Der reaktionäre Charakter des Drittweltlertums

 Der Beitrag kann hier als PDF heruntergeladen werden.

Verehrte Leser, nachfolgend bieten wir euch ein Thesenpapier dar, das ein Autorenkollektiv aus drei Genossen gegen die revisionistische Theorie des Drittweltlertums zusammengestellt hat.

Einleitung

Das Drittweltlertum stellt die kühne Behauptung auf, dass die Bourgeoisie die Arbeiterklasse ihres eigenen Landes durchfüttern würde und es sogar einen „gerechten Lohn“ gäbe, weil es ja angeblich allen gut ginge innerhalb der imperialistischen Länder. Es gibt somit dieser Theorie nach keinen Klassenkampf in den imperialistischen Länder. Stimmt das? Natürlich nicht. Da ein einfaches „Nein“ keine vollständige Antwort ist, folgt nun eine Analyse der einzelnen Aspekte dieser reaktionären Theorie.

Die Klassenlage im heutigen bürgerlichen deutschen Staat

Die Klassenlage im heutigen bürgerlichen deutschen Staat Wie in einem jeden wissenschaftlichen Fachbereich und jeder fachlichen Auseinandersetzung ist eine verständliche und konkrete Fachsprache eine zwingende Notwendigkeit, um ein zielführendes Arbeiten zu ermöglichen. Dies betrifft nicht nur das Gebiet der Physik, Chemie oder Mathematik, oder der Naturwissenschaft im Allgemeinen, sondern jegliche Bemühungen die materielle Welt und ihre Bewegung und Entwicklungen zu erklären. Dazu gehört auch der wissenschaftliche Sozialismus, der den historischen und dialektischen Materialismus und die politische Ökonomie in sich einschließt. Bevor wir uns also tiefgehender mit der Lage der deutschen Arbeiterklasse beschäftigen, sollten wir vorerst unsere Begrifflichkeit der „Klasse“ beleuchten. So ist das Verständnis der „Klasse“ ein wichtiger Teil der marxistischen Theorie und für eine Untersuchung der Klassenlage ausschlaggebend. Der Begriff der „Klasse“ wurde und wird auch stets noch von bürgerlichen Demagogen oder revisionistischen Strömungen verdreht und verzerrt, weswegen wir der „Klasse“ hier ein paar zusätzliche Seiten widmen. Wir wissen, dass es ohne revolutionäre Theorie auch keine revolutionäre Bewegung geben kann1, weswegen es wichtig ist den Terminus Technicus genau zu definieren. Jegliche Verzerrung und Verwischung eines marxistischen Verständnisses der Klasse führt schlussendlich zu einem weiteren Schlag gegen eine revolutionäre und materialistische Theorie und somit folglich zur Schwächung der Arbeiterbewegung selbst. Die nächste Frage die wir uns zuvor also Stellen müssen lautet wie folgt: „Was bildet eine Klasse?“ Die Antwort auf diese Frage bekommen wir durch die Beantwortung nach der Frage was die „Lohnarbeiter, Kapitalisten, Grundeigentümer zu Bildnern der drei großen gesellschaftlichen Klassen“2 macht? „Auf den ersten Blick die Dieselbigkeit der Revenuen und Revenuequellen. Es sind drei große gesellschaftliche Gruppen, deren Komponenten, die sie bildenden Individuen, resp. von Arbeitslohn, Profit und Grundrente, von der Verwertung ihrer Arbeitskraft, ihres Kapitals und ihres Grundeigentums leben. Indes würden von diesem Standpunkt aus z.B. Ärzte und Beamte auch zwei Klassen bilden, denn sie gehören zwei unterschiednen gesellschaftlichen Gruppen an, bei denen die Revenuen der Mitglieder von jeder der beiden aus derselben Quelle fließen. Dasselbe gälte für die unendliche Zersplitterung der Interessen und Stellungen, worin die Teilung der gesellschaftlichen Arbeit, die Arbeiter wie die Kapitalisten und Grundeigentümer – letztre z.B. in Weinbergsbesitzer, Äckerbesitzer, Waldbesitzer, Bergwerksbesitzer, Fischereibesitzer – spaltet.“3

Als Klassen bezeichnet man große Menschengruppen, die sich voneinander unterscheiden nach ihrem Platz in einem geschichtlich bestimmten System der gesellschaftlichen Produktion, nach ihrem (größtenteils in Gesetzen fixierten und formulierten) Verhältnis zu den Produktionsmitteln, nach ihrer Rolle in der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit und folglich nach der Art der Erlangung und der Größe des Anteils am gesellschaftlichen Reichtum, über den sie verfügen. [Hervorgehoben durch N.N.] Klassen sind Gruppen von Menschen, von denen die eine sich die Arbeit der andern aneignen kann infolge der Verschiedenheit ihres Platzes in einem bestimmten System der gesellschaftlichen Wirtschaft.“4

Die „Größe des Anteils am gesellschaftlichen Reichtum“ bestimmter Personengruppen wird im Kapitalismus vom Verhältnis zu den Produktionsmitteln bestimmt. Da es eine besitzende Minorität gibt, die sich den – durch die besitzlose Majorität produzierten – Mehrwert aneignet. Die “Größe des Anteils” der bestimmten Menschengruppen zukommt ist somit bloß eine Folge anderer Verhältnisse. Es stellt sich nun die Frage was diese Verhältnisse sind? Wie auch bereits aus den obigen Worten Lenins herausgeht ist es das „Verhältnis zu den Produktionsmitteln“. Es ist genau das Verhältnis zu den Produktionsmittel, das die menschliche Gesellschaft in Ausbeuter und Ausgebeutete, in Besitzende und Besitzlose teilt. Also rekapitulieren wir das ganze nochmal kurz. Was lässt sich zusammengefasst über den Begriff der „Klasse“ sagen?

Also was sind Klassen überhaupt? Es folgt daraus, dass sie das sind, „was es einem Teil der Gesellschaft erlaubt, sich die Arbeit des anderen Teils anzueignen.“ Es sind die Produktionsmittel – die Maschinerie, das Gebäude, oder das Halbfabrikat das im Produktionsprozess Anwendung findet. Dies sollte an sich verständlich sein, denn „wenn sich ein Teil der Gesellschaft den gesamten Grund und Boden aneignet, so haben wir die Klassen der Gutsbesitzer und der Bauern“, die in der Lage sind dieses Land zu verpachten oder andere für sich darauf arbeiten zu lassen. „Wenn ein Teil der Gesellschaft Fabriken und Werke, Aktien und Kapitalien besitzt, während der andere Teil in diesen Fabriken arbeitet, so haben wir die Klassen der Kapitalisten und der Proletarier.“5

Also nun wo wir unseren Terminus Technicus haben, was können wir über die „Klassen“ im jetzigen Deutschland sagen? Gibt es das Proletariat und die Bourgeoisie nicht mehr, und wurde eine Mehrheit der Arbeiter bereits zu einer „bourgeoisieartigen“ Arbeiteraristokratie? Die Antwort ist klar und deutlich — nein! Die heutige deutsche gesellschaftliche und sozioökonomische Tribüne wird immer noch von zwei Hauptakteuren geteilt – der Arbeiterklasse und der Bourgeoisie. Die besitzlose Mehrheit hat immer noch keine andere Möglichkeit als seine Arbeitskraft unter ihrem Wert an die besitzende Minorität zu verkaufen. Ihr bleibt weiterhin nichts übrig als sich wie Vieh ausbluten zu lassen. „Die Kapitalbesitzer, die Grundbesitzer, die Fabrikbesitzer stellten und stellen in allen kapitalistischen Staaten eine verschwindende Minderheit der Bevölkerung dar, die restlos über die gesamte Arbeit des Volkes verfügt und folglich die ganze Masse der Werktätigen, von denen die Mehrzahl Proletarier, Lohnarbeiter sind, die ihren Lebensunterhalt im Produktionsprozeß nur durch den Verkauf ihrer Arbeitshände, ihrer Arbeitskraft erwerben, unter der Fuchtel hält, sie unterdrückt und ausbeutet.“6

