Die Bedeutung von Gesprächen bei der Ausarbeitung von Gedankenkonzepten
Gespräche sind nicht bloß ein Kommunikationsmittel, sondern dienen auch der Reflexion des eigenen Denkens. Heinrich von Kleist entdeckte diesen den Geist anregenden Effekt und beschrieb ihn im Aufsatz „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“. Darin schrieb er als Prinzip: „Wenn du etwas wissen willst und es durch Meditation nicht finden kannst, so rate ich dir, mein lieber, sinnreicher Freund, mit dem nächsten Bekannten, der dir aufstößt, darüber zu sprechen. Es braucht nicht eben ein scharfdenkender Kopf zu sein, auch meine ich es nicht so, als ob du ihn darum befragen solltest: nein! Vielmehr sollst du es ihm selber allererst erzählen. Ich sehe dich zwar große Augen machen und mir antworten, man habe dir in frühern Jahren den Rat gegeben, von nichts zu sprechen als von Dingen, die du bereits verstehst. Damals aber sprachst du wahrscheinlich mit dem Vorwitz, andere, ich will, dass du aus der verständigen Absicht sprechest, dich zu belehren, und so könnten, für verschiedene Fälle verschieden, beide Klugheitsregeln vielleicht gut nebeneinander bestehen.“1 Kleist wandelte in diesem Kontext das französische Sprichwort „Der Appetit kommt beim Essen.“ um zu „Der Einfall kommt beim Sprechen.“2. Kleist stellte damit eine Gesprächstheorie auf betreffend der Auswirkungen von unverbindlichen Gesprächen über ein bestimmtes Thema für die Strukturierung der eigenen Gedanken. Plechanow bemerkte einmal richtigerweise: „Eine unvollständige Wahrheit, die sich für die volle Wahrheit ausgibt, ist ein Irrtum.“3 Nach einem oder mehreren anregenden Gesprächen zu einem Thema, das möglichst viele, wenn nicht gar alle, wesentlichen Aspekte beleuchtet, ist es leichter über dieses einen Artikel zu gliedern und abzufassen. Dazu benötigt es natürlich noch weitergehender Recherche und einer anderen Struktur als das Gespräch selber. Es ist auch als Selbstgespräch möglich, dabei fehlt aber der Impuls durch das Gegenüber, was einem als Stichwortgeber behilflich sein kann. „Es gibt gewisse Irrtümer, die mehr Aufwand von Geist kosten, als die Wahrheit selbst.“4 – Das ist eine Gefahr, die auch ein Gespräch nicht vollkommen aus dem Weg räumen kann, denn man kann sich gemeinsam genauso verrennen, wie im Eigensud.
Das Gespräch dient bloß als Orientierung, ist noch nichts Feststehendes. Es hilft dabei, Auslassungen von wichtigen Inhalten zu vermeiden, die Gliederung der eigenen Ausführungen zu optimieren und Fehler zu vermeiden. Dennoch kann es diese Mängel nicht auf den absoluten Nullpunkt reduzieren, lediglich signifikant senken.
Dieser weitgehend unverbindliche Charakter von Gesprächen macht es schwierig diese Form zu verwenden für ernsthafte Ausführungen, die durchstrukturiert sind und zu denen man ausreichend Wissen besitzt, dass sie es wert wären gelesen zu werden. Verwendet man Gespräche dennoch, obwohl beide Bedingungen nicht gegeben sind, so wird das den Charakter von den vielen Gesprächen haben, die Deng Hsiaopings Ausgewählte Werke ausmachen: Es mangelt an Struktur, wenn es längere Ausführungen sind oder sie sind auf kurze Auszüge heruntergekürzt worden, und die Aussagen sind allermeistens unbelegte Meinungsäußerungen revisionistischen Inhalts. In diesen zeigt sich die gesamte Negativseite von Gesprächen, wenn sie als Stellungnahme stehen bleiben sollen. Selten kommen in Gesprächen per Zufall Aussagen zustande, die so stehenbleiben können. Handelt es sich um ein Streitgespräch über ein Thema, auf das man sich vorbereitet hat oder ein Interview über das, was man in der Praxis macht, dann ist die Qualität natürlich höherliegend. Bei diesen ist dann eher das Problem, dass nicht alles so zur Sprache kommen kann, wie man es gerne anordnen würde für eine zusammenhängende Abhandlung, abgesehen davon, dass in der konkreten Gesprächssituation einem einige Details entfallen können, die von Bedeutung gewesen wären. Dieses Problem lässt sich bei schriftlichen Abhandlungen vermeiden.
Aus diesem Grund sind Gespräche über Themen, mit denen man sich beschäftigt und darüber eine Abhandlung schreiben will, hilfreich, aber nichts Endgültiges, ein bloßer mündlicher Rohentwurf, dem es an Feinschliff fehlt.
1„Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ In: Heinrich von Kleist „Ästhetische, philosophische und politische Schriften“, Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin 2014, S. 18/19.
2Siehe: Ebenda, S. 19, Französisch.
3„Tolstoi und Herzen“ (1912) In: G. W. Plechanow „Kunst und Literatur“, Dietz Verlag, Berlin 1955, S. 827.
4„Fragmente“ In: Heinrich von Kleist „Ästhetische, philosophische und politische Schriften“, Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin 2014, S. 45.