vermissen ließ. Gaddafi erkannte lediglich an, dass verschiedene Gesellschaftsgruppen für die Individuen einen verschiedenen Stellenwert haben. Die Familie sei die stärkste Ebene, gefolgt vom Stamm, gefolgt von der Nation und wiederum gefolgt von der Weltgemeinschaft63. Auch hier spielt ein Menschenbild die Rolle, welches von einem egoistischen Homo Oeconomicus ausgeht. Dennoch sagte Gaddafi: „Die Nation ist der größte politische Schirm des Individuums, größer als der eines Stammes.“64 Das ist Sinn und Zweck des Nationalbewusstseins. Wieso also die Gegenrede zuvor? Genauso merkwürdig sind die Fragen des Bezugs des Ganzen zur „Dritten Universaltheorie“ und dem „Grünen Buch“, die Gaddafi selbst im Text stellt65. Das macht den Eindruck, als wüsste nicht einmal Gaddafi selbst, was der Zusammenhang seiner Ausführungen zu seiner „Dritten Universaltheorie“ sein soll. Es gibt aber ein Thema, aus welchem man zumindest Rückschlüsse auf Gaddafis Denke ziehen kann.

Frauen sind nämlich in diesem dritten Buchkapitel ein großes Thema. Gaddafi wandte sich in Worten gegen die Diskriminierung und Unterdrückung der Frau66. Gaddafi weist anschließend auf die biologischen Unterschiede zwischen Mann und Frau hin67. „Der Mann kann weder schwanger werden noch stillen.“68 – Dieser Satz war vor 40 Jahren noch Konsens. Damit steht Gaddafi auf einem deutlich wissenschaftlicheren Standpunkt als die heutigen Anhänger der „Gender Studies“, welche Geschlechter für „sozial konstruiert“ halten. Jedenfalls hören hiermit die fortschrittlichen und richtigen Bemerkungen Gaddafis auf. „Der Verzicht auf die natürliche Rolle der Frau in der Mutterschaft, wenn Fürsorgeeinrichtungen für Kinder die Mütter ersetzen, ist der Beginn des Verzichts auf eine menschliche Gesellschaft und der Anfang ihrer Umwandlung in eine biologische Gesellschaft mit einer künstlichen Lebensweise.“69, behauptete er. Frauen sollen ihm zufolge nur Mütter sein. Das bezeichnet Gaddafi als ihre „natürliche Rolle“70. Deshalb wendet er sich gegen Fürsorgeeinrichtungen (das sollen wohl Krippen und Kindergärten sein) und behauptet, diese würden die Mütter „ersetzen“ (was nicht stimmt). Gaddafi geht sogar soweit zu behaupten: „Die modernen Industriegesellschaften sind unzivilisiert. Denn sie veranlassen Frauen, körperliche Arbeiten – auf Kosten ihrer Weiblichkeit – zu übernehmen und die natürlichen, von Schönheit, Mutterschaft und Seelenfrieden geprägten Rollen aufzugeben.“71 Gaddafis Frauenbild ist das einer Hausfrau im goldenen Käfig. Letztendlich ist sie dadurch aber ökonomisch vom Mann abhängig, somit nicht gleichberechtigt. In der Frauenfrage ist Gaddafi also reaktionär. Nur Frauen können Mütter sein, das stimmt. Aber Männer können genauso gut Väter sein, die sich fürsorglich um ihre Kinder kümmern. Und dennoch dreht sich ihr Leben nicht bloß um die Elternschaft. Man merkt in der Frauenfrage, dass Gaddafi ein sunnitischer Moslem war, denn dieses Frauenbild mit etwas Idealisierung präsentiert er in seinem „Grünen Buch“.