Die aus den Klassen resultierenden antagonistischen Klasseninteressen lassen sich tagtäglich erkennen. Die Angriffe der herrschenden Klasse auf Zusprüche, die gar oftmals zu Zeiten einer starken Arbeiterbewegung erkämpft wurden. So beispielsweise die Gespräche über „Flexibilisierung der Arbeitszeit“ oder die Anhebung des Rentenalters. Die Bourgeoisie führt an allen möglichen Fronten einen erbitten Kampf gegen die erkämpften Rechte der Arbeiter. So kommt es das viele bürgerliche Vertreter der deutschen Wirtschaft mit unterschiedlichen Forderungen ins Feld ziehen und fordern das Renteneintrittsalter auf 69 oder auf gar 73 Jahre anzuheben. Zur selben Zeit nimmt die Zentralisation des Kapitals ihren Lauf7. Die Großunternehmen akkumulieren einen immer größeren Reichtum während die Löhne der normalen Arbeiter seit mehreren Jahren stagnieren8 und das führt unweigerlich zu der Verschärfung der Ungleichverteilung9. Während die Zentralisation voranschreitet, verdrängen die Monopole das Kleinbürgertum und d. h. dass in Folge der stärkeren Konkurrenz viele Kleinbürger die ein Teil der Mittelschicht darstellen ins Proletariat hinab fallen10.

Wir haben also gesehen wie sich die Bourgeoisie den Arbeitern entgegenstellt und haben gesehen inwiefern sich die Lage der deutschen Arbeiterklasse verschlechtert, oder stagniert und “so kam es, daß die ersten Reichtum akkumulierten und die letztren schließlich nichts zu verkaufen hatten als ihre eigne Haut. Von diesem Sündenfall datiert die Armut der großen Masse, die immer noch, aller Arbeit zum Trotz, nichts zu verkaufen hat als sich selbst, und der Reichtum der wenigen, der fortwährend wächst, obgleich sie längst aufgehört haben zu arbeiten.”11

Die Konsequenzen für die deutsche Arbeiterbewegung

Also was können wir aus der Lage der deutschen Proletarier ziehen und was heißt das im Umkehrschluss für das weitere vorgehen? Wir sehen das die Vorstellungen eines Proletariats, dass vom Imperialismus profitiert weitestgehend absurd sind. Das besitzlose deutsche Proletariat ist weiterhin dazu gezwungen für seine besitzenden Herren zu arbeiten und hat auch mit Angriffen seitens der Bourgeoisie und ihrem Staatsapparat zu rechnen. Der deutsche Proletarier hat weiterhin mehr mit seinen britischen, französischen, oder russischen Bundesgenossen gemein, als mit den Exploteuren innerhalb des bürgerlichen Staates. Das Klasseninteresse der deutschen Werktätigen ist eher dem Interesse der ausländischen Proletarier gleich.

Die Geschichte zeigt, daß der Staat als besonderer Apparat der Zwangsanwendung gegen Menschen erst dort und dann entstand, wo und wann die Teilung der Gesellschaft in Klassen in Erscheinung trat – also eine Teilung in Gruppen von Menschen, von denen die einen sich ständig die Arbeit der anderen aneignen können, wo der eine den anderen ausbeutet. Diese geschichtliche Teilung der Gesellschaft in Klassen müssen, wir uns als die grundlegende Tatsache stets klar vor Augen halten.“12

Genauso abwegig und naiv ist die Vorstellung, das deutsche Proletariat habe primär die Aufgabe die Bourgeoisie eines anderen Staates zu bekämpfen, da es kein revolutionäres Potential im eigenen Land gebe. Da stellt sich bereits die Frage inwiefern die deutsche Arbeiterbewegung einen Feind außerhalb seiner Grenzen bekämpfen soll, wenn diese nicht einmal genügend Potenzial vor Ort besitzt. Es lässt des weiteren die Frage im Raum stehen, wer den Klassenkampf in Deutschland führen soll, wenn nicht die deutschen Arbeiter selbst? Es lässt die Frage offen wer dem deutschen Imperialismus in seinem Herzen entgegenstehen soll, wenn nicht das deutsche Proletariat. Es ist wichtig, unseren Genossen auf dem gesamten Erdball, an allen Fronten, Solidarität zu zeigen. Es ist wichtig ihnen unseren Beistand zu leisten und sie beim Kampf gegen Unterdrückung und Ausbeutung zu unterstützen. Dies kann allerdings nicht dadurch erreicht werden sämtliche Verantwortung an der deutschen Arbeiterbewegung abzulegen und sich in die Reihen der indischen oder philippinischen Guerillas einzureihen. Eine solche Spekulation, Spontanität, und Ungewissheit des Erfolges kostet und das Leben guter Genossen. Um unsere Genossen in der restlichen Welt zu unterstützen muss, dass deutsche Proletariat in erster Linie den Kampf gegen die eigene Bourgeoisie organisieren Es muss Klassenkampf im Rahmen seiner Möglichkeiten und im eigenen Land führen. Wir Kommunisten müssen den Klassenkampf in Deutschland organisieren ohne in Spontanität zu verfallen, dazu gehört auch ein Maß an Verantwortungsbewusstsein. Wir sind keine Anarchisten und handeln geplant und organisiert. Denn der Hauptfeind eines jeden Volkes steht in seinem eigenen Land, und so müssen wir auch handeln!

Der Hauptfeind des deutschen Volkes steht in Deutschland: der deutsche Imperialismus, die deutsche Kriegspartei, die deutsche Geheimdiplomatie. Diesen Feind im eigenen Lande gilt´s für das deutsche Volk zu bekämpfen, zu bekämpfen im politischen Kampf, zusammenwirkend mit dem Proletariat der anderen Länder, dessen Kampf gegen seine heimischen Imperialisten geht. Wir wissen uns eins mit dem deutschen Volk – nichts gemein haben wir mit den deutschen Tirpitzen und Falkenhayns, mit der deutschen Regierung der politischen Unterdrückung, der sozialen Knechtung. Nichts für diese, alles für das deutsche Volk. Alles für das internationale Proletariat, um des deutschen Proletariats, um der getretenen Menschheit willen! Die Feinde der Arbeiterklasse rechnen auf die Vergeßlichkeit der Massen – sorgt, daß sie sich gründlich verrechnen! Sie spekulieren auf die Langmut der Massen – wir aber erheben den stürmischen Ruf: Wie lange noch sollen die Glücksspieler des Imperialismus die Geduld des Volkes mißbrauchen? Genug und übergenug der Metzelei! Nieder mit den Kriegshetzern diesseits und jenseits der Grenze!“13

Um den Klassenkampf in Deutschland zu führen, müssen wir aber vorerst die Arbeiterbewegung organisieren. Wir müssen mit gezielter Propaganda und Agitation die deutschen Werktätigen organisieren. Wir müssen den politischen und ökonomischen Kampf vorantreiben und die Arbeiterklasse im Kampf gegen die Ausbeuterklasse stärken, genauso wie sie sich bereits für die nächsten Kämpfe rüstet. So sahen wir erst neulich wie sich die bürgerliche Polizei in beispielsweise Baden-Württemberg, Bayern, Nordrhein-Westfalen und jüngst in Brandenburg durch die neue und strengere Polizeigesetze sich neue Möglichkeiten für Repressionen ergeben14. Das zeigt dass wir nur in der Lage sind den Klassenkampf als vereinte und organisierte Klasse zu gewinnen. Wir sehen also, dass die naiven „Revolutionäre“ die den Klassenkampf oder die Klassen in Deutschland leugnen, der deutschen Arbeiterbewegung den Rücken kehren. Sie verlassen den realen Klassenkampf und verfallen in bloße Phrasendrescherei. Es läuft darauf hinaus dass diese Personen unter dem Mantel von revolutionären Parolen, die Notwendigkeit des Klassenkampfs im eigenen Land negieren. Sie nehmen so eine reaktionäre und arbeiterfeindliche Position in Bezug auf die deutsche Arbeiterbewegung ein.

