Die Asche brennt (Das Odessa-Massaker 2014)

erschienen am 3.Mai 2019 via KenFM

Gestern, vor fünf Jahren, fand in Europa ein Massaker statt. Am zweiten Mai 2014 in Odessa. Haben Sie schon davon gehört?

Die meisten Bürger dieses Landes vermutlich nicht. Denn es war nur einige kurze Zeilen wert, als handele es sich um ein Unglück, irgendwie geschehen, ein dummer Zufall, dem mindestens 42 Menschen zum Opfer gefallen sind. Monate zuvor gab es eine Sondersendung nach der anderen über den Maidan; täglich wurden wir damit versorgt, als läge die Ukraine gerade eine Haustür weiter. Am zweiten Mai 2014 hätte sie ebensogut auf dem Mond liegen können.

Dieses Datum markiert einen Bruch.

Es markiert einen Bruch, weil sich die historische Erzählung in Ost und West klar spaltete. Keine Gewalttat dieses Jahrhunderts ist so gründlich dokumentiert wie das Massaker von Odessa; es existieren dutzende Stunden Videomaterial, weil die Täter ihr Tun eifrig und stolz gefilmt haben. Auch wenn die meisten der Videos auf youtube inzwischen gelöscht sind, auf rutube.ru kann man sie nach wie vor mühelos finden. Diese Videos liefen an jenem Tag als Livestream im Netz. In Russland dürften sie Zehntausende gesehen haben; hier in Deutschland immerhin noch einige Hundert.

Was keines dieser Videos vermitteln kann, auch Ulrich Heydens Dokumentation ‚Lauffeuer‘ (1) nicht, und nicht das Buch Brennendes Gewissen‘ (2) (der Autor: Oleg Mozyka), ist das Entsetzen, mit dem man solchen Ereignissen im Livestream folgt. Der Stream, der mich vor meinen Computer bannte, kam von der Krim, und lief über ein Programm, das eigentlich als Plattform zum Pokern gedacht war; rechts neben den Videos lief ein Chat auf Russisch. Diesen Chat konnte ich immer wieder in Übersetzungsprogramme kopieren und auf diese Weise erfahren, was genau ich gesehen hatte.

An jenem Tag, während das Gewerkschaftshaus brannte, während Menschen aus den Fenstern sprangen, um sich vor dem Feuer zu retten, nur um unten von den Nazis des Rechten Sektors erschlagen zu werden, vor den Kameras anderer Nazis; als die Mörder begeistert zwischen den verkohlten Leibern ihrer Opfer durchs Gebäude stapften und das Bild weiter in die Welt hinaus schickten, an jenem Tag gab es einen Satz, der im Chat immer wieder und wieder auftauchte: „Heute ist die Ukraine für mich gestorben.“

Bis zum zweiten Mai wäre, das deutet dieser Satz an, die Entwicklung hin zum Bürgerkrieg noch aufzuhalten gewesen. Die Toten von Odessa, überwiegend Frauen und Ältere, haben das geändert. Denn die Ereignisse und die Tage, die darauf folgten, vermittelten zwei Botschaften. Dass die neue Regierung der Ukraine keinen Handschlag tun würde, um den russischsprachigen Teil der Bevölkerung vor den Nazis zu schützen, und dass ihre europäischen Verbündeten ihr Carte Blanche erteilten, mit den Menschen des Südostens umzugehen, wie es ihr gefiele.

Denn da liegt der zweite Bruch, den das Massaker von Odessa geschaffen hat. Das ist der Bruch zwischen der offiziellen deutschen Erzählung und dem tatsächlichen Handeln deutscher Regierungen gegenüber der Ukraine; die Verantwortung, die die deutsche Politik für den fünfjährigen Krieg im Donbass trägt.

Denn man muss, um Verantwortung zu erkennen, nicht auf Verschwörungen zurückgreifen oder konkrete Kommandostrukturen belegen. Man muss nur jene Momente in der Entwicklung betrachten, an denen ohne allzu große Probleme ein anderes Handeln, eine andere Reaktion möglich gewesen wären.

Der erste derartige Moment war die Anerkennung der Putschregierung durch die Bundesregierung im Februar 2014. Da der damalige Außenminister Steinmeier mit seinem französischen und polnischen Kollegen ein Abkommen zwischen der Regierung Janukowitsch und der Opposition ausgehandelt hatte, bestand keine Notwendigkeit, die an die Macht geputschten Herrschaften anzuerkennen. Nicht einmal, wenn man den Assoziierungsvertrag mit der EU für ein übergeordnetes Ziel hält – vorzeitige Wahlen waren ja in diesem Abkommen bereits festgelegt.

Nun kann man immer noch entschuldigend sagen, es sei nicht klar gewesen, in welche Richtung sich diese Regierung entwickelt. Deutsche Fernsehjournalisten, die monatelang den Maidan umlagert hatten, hätten zwar im Stande sein müssen, Wolfsangeln und Hakenkreuze zu erkennen, wenn Maidan-Aktivisten sich mit ihnen schmückten, aber gut, sagen wir einmal, sie hätten nichts gemerkt.

Aber am zweiten Mai? Als eine ‚Heil der Ukraine‘ schreiende Meute vor dem Gewerkschaftshaus von Odessa stand, während drinnen Türen aufgebrochen wurden, Menschen erschossen, erschlagen, erwürgt, verbrannt wurden? Konnte man da tatsächlich  noch sagen, man hatte nichts gemerkt? Ist es glaubhaft, dass weder die Auslandskorrespondenten der deutschen Medien noch der deutsche Auslandsnachrichtendienst diese Ereignisse beobachtet haben, im Livestream, so wie Tausende anderer? Dass ihnen selbst danach die ausführliche Berichterstattung in den russischen Medien und die noch ausführlichere im Internet völlig entgangen ist? Auch die öffentlichen Aussagen ukrainischer Politiker in den dortigen Medien, wie jene der damaligen Präsidentschaftskandidatin Timoschenko, die die Mörder für den Mut lobte, mit dem sie öffentliche Gebäude verteidigt hätten?