Gaddafi machte in diesem Buchkapitel noch ein paar Bemerkungen, die von Interesse sind. Über die Schwarzen sagte Gaddafi: „Die jüngste Stufe der Sklaverei ist die Versklavung der schwarzen durch die weiße Rasse. Die Schwarzen werden das nicht vergessen, bis sie sich Genugtuung verschafft und ihre Ehre wieder hergestellt haben.“72 Hier spricht Gaddafi als Pan-Afrikaner. Die Sklaverei sieht Gaddafi nicht als Klassenfrage, sondern als Rassenfrage. Dies rührt aber wieder einmal aus seiner Blindheit gegenüber dem Klassenkampf. In heutigen Debatten könnten Identitätspolitiker in den USA zu ihren Zwecken diese Worte zitieren. Außerdem sagte Gaddafi: „Die Menschheit ist immer noch rückständig, weil sie nicht fähig ist, eine gemeinsame Sprache zu sprechen.“73 Er meinte dabei eine gemeinsame Muttersprache, da er anmerkte, dass sich die Menschen in der ihnen vertrautesten Sprache sich tiefgründig ausdrücken. Er meint also nicht Englisch als globale Lingua Franca. Letztendlich drückt Gaddafi damit eine kosmopolitische Sehnsucht aus, welche möglicherweise niemals Realität werden wird. Es bleibt aber auch die Frage, ob es so sinnvoll ist, aus der ganzen Menschheit eine homogene Masse im Hinblick auf die Sprache zu schaffen. Auch wird der Zusammenhang zu seinen vorherigen Äußerungen über Menschengruppen nicht deutlich.

Als Fazit des Kapitels kann man sagen, dass dies das inhaltlich verwirrendste von allen ist. Gaddafi redet über verschiedene Bevölkerungsgruppen, aber nicht darüber, welche Rolle sie bei seiner politischen Agenda spielen sollen, abgesehen von den Frauen. Bei diesem Kapitel handelt es sich um Ausführungen ohne konkretes Ziel.

Abschließendes – Oder: Was ist die „Dritte Universaltheorie“ überhaupt?

Wie aufgezeigt, besteht Gaddafis „Grünes Buch“ aus zusammengeworfenen Thesen. Der Islamwissenschaftler Heiner Lohmann urteilte 2011 über das „Grüne Buch“: Man hat es oft als politische Theorie missverstanden, aber es hat keinen Argumentationszusammenhang. Es dient der Identitätsstiftung. Wenn man es liest, versteht man es eigentlich überhaupt nicht, weil es in sich sehr widersprüchlich ist.“74 Man kann sagen, dass das „Grüne Buch“ eine Art „ideologischer Müllbeutel“ ist. Es finden sich dort Auszüge aus den verschiedensten Ideologien wieder, aber in einer zusammenhanglosen Weise.

Gaddafi machte viele Anleihen beim Marxismus, dem Anarchismus, einiger klassischer bürgerlicher Theorie zur Volkssouveränität und artverwandten Theorien wie auch dem sunnitischen Islam. Kurzum: Die „Dritte Universaltheorie“ ist ein eklektizistisches Sammelsurium verschiedener Ideologen. Das ist kennzeichnend für „dritte Wege“. Letztendlich handelt es sich bei Gaddafi um Bourgeois-“Sozialismus“. Man kann sagen, dass der Anarchismus den größten Einfluss unter diesen Ideologien ausübte, was sich am ersichtlichsten an der Ablehnung von politischer Repräsentation als Konzept widerspiegelt, auch wenn sein eigenes Konzept letztendlich auch ein Repräsentationssystem darstellt, wenn auch anders als in den bürgerlichen und sozialistischen Republiken. Gaddafis Ideologie krankte in dieser Hinsicht an denselben Problemen, wie der Anarchismus: An einer nicht konstruktiven Kritik am System der politischen Vertretung, sodass letztendlich ein solches System unter neuem Namen geschaffen worden ist, wie etwa bei den Anarchisten der CNT in Spanien ein Staat entstanden ist, auch wenn dies nicht offiziell zugegeben worden ist.

Libyen war unter Gaddafi zu keiner Zeit ein sozialistischer Staat. Seine „Dritte Universaltheorie“ mag zwar international aggressiv beworben worden sein, fand aber außerhalb Libyens keine Manifestation – und nicht einmal dort so wie angedacht. Es handelt sich dabei eher um eine libysche Sonderform des „arabischen“ bzw. „afrikanischen Sozialismus“. Sein „Grünes Buch“ ist zwar eine Sammlung von eklektizistischen Ideen, die zum Teil in Form von Aphorismen dargelegt werden, aber eben deshalb als theoretische Fundierung sehr dürftig sind. Seit dem Sturz von Gaddafi kann man ersehen, dass die „Dritte Universaltheorie“ auch nicht mehr war, als einige vage Aussprüche Gaddafis. Es handelt sich um kein in sich geschlossenes ideologisches Gesamtsystem. Entsprechend ist eine Wiederbelebung dieser Ideologie selbst in Libyen unwahrscheinlich und der Untergang von ihr in der Geschichte der wahrscheinlichste Ausgang. Wir werden ihn als Beispiel des Bourgeois-“Sozialismus“ in Erinnerung behalten so wie den Tansanier Julius Nyerere.