Die Ausbeutung in den imperialistischen Ländern selbst und die Kolonien

Gibt es Ausbeutung in der „Ersten Welt“, den imperialistischen Ländern und wem kommt der extrahierte Mehrwert aus der „Dritten Welt“, den Kolonien, zugute? Gregor Gysi sagte vor ein paar Jahren: „Wir leben auf Kosten der Dritten Welt und wundern uns, wenn das Elend anklopft.“15 Also beuten „wir“ alle, Prolet und Bourgeois Hand in Hand, die Kolonien aus, ist die „Sozialpartnerschaft“ also eine Realität? Dem ist nicht so, es ist eine Behauptung aus der Trickkiste der Kapitalismusapologeten.

Fangen wir mit dem Mythos des „gerechten Lohns in der Ersten Welt“ an. 2017 lag das Durchschnittsgehalt brutto bei Vollzeitbeschäftigen in Deutschland bei 3.770€, bei Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigen bei 2.860€ und netto bei Voll- und Teilzeitbeschäftigten bei 1.890€16. Dabei fehlen die Empfänger von Arbeitslosengeld, es geht also bloß um die Einkommen von Erwerbstätigen. Das wären Regelsätze um die 400€, wobei ein niedriger Mietsatz als „angemessene Miete“ dazuzurechnen ist, denn diese müsste man vom Lohn auch noch bezahlen. Diese wären eigentlich auch für die Lebenshaltung zu berücksichtigen, denn ein Arbeiter hat zwei mögliche zustände im Kapitalismus: In Arbeit und arbeitslos. Das Arbeitslosengeld ist zum einen nicht hoch und zum anderen keine gnädige Wohltat, sondern dafür da, um eine größere Arbeitskraftreserve auf Kosten von Steuern (die letztendlich primär die Werktätigen zu tragen haben) aufrechtzuerhalten und gewissermaßen etwas zusätzliche Konsumenten zu unterhalten durch eine Umverteilung des Lohnfonds, womit zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen werden: Mehr Druck auf dem Arbeitsmarkt und mehr potenzielle Käufer, wenn auch im niedrigen Segment. Bei Vollzeitbeschäftigten betrug im April 2014 der Bruttodurchschnittslohn 3.441€, wobei der Medianlohn, der mittlere Lohn, bei dem genau 50% mehr und genau 50% weniger verdienen, mit 2.990€ fast 500€ darunterlag17. Zwar stiegen die unteren Einkommen zwischen 2012 und 2015 um einige Prozente an, aber betrachtet man die langfristige Tendenz von 1995 bis 2015, so sind die unteren 50% der Einkommen gesunken oder stagniert, während die oberen 50% der Einkommen jeweils um die 10% zulegten. Die größte Lohngruppe mit 14,66% Anteil machten im April 2014 diejenigen mit 2.500 bis 2.900€ aus, wobei 2.100 bis 3.300€ die größte Häufung mit annähernd 40% der Vollzeitbeschäftigten besitzt. Lediglich 1,7% der vollbeschäftigten verdienten unter 1.300€ im Monat. Das klingt danach, als gäbe es in Deutschland kaum Armut unter Arbeitern, wenn man ein wichtiges Detail nicht beachtet: Es geht hier nur um die Vollbeschäftigten, nicht die Teilzeit- und geringfügig beschäftigten. Für das Jahr 2017 sah es folgendermaßen aus: 3.770€ war der Bruttodurchschnittslohn bei Vollzeitarbeit, 2.860€ als Bruttodurchschnittslohn bei Voll- und Teilzeitarbeit, sowie der Nettodurchschnittslohn von 1.890€ bei Voll- und Teilzeitarbeit zusammen18. Im Jahre 2017 verdienten 3,38 Millionen Deutsche weniger als 2.000€ brutto im Monat, was 16% entspricht19. Und damit nicht genug.

Im Jahre 2018 hatten 4,64 Millionen Deutsche einen Minijob als Hauptberuf, also auf 450€-Basis, sowie 2,91 Millionen Regulärbeschäftigte20. Mit 22,7% Anteil des Niedriglohnsektors in Deutschland ist dies einer der höchsten Werte innerhalb der EU. Dazu kommen noch 3,15 Millionen befristete Arbeitsverträge im Jahre 2017. Im Jahre 2019 verdienten 4,14 Millionen Vollzeitbeschäftigte unter 2.203€ brutto, also der Niedriglohnschwelle21. 2.203€ brutto – ist das nicht viel Geld? Nun, dazu muss man sich die Steuern und Sozialabgaben anschauen, wie auch die Lebenshaltungskosten. Liegt man genau auf diesem Schwellenbetrag, so hat man in der Steuerklasse I 249,97€ Steuern und 437,86€ Sozialabgaben zu bezahlen, es bleiben also 1.515,17€ netto übrig22. Fast 700€, ein Drittel des Bruttolohns, stehen einem also nicht zur Verfügung. Natürlich kann man argumentieren, dass die Sozialabgaben ja auch einen selbst absichern und der Unternehmer auch einen gewissen Anteil von gleich hohem Wert einzubezahlen hat, jedoch zahlt man praktisch „doppelt und dreifach“, denn man zahlt Steuern, Versicherungsbeiträge und mit seiner eigenen Arbeitskraft noch den Mehrwert, den man nur annähernd zu Gesicht bekommt, wenn man auf die Profite der Unternehmen schaut, und selbst dort sieht man nicht unbedingt das gesamte Mehrprodukt, das der Bourgeois erhalten hat. Marx gab im II. Band des „Kapitals“23 diese Formel für die kapitalistische Produktionsweise: G – W …P… W´ – G´. Der Bourgeois kauft sich von seinem Kapital zum einen Arbeitskraft und zum anderen Produktionsmittel ein, also Lohnarbeit sowie Maschinen, Rohstoffe, Gebäude etc. Aus der Lohnarbeit erhält der Kapitalist Waren im Wert des konstanten Kapitals (Produktionsmittel) heraus, sowie einen Neuwert, der sich wiederum aufteilt in variables Kapital (Löhne) und den Mehrwert. Soweit so gut mit der Wiederholung. Was hierbei relevant ist: Dieser Mehrwert liegt zunächst in Form eines Mehrproduktes vor, also noch in Warenform, nicht in Geldform. Und darin liegt der Knackpunkt, der es ohne interne Daten praktisch unmöglich macht, auszurechnen, wie viel ein Unternehmen an Mehrwert als Mehrprodukt erzeugt hat: Wenn es nicht auf dem Markt verkauft wurde, erscheint es nicht auf einer Gewinnstatistik und ein Verlust bedeutet nicht, dass der Bourgeois den Arbeitern Löhne „geschenkt“ hätte, sondern, dass er das Mehrprodukt nicht in dem Maße losgeworden ist, dass ein Geldprofit dabei herausgekommen wäre. Deshalb nutzen die Umsatzzahlen24 nur etwas in Verbindung mit den jeweiligen Kostenposten der einzelnen Unternehmen. Eines ist jedoch offenkundig: Die Managergehälter der DAX-Unternehmen lagen im Millionenbereich25, sie verdienten also ein Zigfaches eines Arbeiters in diesen Unternehmen. So sieht die Arbeiteraristokratie aus!

