Die Absurdität des Rechtslegalismus
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Beim Lesen von Ferdinand Lassalles Werken stieß mir ins Auge, wie sehr er legalistische Anschauungen vertrat und sie ins Zentrum rückte. Für Lassalle besteht erst ein Problem in der Herrschaft der Ausbeuter, wenn es formalrechtlich festgeschrieben ist1. Das dreht natürlich das Verhältnis von Recht und Praxis auf den Kopf, negiert die praktische Tat für ein Stück Papier. Solche Verdrehungen der Realität ziehen sich durch sein gesamtes Schaffen.
So setzte Lassalle durch und durch auf Reformismus, wie eine Vorlage an Bismarck belegt2. Und nicht nur dort zeigte sich das; Lassalle legte es in aller Öffentlichkeit dar. So zum Beispiel in seinem „Offenen Antwortschreiben“ vom 1. März 1863, in welchem er die Notwendigkeit einer Partei des Proletariats darlegte. Er schrieb: „Der Arbeiterstand muß sich als selbstständige politische Partei konstituieren…“ Das klingt aus marxistischer Sicht natürlich gut, ist die Grundlage für eine Avantgarde. Problematisch wird der Nachsatz, der folgende Zielsetzung anmerkt: „…und das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht zu dem prinzipiellen Losungswort und Banner dieser Partei machen.“3 Diese Position fand sich schon einige Monate früher in seinen Werken4, nur ohne die selbstständige Partei der Arbeiterklasse. Die Forderung der selbstständigen proletarischen Partei war seine größte Errungenschaft, zugleich aber war sie für ihn zwar etwas Neues der Form nach, aber nicht dem Inhalt, wie seine Forderungen belegen, die nicht mehr als Sozialliberalismus bedeuten. Trotz dieser Fehlerhaftigkeit ist interessant, dass Lassalle einen richtigen Denkansatz über die Diktatur der Bourgeoisie besaß, diesen aber durch mentale Inkonsequenz nicht völlig durchdachte. Wie verhält es sich mit einer Verfassung, die niemand umsetzt? Sie ist in der Praxis tot, wirkungslos. Anhand des Falls, dass alle Gesetzestexte über Nacht verschwinden würden, macht Lassalle klar, dass die politische Gewalt aus der physischen Gewalt entstammt: „Sie sehen, meine Herren, ein König, dem das Heer gehorcht und die Kanonen – das ist ein Stück Verfassung!“5 Auch in seiner zweiten Rede über das Verfassungswesen sprach Lassalle über diesen Kerngedanken und führte ihn etwas weiter aus, als er im Kontext des Absolutismus, dem die Bourgeoisie gegenübertrat, davon sprach, dass die „herrschende elementarische Macht“ ein „ihr Gleiches und nach ihrem Ebenbilde erzeugt“6, im Bezug auf die Regierungsform, womit er zum zweiten Male die Frage der Klassendiktatur anschnitt. Diesen grundlegenden Gedanken führte Lassalle nicht konsequent zu Ende, weshalb er den Reformismus als valide ansah, was ein bloßer Ausdruck des Rechtslegalismus ist. Aber das Problem des Nichtdurchdenkens drückte sich nicht bloß in seinem Rechtslegalismus aus.
Allgemein hat Lassalle ein sehr idealistisches Weltbild. Er negiert auch, dass die Bourgeoisie über die Arbeiterklasse mithilfe der Medien einen ideologischen Einfluss auf diese ausübt7, verneint also die ideologische Hegemonie. Der berühmte Ausspruch von Marx und Engels „Die herrschenden Ideen einer Zeit waren stets nur die Ideen der herrschenden Klasse.“8 trifft aber auch hier zu, und zwar gegen Lassalle selbst: Seine Anschauungen waren bürgerlich-reformistisch. Ihm fiel es nicht mal auf, dass die bürgerlichen Ideen die Arbeiterklasse betrafen, weil er sie selbst als Normalität wahrnahm. Deshalb die Versuche, wie ein Liberaler, bloß Reformen durchzudrücken, statt die Diktatur der Bourgeoisie zu beseitigen. Das zeigt, warum er zwar ein organisatorischer Mitbegründer der SPD gewesen ist, aber keineswegs als ihr geistiger Vater gelten kann: Er strebte nach einer Partei, die der Form nach proletarisch, dem Inhalt nach bürgerlich ist. Reformismus ist ein Ausdruck des Rechtslegalismus, weil er die bürgerliche Verfassung als Manifestation einer „reinen Demokratie“ betrachtet und die Diktatur der Bourgeoisie ausblendet, weil sie nicht formell in Gesetzestexten zu finden ist.