Nein, natürlich ist ihnen das nicht entgangen. Selbstverständlich laufen all solche öffentlich verfügbaren Informationen durch den Analyseapparat der Dienste und landen, zur Lage kondensiert, auf dem Schreibtisch der politisch Verantwortlichen.

Die Tagesschau widmete dem Ereignis am 02. Mai ganze drei Sätze:

Nach Angaben der Polizei starben mindestens 38 Menschen bei einem Feuer, das bei Kämpfen zwischen prorussischen Kräften und ukrainischen Regierungsanhängern in einem Gewerkschaftsgebäude ausgebrochen war. Einige von ihnen seien vom Rauch erstickt worden, andere seien aus dem Fenster gesprungen und dadurch gestorben. Das Feuer sei auf „kriminelle Brandstiftung“ zurückzuführen, so die Polizei“ (3).

Man stelle sich einmal vor, es hätte eine Sondersendung über Odessa gegeben. Die Zeitungen hätten darüber berichtet, Interviews mit Überlebenden geführt, womöglich einige der Täter ausfindig gemacht. Ja, es wäre klar geworden, dass der Maidan ein demokratisch höchst zweifelhaftes Unterfangen war, vorsichtig formuliert. Aber hätte es der Bundesregierung ernsthaft geschadet, wenn nach dem zweiten Mai vor fünf Jahren ein Fehler eingestanden worden wäre und man sich bemüht hätte, auf die Sicherheit der russischsprachigen Ukrainer zu dringen oder die Auflösung der faschistischen Organisationen Swoboda und Rechter Sektor zu fordern? Vermutlich nicht. Hätte es ein solches Handeln gegeben, dann wäre es in der Folge nicht zum Bürgerkrieg gekommen.

Aber es geschah nichts, und die Ereignisse von Odessa wurden mit Schweigen verdeckt.

Am elften Mai reiste Bundesaußenminister Steinmeier in die Ukraine; nicht nur nach Kiew, sondern auch nach Odessa. Zuvor hatte er geäußert, er wolle mit niemandem sprechen, der Blut an den Händen habe… den Gouverneur von Odessa, der das Massaker öffentlich begrüsst hatte, traf er dennoch, und die geplante Kranzniederlegung am Gewerkschaftshaus unterblieb; der grünen Kriegstreiberin Marie-Luise Beck, die leidenschaftlich mit den Anhängern ukrainischer Nazi-Hilfstruppen schmust, war das nicht genug – er hätte der Opfer ‚prorussischer Separatisten‘ in Odessa gedenken sollen…

Der zweite Mai stellte die Weiche in Richtung Bürgerkrieg. Am neunten Mai schoss die Nationalgarde, eine Truppe, in die viele der Nazi-Gruppen integriert worden waren, in Mariupol erst die Polizeiwache in Brand, weil die Polizei dort sich weigerte, auf Einwohner zu schießen, die den Tag des Sieges feierten, und dann feuerte sie wahllos in die Menge. Die Stadt Slawjansk wurde mit Raketenwerfern beschossen und aus Flugzeugen bombardiert. Im Sommer wurde dann alles eingesetzt, was das Arsenal hergab, bis zu Totschka-U-Raketen (die NATO nennt sie SS 21); Raketen mit einem Sprengkopf von einer halben Tonne, deren Schrapnelle eine Fläche von zweihundert Hektar geradezu rasieren können. Zum Glück sind die meisten dieser Raketen, die auf die Städte Donezk und Lugansk gerichtet wurden, nicht explodiert…

Nichts davon wurde in Deutschland berichtet. Die Decke des Schweigens wurde von Monat zu Monat größer; sie bedeckte nicht länger nur die Toten im Gewerkschaftshaus von Odessa, sie bedeckt bis heute die meisten Opfer des Bürgerkriegs, deren Zahl bei einem Vielfachen der von der OSZE genannten Zehntausend liegen dürfte; sie verhüllt die Vorgeschichte, die Ursache des Bürgerkriegs, mit der sich die ganze Erzählung von ‚russischer Aggression‘ in Rauch auflöst.

Der Krieg im Donbass, der ohne das Schweigen zu Odessa nie begonnen hätte, macht jede Erklärung, die EU stünde für Frieden, zur Farce. Die Verherrlichung der Nazi-Kollaborateure in der heutigen Ukraine gibt jede Bekundung, man stünde ‚gegen Hass‘, ‚gegen Rechts‘ oder gar gegen Nazismus, der Lächerlichkeit preis. Dieser Weg wurde willentlich eingeschlagen, dieser Krieg in Berlin gewünscht, und bis heute gibt es keine Anzeichen einer Korrektur.

Jenen aber, die, durch welchen Zufall auch immer, das Massaker in Odessa gesehen haben, haben sich die Bilder tief ins Gedächtnis gegraben, mit dem Auftrag, das Schweigen endlich zu brechen.

Die Asche brennt auf meiner Brust.

Quellen:

  1. https://www.youtube.com/watch?v=LXRIuVNGmds
  2. https://www.eulenspiegel.com/verlage/verlag-am-park/titel/oleg-muzyka-saadi-isakov-lilia-bersuch-und-frank-schumann.html
  3. https://www.anti-spiegel.ru/2019/die-tragoedie-von-odessa-vom-2-mai-2014-alle-details-in-chronologischer-reihenfolge/

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