Ein weiteres Problem: Lohnungerechtigkeit zwischen den beiden Geschlechtern. Im Jahre 2014 gab es einen „bereinigten“ Gender Pay Gap von 6% und einen „unbereinigten“ von 21%26 von Frauen gegenüber Männern. „Unbereinigt“ heißt hier, dass der Gesamtlohnfond der Frauen 21% niedriger liegt, als der der Männer, wobei dazukommt, dass „typische Frauenberufe“ trotz vergleichbarer Qualifikation schlechter bezahlt werden. „Bereinigt“ bedeutet hier, dass man die Lohnunterschiede zwischen den Geschlechtern auf Grundlage der gleichen Arbeitsplätze berechnete. Bei Vollzeitarbeit verdienten im Jahre 2017 Männer im Schnitt 3.960€ brutto, während Frauen ebenfalls bei Vollzeit lediglich 3.330€ verdienten27. Weshalb ist das relevant? Wenn die Bourgeoisie doch angeblich uns „Erstweltler“ durchfüttern wollte aus utopischer Gnädigkeit, wozu sollte man dann noch die Frauen lohnmäßig diskriminieren? Wenn der Lohn angeblich „gerecht“ sei, wozu braucht man dann Extraprofite durch Lohndumping? Etwa aus „böser Misogynie“? Das wäre ein Rückfall in den bürgerlichen Moralismus, um die kapitalistische Ausbeutung zu verschleiern, wie es von bürgerlichen Feministen nur allzu gerne getan wird.

Ein weiteres Problem des selben Themas: Der Anstieg des Mindestlohns. Am 1. Januar 2015 wurde ein Mindestlohn von 8,50€ eingeführt, der schon damals niedrig bemessen war. Zum 1. Januar 2017 stieg er auf 8,84€ und zum 1. Januar 2019 auf 9,19€, was ersichtlicherweise einige Cent höher liegt, aber noch immer relativ niedrig angesetzt ist. Zum 1. Januar 2020 soll der Mindestlohn auf 9,35€ angehoben werden28. Soweit so gut, oder auch nicht. Schon im Frühjahr 2018 wäre ein Mindestlohn von 9,50€ bei Vollzeitarbeit notwendig gewesen, um in 15 von 20 Städten Deutschlands nicht auf zusätzliche Hartz-IV-Bezüge angewiesen zu sein29. In manchen Städten bräuchte man sogar noch mehr, wie zum Beispiel in Wuppertal 9,68€ und in München gar 12,77€. Warum ist dem so?

Die Lebensunterhaltskosten. Die Lebenshaltungskosten in Deutschland sind regional unterschiedlich, wie man sehen kann, hauptsächlich durch die Mietpreise. Ginge es nach Annegret Kramp-Karrenbauer, so sollten diejenigen, die arm sind, sich Wohneigentum erwerben30. Aber dieser in den Raum geworfene „gutgemeinte Ratschlag“ ist so sinnlos, wie Marie Antoinettes Ausspruch, dass die Hungernden, die kein Brot haben, stattdessen Torte essen sollten. Denn für die Mieten fallen im Schnitt 897€ pro Haushalt an, bei durchschnittlichen Gesamtkosten von 2.517€31. Das ist so viel, dass zwei Vollzeit arbeitende bei 2.203€ brutto sich das nach allen Abzügen grade so leisten können, wie man ersehen kann, wenn man das obige Beispiel sich in den Kopf zurückruft. Dabei würden zwar um die 500€ theoretisch übrig bleiben, aber das heißt nicht, dass sie diese auch unbedingt voll zur Verfügung haben. Wenn ein Küchengerät kaputt geht, wenn man Kinder hat, wenn man irgendeine größere Anschaffung für den Haushalt macht, so braucht man Erspartes. Aber 28,1% der deutschen Haushalte besaßen keine nennenswerten Ersparnisse32, das heißt, wenn zum Beispiel deren Kühlschrank kaputt geht, so können sie sich nicht einfach einen neuen leisten. Wenn das Geld schon für einen selbst kaum reicht, dann erst recht nicht für Kinder. Deshalb gelten Kinder als ein Armutsrisiko, besonders bei Alleinerziehenden33. So wie die Lohnschere seit den 90ern immer weiter auseinandergeht, so geht auch die Einkommensschere zwischen armen und reichen Familien auseinander. Deshalb ist es kein Wunder, dass die gesellschaftliche Reproduktion in Deutschland nicht mehr vollständig funktioniert. Allgemeinverständlich ausgedrückt: Es ist nicht verwunderlich, dass man unter diesen Umständen in Deutschland zu wenig Kinder bekommt. Die Geburtenrate lag bei 1,57 Kindern pro Frau im Jahre 201834, somit unter den 2,1 Kindern pro Frau, die für die einfache Reproduktion der Gesellschaft notwendig wäre. Und damit nicht genug: Die Preise steigen stetig an. Dennoch ist der Begriff „Teuerung“ aus dem Munde älterer Leute nicht korrekt, ein vulgärökonomischer Ausdruck, denn das Geld verliert an Wert und deshalb werden Waren teurer. Der Prozess nennt sich Inflation. Es genügt nicht bloß die Inflationsrate der vergangenen Monate zu betrachten samt Verbraucherpreisindex35, denn daraus lässt sich schwer eine Tendenz und schon gar keine langfristige Tendenz heraus herleiten. Nützlicher hingegen sind dabei noch die Preissteigerungen einzelner Warenkategorien im Vergleich zum letzten Jahr36. Demnach ist unter anderem Obst um 4% teurer geworden und die Kosten für Verkehr um 1,3% gesunken. Aber auch das lässt noch keine längerfristige Tendenz beobachten und als Momentaufnahme ist es zu unkonkret, weil zum Beispiel entgegen dieser Tendenz der Preis des Hessentickets von 35€ auf 36€ gestiegen ist von 2018 auf 2019 und man nicht einsehen kann, was dabei konkret günstiger geworden ist. Dafür sind Daten des Statistischen Bundesamtes besser geeignet. So kann man ersehen, wie der Verbraucherpreisindex von 1991 bis 2019 gestiegen ist von 65,5% auf 105,2%, wenn man die Preise im Jahr 2015 als Fixjahr nimmt37. Das bedeutet nahezu eine Verdopplung. Zwischen 1991 und 2018 verdoppelten sich die Konsumausgaben insgesamt ebenfalls38. Heruntergebrochen heißt das: Die Massen geben das doppelte an Geld aus, um das Gleiche zu bekommen, wie 1991. Proportional hat sich an der Ausgabenverteilung wenig getan. Seit etwa dem Jahre 2000 stagnieren die Ausgaben für Lebensmittel auf einem proportionalen Anteil von etwa 14%39.