Manche Genossen begehen ebenfalls legalistischen Fehler. Stand nicht etwa noch unter Honecker Kritik und Selbstkritik im Statut der SED9, wie es noch unter Ulbricht der Fall war? Es wurde aber nicht mehr praktiziert10, obwohl es zitierfähig mit Tinte auf Papier gedruckt dastand. Was nützt einem ein Stück Papier mit schwarzer Tinte, wenn die reale Praxis anders abläuft? Nicht anders ist es in bürgerlichen Verfassungen, wo gerne Gummiparagraphen eingefügt werden, aus denen keine praktischen Rechtsansprüche entstehen, die also schön klingen, aber keine praktische Anwendung finden. Deshalb sind Verfassungen sozialistischer Länder meist deutlich kürzer, als die von bürgerlichen Staaten: Man hatte nur konkrete Rechtsbegriffe, keine leeren Füllparagraphen. Das Grundgesetz kennt zum Beispiel den Widerstandsparagraphen, Artikel 20 Absatz 4: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“11 Es wird von vielen so dargestellt, als hätte man damit eine Lehre aus der Beseitigung der formalen bürgerlichen Demokratie durch Hitler gezogen. Aber was wäre gewesen, wenn die Weimarer Republik diesen Paragraphen in der Verfassung bereits gehabt hätte? Es hätte nichts geändert, denn der Staatsapparat war in den Händen der Nazis, ganz zu schweigen von der Bourgeoisie im Hintergrund. Sie legten fest, ob dieser Paragraph seine rechtliche Berechtigung hatte oder nicht. „Die politische Macht kommt aus den Gewehrläufen.“12, wie Mao Tsetung einst sagte. So ist es doch. Selbst wenn sich die Mehrheit der Bevölkerung gegen die Errichtung des Faschismus, somit gegen die Beseitigung der formalen bürgerlichen Demokratie erheben sollte, so wird dies keineswegs friedlich verlaufen, es sei denn, die Bourgeoisie gibt einfach auf. Das bedeutet aber, dass ein Kampf gegen den bürgerlichen Staatsapparat stattfinden muss, wenn nicht, wie im Falle der Nelkenrevolution in Portugal, die Bourgeoisie vom Faschismus zurücktritt und ein paar Demagogen vorschickt, um die Massen zu beschwichtigen. Das bedeutet dann aber, dass die Massen vom Widerstand zurücktreten würden. Dieses formale Recht ist also nicht durch irgendetwas praktisch geschützt, es ist ein reiner Moralappell. Es hat nur so viel Gewicht, wie der konkrete Widerstand der Massen, sie legitimieren sich also selbst als Volkssouverän. Auf der anderen Seite hat er einen praktischen Nutzen und zwar als Mobilisierungsaufruf des bürgerlichen Staates gegen eine Revolution, denn diese hat natürlich auch die Beseitigung der formalen bürgerlichen Demokratie als Ziel, samt den bürgerlichen Staat an sich. In dieser Hinsicht ist es gewissermaßen ein Aufruf zum Partisanenkampf gegen sozialistische Revolutionäre. Es ist also ein Gesetz, dass formell allgemein gefasst ist, in der Praxis jedoch nur einen spezifischen Nutzen hat für den bürgerlichen Staatsapparat. Es ist wie das Recht auf Privateigentum: Formell geschrieben für jedermann, faktisch geschrieben nur für diejenigen, die das nötige Kapital besitzen. Lenin sagte einst: „Jedes Recht besteht in Anwendung von gleichem Maßstab auf ungleiche Individuen.“13 Das bürgerliche Recht macht scheinbar alle „gleich“, aber manche „gleicher“ als andere. Besser ausgedrückt könnte man auch sagen: Das Recht gleicht sich jedem an, der auf dieses angeglichen ist von den zutreffenden Bestimmungen.