1 Muammar al Gaddafi „Das Grüne Buch“, Verlag Bublies, Beltheim-Schnellbach 2014, S. 8.

2 Ebenda, S. 20.

3 Ebenda, S. 14.

4 Vgl. Ebenda, S. 15.

5 Ebenda, S. 18.

6 Ebenda, S. 17.

7 Ebenda, S. 22/23.

8 Vgl. Milovan Djilas „Die neue Klasse“, Kindler Verlag, München 1963, S. 50.

9 Vgl. Ebenda, S. 51.

10 Vgl. Muammar al Gaddafi „Das Grüne Buch“, Verlag Bublies, Beltheim-Schnellbach 2014, S. 38.

11 Ebenda, S. 9.

12 Ebenda.

13 Vgl. Ebenda, S. 10.

14 Vgl. Ebenda, S. 32.

15 Vgl. Ebenda, S. 8.

16 Ebenda, S. 12.

17 Ebenda, S. 13.

18 Ebenda, S. 25.

19 Ebenda, S. 27.

20 Vgl. Ebenda, S. 28. Gaddafi behauptet, er habe „das Demokratieproblem in der Welt endlich gelöst“. Dies sagte er im Kontext seines Volkskongresssystems.

21 Vgl. Ebenda, S. 29. Gaddafi erwähnt eine Wahl der oberen Volkskongresse durch die unteren Volkskongresse; das heißt, auf indirekte Weise. In der Volksrepublik China werden auch nur die Volksvertretungen bis zur Kreisebene direkt gewählt, ab dort wird die Zusammensetzung der oberen Volksvertretungen durch die unteren bestimmt.

23 „Der Fürst“ In: Niccolo Machiavelli „Politische Schriften“, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1990, S. 91.

24 Muammar al Gaddafi „Das Grüne Buch“, Verlag Bublies, Beltheim-Schnellbach 2014, S. 32.

25 Ebenda, S. 36.

26 Georg Christoph Lichtenberg „Ausgewählte Schriften“, Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig
1962, S. 80.

27 Siehe: „Discorsi“ In: Niccolo Machiavelli „Politische Schriften“, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1990, S. 159.

28 Muammar al Gaddafi „Das Grüne Buch“, Verlag Bublies, Beltheim-Schnellbach 2014, S. 77.

29 Ebenda, S. 41.

30 Vgl. Karl Marx „Debatten über Preßfreiheit und Publikation der Landständischen Verhandlungen“ (März/April 1842) In: Karl Marx/Friedrich Engels „Werke“, Bd. 1, Dietz Verlag, Berlin 1981, S. 71.

31 Muammar al Gaddafi „Das Grüne Buch“, Verlag Bublies, Beltheim-Schnellbach 2014, S. 47.

32 Vgl. Ebenda, S. 48/49.

33 Ebenda, S. 48.

34 Vgl. Ebenda, S. 50.

35 Ebenda, S. 54.

36 Ebenda, S. 55.

37 Ebenda, S. 52.

38 Ebenda, S. 53.

39 Vgl. Ebenda, S. 53/54.

40 Vgl. Ebenda, S. 61.

41 Vgl. Ebenda, S. 62.

42 Vgl. Ebenda.

43 Vgl. Ebenda, S. 61.

44 Vgl. Ebenda, S. 62.

45 Vgl. Ebenda, S. 62/63.

46 Vgl. Ebenda, S. 63.

47 Ebenda, S. 56.

48 Vgl. Ebenda, S. 57.

49 Vgl. Ebenda.

50 Vgl. Ebenda, S. 58.

51 Ebenda.

52 Vgl. Ebenda, S. 60.

54 Vgl. Ebenda, S. 64.

55 Ebenda, S. 69.

56 Ebenda, S. 68.

57 Ebenda, S. 58.

58 Ebenda, S. 70.

59 Ebenda, S. 73.

60 Ebenda, S. 75.

61 Vgl. Ebenda, S. 76.

62 Ebenda, S. 74.

63 Vgl. Ebenda, S. 81.

64 Ebenda, S. 83.

65 Siehe: Ebenda, S. 85.

66 Vgl. Ebenda, S. 90.

67 Vgl. Ebenda, S. 91/92.

68 Ebenda, S. 92.

69 Ebenda, S. 93.

70 Ebenda, S. 95.

71 Ebenda, S. 103.

72 Ebenda, S. 106.

73 Ebenda, S. 110.

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