Und noch ein Problem des gleichen Themas: Die Arbeitslosigkeit. Wo es raucht, da ist auch Feuer. Wo Lohnarbeit ist, dort gibt es auch Arbeitslosigkeit. Das ist keine Wortspielerei, sondern sind Paare der Einheit der Gegensätze, sind dialektisch aneinander gebunden. Schaut man sich die offizielle Arbeitslosenstatistik an, so ist diese Tendenz rückläufig, von 11,7% im Jahre 2005 auf 5% im Jahre 201940. Im gleichen Zeitraum stieg die Zahl der Erwerbstätigen von 39,2 Millionen im Jahre 2005 auf 44,7 Millionen im Jahre 201841. Wie kommt sowas zustande? Indem man den Niedriglohnsektor ausweitet. Vulgär ausgedrückt nach dem Prinzip: „Auch ein Blowjob ist ein Job.“ Die Legalisierung der Prostitution unter der Schröder-Regierung macht dieses Wortspiel sogar passend, denn dort landen Frauen auch nicht freiwillig42. Nun wieder etwas mehr Ernst: Laut offiziellen Statistiken schwanken die Zahlen der Arbeitslosen zwischen etwa 2 und 2,5 Millionen43. Die offizielle Definition für Arbeitslosigkeit ist, unter 15 Stunden pro Woche zu arbeiten44. Oder besser gesagt: Das sollte sie sein. Dabei rechnet die Agentur für Arbeit fast 1 Million Arbeitslose aus der Statistik mit Tricks heraus45, wie die Linkspartei seit Jahren hinterher rechnet anhand der offiziellen Zahlen. Diese Tricks beinhalten unter anderem Arbeitslose, die krank gemeldet sind rauszurechnen, wie auch Arbeitslose, die sinnlose Lehrgänge besuchen46. Schon im Jahre 2008 machte die DGB-nahe Hans-Böckler-Stiftung auf Rechentricks und Leistungskürzungen aufmerksam, die die statistische Arbeitslosigkeit reduzieren, trotz des Ansteigens der Sockelarbeitslosigkeit47. Das ist nun schon über ein Jahrzehnt her, aber diese Tendenz hat sich bloß bestätigt. Das Existenzminimum wird dadurch kleingerechnet, dass man die untersten 15% der Singlehaushalte für den Durchschnitt annimmt, die keine Sozialleistungen beantragt haben und nicht überprüft, ob ihnen eigentlich schon welche zustehen würden, weil für das Existenzminimum die 15% der ärmsten Singlehaushalte, die grade so ohne Sozialleistungen auskommen kann, eigentlich zur Grundlage genommen werden müssten48. Dabei beantragen etwa 34-44% der Bedürftigen keine Sozialleistungen im Jahre 2013. Beim Hartz-IV-Regelsatz von 424€ sind 5€ pro Tag für Lebensmittel vorgesehen49. Die durchschnittlichen Konsumausgaben betrugen jedoch 11,60€ pro Tag50. Natürlich bleibt die Frage offen, wie viel genau für eine angemessene Ernährung notwendig wären, aber man kann sehen, dass dies weniger als die Hälfte des Durchschnitts beträgt. Deshalb ist es wenig verwunderlich, dass Arbeitslose eine Armutsgefährdungsrate von 70% in Deutschland haben, währender EU-Durchschnitt 48,7% beträgt51. Warum so lange Ausführungen über Arbeitslose? Weil der die Arbeitslosigkeit einer der beiden Aggregatzustände des Proletariats ist: In Arbeit oder ohne Arbeit. Die Arbeitslosenreserve ist vom Kapital sogar gewünscht, denn das erhöht den Druck auf dem Arbeitsmarkt und macht Lohnsenkungen und Sozialabbau, wie sie seit den 70ern Jahren Stück um Stück im Gange, und mit Hartz IV und der Agenda 2010 für jeden unübersehbar sind. Stalin sagte einmal: „Unter der Arbeitslosigkeit leiden nicht nur die Arbeitslosen. Auch die beschäftigten Arbeiter leiden unter ihr. Sie leiden deshalb, weil das Vorhandensein einer großen Zahl von Arbeitslosen für sie eine unsichere Lage im Betrieb, eine Ungewissheit über den morgigen Tag schafft. Heute arbeiten sie im Betrieb, doch sind sie nicht sicher, ob sie morgen beim Erwachen nicht erfahren, daß sie bereits entlassen sind.52 Bei einem Festangestellten ist dazwischen erst einmal eine Kündigungsfrist, während ein Leiharbeit diese de facto nicht hat. Dennoch stellt sich für beide die Frage: Was nun? Es gibt keine Garantie dafür, dass sie danach nicht längere Zeit arbeitslos werden.

Nun zu einem weiteren Themenkomplex: Der Arbeitsqualifikation. Die Berufsqualifikation ist an sich nicht unbedingt geistige Bildung in dem Sinne, dass man sich als Mensch weiterentwickelt zu einem tieferen Verständnis der Welt, sondern bloß auf das Berufsleben vorbereitet wird. Selbst die „Welt“ bemängelt, dass Schulen viel zu wenig politisches, gesellschaftliches und ökonomisches Wissen vermitteln53. Natürlich ist der Artikel in dem Stil gehalten „Wir müssen was tun“, ohne konkrete Lösungsvorschläge anzubieten. Die Schulen sind primär ein Ort, um die „kulturelle Hegemonie“54, wie Antonio Gramsci es nennt, über die Arbeiterklasse und die anderen Werktätigen von klein an zu errichten, sie also bürgerlich zu indoktrinieren und erst sekundär eine Bildungseinrichtung, um die elementarsten Grundkenntnisse von Sprache, Mathematik und Naturwissenschaft zu erlernen. Das ist nichts neues, sondern ist seit dem 19. Jahrhundert mit der Einführung der bürgerlichen Schulpflicht so gewesen; dagegen wetterte schon Wilhelm Liebknecht55. Abgesehen davon ist Berufsqualifizierung längst Usus geworden, wird aber in der Regel verhältnismäßig nicht besser bezahlt56, lediglich gegenüber ungelernter Arbeit. Wie kommt sowas?

Dieses Phänomen untersuchte bereits Antonio Gramsci und er taufte es „Fordismus“, weil in den Henry-Ford-Werken es erstmals auftrat. Für die Anfangszeit gab es aus der Notwendigkeit heraus, um die Arbeiter an einer Berufsqualifizierung materiell zu interessieren, einen höheren Lohn, um einen entsprechenden Stock an qualifizierten Arbeitern zu erhalten für die neuen Produktionsmethoden57. Gramsci dachte, dass die „hohen Löhne“ verschwinden würden, wenn sich diese Produktionsmethoden „verallgemeinert und ausgebreitet“ hätten und sich eine „ausgedehnte Arbeitslosigkeit“ auf diesem Feld entwickelt haben würde58. Das stimmt weitestgehend, weil der Arbeitsmarkt entsprechend der Arbeitslosigkeit Druck erhält. Aber dennoch wird dieses Lockmittel noch immer genutzt, um dann den Fordismus als Prinzip anzuwenden. Das kann man zum Beispiel bei Aldi sehen, die einen leicht übertariflichen Lohn auszahlen, aber dafür die Kasse im Fließbandakkord abgefertigt werden muss nach bestimmten Quoten59. Gramsci zog in Betracht, dass die Verschärfung der Ausbeutung für einen „hohen Lohn“ eben mehr nervlicher und muskulärer Energie bedarf und deshalb es auch Arbeiter geben wird, die sich von etwas mehr Geld bei deutlich höherer Leistung nicht locken lassen60. Und tatsächlich gibt es sie61, wie eine Angestellte bei Edeka beweist. Was man jedoch zunehmends von Unternehmerseite macht: Man schrumpft das festangestellte Stammpersonal zusammen und ersetzt den Rest durch Leiharbeiter, um Lohnkosten zu sparen und jederzeit kündigen zu können62. Die Stammbelegschaft ist dennoch keine Arbeiteraristokratie, nur weil sie so behandelt wird, wie es bisher Usus gewesen ist, sondern man diskriminiert die Leiharbeiter, indem sie wie Festangestellte arbeiten, nur mit weniger Lohn und weniger Rechten. Auch wirkt die Leiharbeit drückend auf die Löhne der Stammbelegschaft, also ist der einzig wirkliche Vorteil letztendlich eine relative Sicherheit des Arbeitsverhältnisses über einen gewissen Zeitraum. Der Hauptgrund eine Stammbelegschaft zu halten ist nicht, dass die Bourgeoisie sie aus mäzenhafter Wohltätigkeit durchfüttern wollte, sondern um einen Kern an Arbeitern dauerhaft an den Betrieb zu binden, damit „der Schornstein immer raucht“ sozusagen. Gramsci beschreibt dieses Phänomen und weist darauf hin, dass ohne eine solche Stammbelegschaft, die alle Arbeitsabläufe kennt und ein gewissermaßen eingespieltes Team darstellt, man ständig bei null anfangen müsste, man also die Leiharbeiter gar nicht richtig integrieren könnte in dieses Netz der Produktionsprozesse63. Der ökonomischen Verluste, immer in einer Anlaufphase nicht auf voller Effizienz zu arbeiten ist höher, als eine Stammbelegschaft zu unterhalten. Wegen dem „Durchfüttern“ noch eine Sache. Stalin sagte einst kurz vor der Weltwirtschaftskrise 1928: „Gerade die Tatsache, daß der Kapitalismus die Technik rationalisiert und eine gewaltige Menge von Waren erzeugt, die der Markt nicht absorbieren kann, gerade diese Tatsache führt dazu, daß sich der Kampf um die Absatzmärkte, um die Märkte für die Kapitalausfuhr im Lager der Imperialisten verschärft, daß die Voraussetzungen für einen neuen Krieg, für eine abermalige Neuaufteilung der Welt entstehen. […] Der Kapitalismus könnte diese Krise beheben, wenn er die Löhne der Arbeiter um ein Mehrfaches erhöhen, wenn er die materielle Lage der Bauernschaft ernstlich verbessern, wenn er auf diese Weise die Kaufkraft der Millionen Werktätigen ernstlich heben und die Aufnahmefähigkeit des inneren Marktes erweitern könnte. Aber dann wäre der Kapitalismus nicht Kapitalismus.“64 Das bewahrheitete sich in der Weltwirtschaftskrise auf die extremste und offensichtlichste Weise. Die Entwicklung der Technik erhöht die Produktivität, schließt aber auch mehr und mehr Arbeiter langfristig aus dem Produktionsprozess aus und erhöht die Sockelarbeitslosigkeit. Alleine die Erhöhung der Löhne könnte bloß die relative Überproduktion beseitigen, aber es gibt auch aus Sicht des nationalen Marktes eine absolute Überproduktion. Beide Formen der Überproduktion führen dazu, dass die imperialistischen Länder auf Exporte hindrängen und neue Märkte auch mit Kriegen erobern. Aber das geht auch mit Dumpingexporten.