Wenn in einem Buch zur Geschichte des Komsomol geschrieben steht „Der demokratische Charakter des Komsomollebens äußert sich in Wählbarkeit, Pflicht der Rechenschaftslegung und Absetzbarkeit aller Komsomolorgane.“14, so ist damit die formelle Seite abgehandelt, die nichts über die praktische Anwendung aussagt. Der Widerspruch zwischen Recht und Praxis ist der dialektische Widerspruch zwischen einem Sollzustand und einem Istzustand. Nicht anders verhält es sich mit dem Recht in bürgerlichen Ländern. Jedes zu Papier gebrachte Recht ist nur so viel wert, wie es in der Praxis angewendet wird und das hängt primär von der herrschenden Klasse ab. Wenn es sich um eine rechtlich festgeschriebene Konzession der herrschenden Klasse an die ausgebeutete Klasse handelt, so versucht die herrschende Klasse nach Möglichkeit diese Konzession zu revidieren. Das konnte man zum Beispiel bei den Hartz-IV-Reformen und der Agenda 2010 erleben, dass die Arbeitslosenhilfe nicht in Stein gemeißelt gewesen ist. Ähnlich ist es bei der Frage, wer für die gesetzlichen Versicherungsbeiträge aufkommen muss. Hinter der praktischen Umsetzung von Gesetzen steckt also auch Klassenkampf, denn sonst würden diese von Anfang an nur ein Papier in einem staubigen Aktenordner sein. Wir müssen uns also als unsere „persönliche Verfassung“ das proletarische Klasseninteresse nehmen und die Erkenntnismethodik der objektiven Realität, den dialektischen Materialismus. Man ersieht, warum Wilhelm Liebknecht einst die Einschätzung über Lassalle abgab: „Ich glaube nicht, daß er auf die Karte der Revolution setzen wird.“15 Das hängt wohl auch mit der Kollaboration von Lassalle mit Bismarck zusammen16. Wilhelm Liebknecht bezeichnete das als „Liebäugeln mit der Reaktion“17. Die Grundlage dafür bildete eine idealistische Weltanschauung.
Die Schlussfolgerung lautet also: Wir müssen den praktischen Notwendigkeiten entsprechend handeln und dürfen nicht gebetsmühlenartig Paragraphen herunterbeten!
1Vgl. „Arbeiterprogramm“ (12. April 1862/Anfang Januar 1863) In: Ferdinand Lassalle „Reden und Schriften“, Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig 1987, S. 204/205.
2Siehe: Lassalle an Bismarck (16. Januar 1864) In: Gustav Mayer „Bismarck und Lassalle – Ihr Briefwechsel und ihre Gespräche“, J. H. W. Dietz Verlag, Berlin 1928, S. 81 ff.
3„Offenes Antwortschreiben an das Zentralkomitee zur Berufung eines allgemeinen deutschen Arbeiterkongresses zu Leipzig“ (1. März 1863) In: Ferdinand Lassalle „Reden und Schriften“, Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig 1987, S. 231.
4Siehe: „Arbeiterprogramm“ (12. April 1862/Anfang Januar 1863) In: Ebenda, S. 220.
5„Über Verfassungswesen“ (16. April 1862) In: Ebenda, S. 126.
6„Was nun?“ (19. November 1862) In: Ebenda, S. 166.
7Vgl. „Rheinische Rede“ (20./27./28. September 1863) In: Ebenda, S. 288.
8„Manifest der Kommunistischen Partei“ (Dezember 1847/Januar 1848) In: Karl Marx/Friedrich Engels „Werke“, Bd. 4, Dietz Verlag, Berlin 1977, S. 480.
9Siehe: „Statut der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“, Dietz Verlag, Berlin 1976, S. 8.
10Siehe: Kurt Gossweiler „Wie konnte das geschehen?“, Bd. II, KPD/Offen-siv, Bodenfelde 2017, S. 226.
12„Probleme des Krieges und der Strategie“ (6. November 1938) In: Mao Tse-tung „Ausgewählte Werke“, Bd. II, Verlag für fremdsprachige Literatur, Peking 1968, S. 261. Siehe auch: „Bemerkungen zum Bericht des Repräsentanten der Internationale auf der Notfallkonferenz des 7. August“ (7. August 1927) In: „Mao´s Road to Power“, Vol. III, M. E. Sharpe, Armonk (New York)/London 1995, S. 31, Englisch. Hier machte Mao diesen Ausspruch zum ersten Mal.
13„Staat und Revolution“ (August/September 1917) In: W. I. Lenin „Werke“, Bd. 25, Dietz Verlag, Berlin 1974, S. 479.
14„Der Leninsche Kommunistische Jugendverband“, Verlag Progress, Moskau 1975, S. 313.
15Wilhelm Liebknecht an Karl Marx (3. Juni 1864) In: Wilhelm Liebknecht „Briefwechsel mit Karl Marx und Friedrich Engels“, Mouton & Co, Den Haag 1963, S. 34.
16Siehe: Gustav Mayer „Bismarck und Lassalle – Ihr Briefwechsel und ihre Gespräche“, J. H. W. Dietz Verlag, Berlin 1928, S. 59 ff.
17„Politische Nachrichten – Deutschland“ (9. März 1865) In: Wilhelm Liebknecht „Leitartikel und Beiträge in der Osnabrücker Zeitung 1864 – 1866“, August Lax Verlagsbuchhandlung, Hildesheim 1975, S. 322.