So betreiben zum Beispiel die imperialistischen EU-Länder Agrarexportdumping nach Afrika. Das Motto „Nahrung ist Waffe!“, das der Reichsnährstand im November 1943 rausgab, erhält hier eine neue Bedeutung, im Sinne des Handelskrieges. „Die Politik ist Krieg ohne Blutvergießen, der Krieg ist Politik mit Blutvergießen.“65, sagte Mao Tsetung einst mit Andacht an die Kriegstheorie von Carl von Clausewitz. Libyen wurde von dem französischen und britischen Imperialisten in Schutt und Asche gebombt und die USA unterstützten einen Putsch von Warlords gegen Gaddafi. Das ist ein sehr offensichtlicher Akt des Imperialismus. Aber das Agrardumping nach Afrika durch die imperialistischen EU-Länder ist nicht minder zerstörerisch, nur werden keine Bomben durch Flugzeuge abgeworfen, sondern „ökonomische Bomben“ per Frachtschiff angelandet. Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) beschönigte diese Importe mit dieser Begründung: „Durch Importe kann eine Versorgung der heimischen Bevölkerung mit preiswerten Lebensmitteln sichergestellt sowie nationale Ernteschwankungen kompensiert bzw. ausgeglichen werden.“66 Seit September 2010 förderte es Exporte aufgrund von gesättigten Inlandsmärkten67. So verdrängten beispielsweise Importe von Hähnchen die heimische Produktion in Ghana, weil sie billiger sind68. Dafür spielen EU-Subventionen keine Rolle, sondern die Überproduktion an Fleisch69.

Das BMEL hat also recht, dass die Lebensmittelexporte nach Afrika billige Lebensmittel auf den Markt werfen, nur kommt dabei nicht zur Sprache, dass das viele Kleinproduzenten vor Ort ruiniert. Die Drittweltler behaupten, die „Dritte Welt“, also die Kolonialländer, würden uns „durchfüttern“, aber, wie man sehen kann, könnte man eher das Gegenteil behaupten. Die Kolonien liefern billige Ressourcen und Arbeitskräfte, aber das Nahrungssegment ist anders herum billiger aufgrund von industrieller Produktion. Das zeigt auch, dass die Kolonien nicht bloße Ressourcenlieferanten sind, sondern auch ein lukrativer Absatzmarkt. Die EU hat deshalb mit vielen afrikanischen Staaten Verträge über zollfreien Handel beschlossen, die aber dadurch asymmetrisch sind, da die afrikanischen Länder bei weiterverarbeiteten Produkten EU-Standards nicht erfüllen können, und so weiterhin bloße Rohstoffexporteure in die EU sind70. Diese Liberalisierung der afrikanischen Märkte kommt auch noch aufgrund ihrer Verschuldung und der Maßnahmen des IWF. In den 80er und 90er Jahren „half“ man den afrikanischen Staaten zu entschulden, indem sie massiv privatisierten und Sozialausgaben kürzten, aber nun sind sie wieder überschuldet und haben dieses „Tafelsilber“ nicht mehr, weshalb die Lage nun aussichtslos erscheint71. Die afrikanischen Länder machten Schulden bei den imperialistischen Ländern für Importe, die dann die privatisierten Betriebe und Rohstoffquellen aufkauften. Hier bewahrheitet sich Lenins „Der Kapitalexport wird zu einem Mittel, den Warenexport zu fördern.“72, denn die Länder sind gezwungen, ihre Ressourcen billig zu exportieren, um Devisen zu erlangen. Außerdem bewahrheitet sich, dass die Bourgeoisie beim Kapitalexport doppelt verdient: Durch die Zinsen aus dem Kapitalexport selbst und wenn damit wiederum Waren aus den imperialistischen Ländern importiert werden73. Dazu kommt noch, dass durch Entwicklungshilfe de facto Subventionen verteilt werden für teils sinnlose Exporte, wie überteuerte Tiefkühlpizzen, oder man Kartoffelsorten nach dem „Mischung Monsanto“-Prinzip versucht zu etablieren74, um die Bauern abhängig von Saatgut, Düngemitteln und Pestiziden zu machen75. Diese Subventionierungsmaßnahmen für diese Ausschusswaren oder solche Projekte, die Bauern in Afrika in Anhängsel von Chemie- und Saatgutkonzernen zu machen, bezahlen die Werktätigen der imperialistischen Länder durch ihre Steuern. Die Bourgeoisie verdient doppelt und dreifach auf Kosten der Werktätigen in den imperialistischen Ländern, wie auch in den Kolonien.

Es besteht des weiteren die Frage, wie hoch die Unterhaltskosten des jeweiligen Landes sind. Zweifellos, die Bourgeoisie heimst sich durch das Sparen am konstanten Kapital einen Extraprofit ein und kann zusätzlich noch auf Arbeitskraft mit einem niedrigen Lohnniveau zurückgreifen für ihre einfachen Tätigkeiten. Die offizielle Grenze der „absoluten Armut“ liegt bei 1,90$ pro Person und Tag weltweit. Das Problem dabei ist, dass man einen Fixwert nimmt, ohne die Lebenshaltungskosten der jeweiligen Länder zu betrachten. In Deutschland würde man demnach mit Hartz IV als „nicht absolut arm“ kategorisiert werden, obwohl man davon nicht leben kann. Vielleicht gibt es sogar Länder in denen man davon leben kann, weil zum Beispiel der Ertrag eines kleinen Bauernhofs nicht einberechnet wurde. Um hier mal ein paar Jahrzehnte zurückzublicken: Genau dieses Problem hatten die Bauern bei der Kategorisierung der Besoldungsstufe, die sich nach dem Einkommen richtete, bei der Rente und so weiter. Ein Bauer hat Naturalien in Form von agrar- und forstwirtschaftlichen Gütern, aber nicht für alles eine quittierte Rechnung und schon gar nicht einen Lohnsteuerbescheid. Deshalb ist die „relative Armut“ nur wirklich messbar und logisch. Während die „absolute Armut“ analog die gleichen Maßstäbe auf die gesamte Welt überträgt, benötigt die „relative Armut“ eine konkrete Analyse der jeweiligen Ländersituationen, die Untersuchung nämlich, wie viel Kaufkraft dort diese 1,90$ zum Beispiel haben, wie viel dort konkret verdient wird, wie man davon leben kann und alles was damit zusammenhängt und was oben für Deutschland als Abriss gemacht worden ist. Lenin sagte einmal über die Fehler von Trotzki und Bucharin: „Um einen Gegenstand wirklich zu kennen, muß man alle seine Seiten, alle Zusammenhänge und ´Vermittelungen´ erfassen und erforschen. Wir werden das niemals vollständig erreichen, die Förderung der Allseitigkeit wird uns aber vor Fehlern und vor Erstarrung bewahren.“76 Natürlich ist dieser Abriss nicht jedes mögliche Detail eingegangen, denn dann wäre aus einem Kapitel ein ganzes Buch geworden. Aber es dürfte die wesentlichen Entwicklungstendenzen und deren Hintergründe ausreichend beleuchtet haben, um sich in etwa ein Bild von der Lage zu machen. Die Verlegung der Produktion in Kolonien jedenfalls findet statt, um konstantes Kapital zu sparen, durch eine niedrigere organische Zusammensetzung des Kapitals. Das ist einer der Mittel der Bourgeoisie, um den Fall der Profitrate77 abzubremsen. Aber je weiter sich die Produktivkräfte entwickeln, desto weniger rentiert sich sowas. So steigen zum Beispiel, dem größten Kleidungsherstellerland der Welt, die Löhne und es rentiert sich aufgrund der weiten Transportwege die Verlagerung in die Türkei und in möglicherweise bereits zehn Jahren wird die Produktion von Jeans zu 70% und die von komplexeren Kleidungsstücken zu 40% automatisiert sein, sodass sich sogar eine Rückkehr nach Europa und Nordamerika lohnen wird78. Die Bourgeoisie sucht den Standort aus, der Maximalprofit bietet und teilt die Welt nicht im Sinne der „Drei Welten“ auf; für sie gibt es nur eine Welt und das ist das imperialistische Weltsystem.

Was bleibt es da zu resümieren, außer, dass nicht die Drittweltler mit ihren in den Raum geworfenen, nicht wissenschaftlich belegten Behauptungen, recht haben, sondern wir Marxisten. Wie präzise eine marxistische prognostische Analyse der ökonomischen Verhältnisse sein kann, zeigt Walter Ulbricht in seinem Referat zum 100. Jahrestag der Veröffentlichung des I. Bandes des „Kapitals“ von Karl Marx im September 1967, der in ungefähren Zügen die heutige Misere vorhersagte79. Hier bestätigt sich wieder einmal Lenins Aussprach, dass „das innerste Wesen, die lebendige Seele des Marxismus“ in folgendem besteht: „Die konkrete Analyse einer konkreten Situation.“80 Nun weiter.

Der Mythos der Arbeiteraristokratisierung des Proletariats der imperialistischen Länder

Der Begriff der Arbeiteraristokratie wird inzwischen von vielerlei Kommunisten und Sozialisten missbraucht und verändert, um ihre ideologische Basis zu rechtfertigen. Mögen es die „Drittweltler“ sein, die meinen, dass die gesamte nördliche Hemisphäre kein „revolutionäres Potential“ besitzen würde, weil das Proletariat dort angeblich nur aus Arbeiteraristokratie besteht. Aber was ist nun die sogenannte Arbeiteraristokratie? Wie lässt sie sich einordnen und welche ideologische Rolle spielt sie?

Tatsächlich lässt sich auch der Ursprung des Begriffes auf Engels zurückführen, er sah, dass es eine kleine Minderheit an Arbeitern gab, die privilegiert ist und von der Bourgeoisie geschützt wird. Er bezeichnete sie als „Aristokratie der Arbeiterklasse“. Es lässt sich allerdings hier bereits herauslesen, dass die Arbeiteraristokratie nur eine Minderheit unter den Werktätigen ist und keine Mehrheit oder gar die gesamte Arbeiterschaft.

In „Der Imperialismus als höchste Stufe des Kapitalismus“ beschreibt Lenin die Arbeiteraristokratie als “Schicht der verbürgerten Arbeiter oder der ´Arbeiteraristokratie´, in ihrer Lebensweise, nach ihrem Einkommen, durch ihre ganze Weltanschauung vollkommen verspießert, ist die Hauptstütze der II. Internationale und in unseren Tagen die soziale (nicht militärische) Hauptstütze der Bourgeoisie. Die Arbeiteraristokratie scheint also eine von der Bourgeoisie bestochene Minderheit zu sein, die sich gegen die Klasseninteressen des Proletariats richtet, sie sind Agenten innerhalb der Arbeiterklasse, verbürgert in ihren Lebensstil. Denn sie sind wirkliche Agenten der Bourgeoisie innerhalb der Arbeiterbewegung, Arbeiterkommis der Kapitalistenklasse (labor lieutenants of the capitalist class), wirkliche Schrittmacher des Reformismus und Chauvinismus.”81 Nicht nur das, sie sind auch Agenten der Bourgeoisie innerhalb der Arbeiterschaft.

Drittweltler würden diesen Absatz nun nutzen um zu „beweisen“, dass die erste Welt vollkommen verbürgerlicht ist und nurnoch aus Arbeiteraristokraten besteht.

Die Verlogenheit dieses Arguments soll nun im Folgenden aufgedeckt werden:

Wenn die Arbeiteraristokratie also eine aktiv bestochene Minderheit der Arbeiterklasse ist und sie als Agenten des Bürgertums im Proletariat dienen, stimmt das Argument der Drittweltler dann nicht? Besteht das Proletariat der imperialistischen Länder nicht mehrheitlich aus Arbeiteraristokraten? Sie verdienen doch mehr als Arbeiter in der Dritten Welt, oder?

Das Proletariat der imperialistischen Länder besteht mehrheitlich eben nicht aus Arbeiteraristokraten, viel verdienen heißt außerdem nicht direkt ein Arbeiteraristokrat zu sein, die Klassenposition bestimmt sich nicht allein aus dem Reichtum, den das Individuum besitzt, sondern aus den ihr zugrunde liegenden Produktionsverhältnissen: Die Arbeiteraristokratie entsteht aus der kapitalistischen Produktionsweise, der Imperialismus ist ein inhärenter Teil des Kapitalismus, der Imperialismus ist das Produktionsverhältnis, dass sie entstehen lässt und so kann die Arbeiteraristokratie nur durch die Auflösung der Produktionsverhältnisse zerstört werden. Die Arbeiteraristokratie als solches findet sich häufig an der Spitze von Gesellschaften wieder, wie schon Lenin in „Der Imperialismus und die Spaltung im Sozialismus“ sagte, er nannte sie „Arbeiterbürokratie“82. Wieso? Die Arbeiterbürokratie soll den Reformismus lahmlegen, den Prozess also erschweren Weiterhin sollen sie das restliche Proletariat unter Kontrolle halten und ein Klima a la „Der Fabrikbesitzer trägt auch seinen Teil dazu bei“ erschaffen und die Ausbeutung durch den Kapitalisten moralisch rechtfertigen. Wir sehen also, dass das Proletariat so mehrheitlich nicht aus der Arbeiteraristokratie besteht sondern sich eher in den Spitzenpositionen von Gewerkschaften etc. wiederfindet. Man könnte die Arbeiteraristokratie als „Sklaventreiber“ oder „Aufseher“ sehen, sie sollen das Proletariat zerreißen und Konkurrenz unter den Arbeitern um die bestbezahltesten Plätze schaffen, sie sollte ebenso das Proletariat der herrschenden Klasse unterordnen und sie im Griff halten, eine „Allianz“ zwischen den Gewerkschaften und den Bürgern, wie Engels es beschrieben hat83.

Langsam zeigt sich schon auf, dass dieser „Mythos der Arbeiteraristokratie“ den Konservatismus der Arbeiterklasse nicht alleine aufzeigen kann, dieser liegt nämlich in vielerlei Widersprüchen und nicht in diesem alleine.

Da wir also nun die Arbeiteraristokratie per se geklärt haben, können wir einen kleinen Aspekt zum Konservatismus der Arbeiterklasse aufzeigen: Arbeiter sind nicht nur eine kollektive Klasse, mit gemeinsamen Interessen, sie sind auch Individuen, die ihre Arbeitskraft auf dem Markt verkaufen und um die bestbezahltesten Arbeitsplätze konkurrieren; der Kapitalismus zerreißt das Proletariat innerlich, wie schon oben gesagt. Wenn der Reformismus also fehlschlägt (was der natürlicherweise tut), so suchen die Arbeiter andere Möglichkeiten um ihre Position, also Arbeitsplatz zu verteidigen. Sie schlagen visuell auf die schwächsten Glieder der Gesellschaft ein und nutzen ihre Position als „Weiße gegen Farbige“ oder als „Mann gegen Frau“. Die Arbeiter gehen an diesem Punkt nur ihrem Selbstinteresse nach und nicht den Klasseninteressen, sie nehmen an diesem Punkt Ideen an, die ihre Aktionen rechtfertigen, die Ideen der Reaktion, der Rechten, der Faschisten sogar84.

Um also den Mythos der Arbeiteraristokratie endgültig aufzuklären: Das Proletariat des Westens ist besteht nicht vollkommen aus der Arbeiteraristokratie, die Arbeiteraristokratie repräsentiert im Westen nicht die Mehrheit des Proletariats. Klassen werden nicht durch Reichtum definiert sondern durch Produktionsverhältnisse – die Arbeiteraristokratie ist keine Entschuldigung für Drittweltler-Argumente. Alleine ein Blick auf die Löhne von Managern im Vergleich zu dem Durchschnittsgehalt eines Arbeiters in Deutschland zeigt, dass die Arbeiteraristokratie hier längst keine Mehrheit ist. Dementsprechend sollte sich dieser Mythos geklärt haben.

Die „Drei Welten“ – Ein falsches Schema

Die Einteilung der Welt in drei Teile, wie es Deng Hsiaoping im April 1974 in seiner Rede vor den Vereinten Nationen vornahm85, ist nicht bloß sachlich falsch, sondern das Schema hat in sich Widersprüche. So zum Beispiel: Was unterscheidet die „Zweite Welt“ im Charakter von der „Ersten Welt“? Die „kleineren“ imperialistischen Länder wie Großbritannien, Frankreich und Deutschland, sind Mitglied der NATO und folgen dem Kurs der USA. Lediglich unter De Gaulle fuhr die französische Bourgeoisie eine Zeit lang einen unabhängigeren Kurs und trat aus der NATO aus. In diesem Falle konnte man tatsächlich einen Unterschied feststellen und zwar ein entgegengesetztes imperialistisches Lager. Aber die „Erste Welt“ selbst besteht schon aus zwei entgegengesetzten Lagern laut Deng Hsiaoping, also ist das kein Unterscheidungsmerkmal. Das nächste Problem ist, dass innerhalb der „Dritten Welt“ nicht unterschieden wird zwischen Regimen der Kompradorenbourgeoisie, der nationalen Bourgeoisie und sozialistischen Staaten in rückständigen Ländern. Diese Einteilung unterliegt also nicht einer Klassenanalyse, wie sie die marxistische Gesellschaftsanalyse erfordert, sondern einem oberflächlichen Schema, das den Klassenkampf ignoriert.

Warum ist es dennoch so ein bedeutsames Thema, wenn doch ein so unumstrittener Renegat wie Deng Hsiaoping der Schöpfer dieser Theorie ist? Weil sie Mao Tsetung im Nachhinein in den Mund gelegt worden ist. Das chinesische Außenministerium erwähnt Dengs UNO-Rede vom April 1974, aber auch, dass im Februar 1974 die Drei-Welten-Theorie durch Mao Tsetung dargelegt worden sei86. Worauf wird sich dabei bezogen? Auf ein „Gespräch mit Kenneth Kaunda“, das erstmals in Auszügen im November 1977 veröffentlicht worden ist87. In einem Gespräch vom 17. Januar 1964 soll Mao Tsetung zum einen die Kolonien in Asien, Südamerika und Afrika als „Dritte Welt“ eingestuft haben und zum anderen die kleineren imperialistischen Länder88. Höchstwahrscheinlich handelt es sich dabei aber in Wahrheit um die Bezeichnung „Zwischenzone“, womit er den rivalisierenden Charakter zum US-Imperialismus herausstellen wollte und die bei Texten aus eben dieser Zeit mehrfach auftauchte89. Was diese Theorie weiter untermauert, ist, dass Mao Tsetung am 30. Januar 1964 eine französische Delegation danach fragte, ob sie eine „Dritte Welt“ schaffen wollten, um sich von den USA zu distanzieren90. Gegenüber Edgar Snow erzählte Mao dann am 9. Januar 1965, dass sie ihm dann darlegten, dass sie das nicht tun würden und legten ihm die Drei-Welten-Theorie aus europäischer Sicht dar mit der Einteilung der Welt in „entwickelte“ und „unterentwickelte“ Länder, wobei Mao Tsetung anmerkte, dass die „entwickelten“ imperialistischen Länder untereinander sich nicht einig sind91. Deshalb versuchte Mao Tsetung Frankreich unter De Gaulle gegen die NATO zu beeinflussen92, was die Sowjetunion in dieser Zeit genauso tat93.

Bis heute ist das einzige Werk, das man Mao Tsetung zuschreibt, was die Drei-Welten-Theorie, wie Deng Hsiaoping sie im April 1974 vor den Vereinten Nationen darlegte, dieses ominöse „Gespräch mit Kaunda“ vom Februar 1974, in welchem gesagt wird: „Ich meine, dass die USA und die Sowjetunion zur Ersten Welt gehören. Die mittleren Elemente, wie Japan, Europa, Australien und Kanada, gehören zur Zweiten Welt. Wir sind die Dritte Welt.“94 Laut Quellenangabe wurde es „nach den Gesprächsaufzeichnungen“ veröffentlicht. Auf der Rückseite der Titelseite des Sammelbandes Mao Zedong „On Diplomacy“ kann man jedoch (hier von mir ins Deutsche übersetzt) lesen: „Da die Originale der Niederschriften von Mao Tsetungs Gesprächen mit ausländischen Gästen nicht vorhanden sind, werden diese Gespräche übersetzt nach der offiziellen chinesischen Version.“ Damit sagen die dengistischen Herausgeber selbst aus, dass man ihnen glauben muss, dass sie nichts gefälscht haben, denn eine Primärquelle liegt nicht vor. Bei Deng Hsiaoping hingegen findet man die Drei-Welten-Theorie beispielsweise auch im Mai 198495 und sogar noch im Dezember 199096, kurz bevor er in den politischen Ruhestand ging. Während man also für Mao Tsetung bloß eine im Nachhinein erfolgte Zuschreibung für die Begründung der Drei-Welten-Theorie findet, so zieht sich diese bei Deng Hsiaoping als ein roter Faden durch sein ganzes späteres Handeln, womit er seinen außenpolitischen Opportunismus rechtfertigte. Er revidierte von Mao Tsetung praktisch alle politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Maßnahmen, aber führt eine selbstgeschaffene revisionistische Theorie aus Legitimationsgründen auf ihn zurück.

Mit diesen Hintergründen wird auch klar, dass die Drei-Welten-Theorie Teil des revisionistischen Kursschwenks Deng Hsiaopings war und genutzt wurde, um vom Klassenkampf auf internationaler Ebene abzulenken.

Nachsatz

Aus den oben genannten Gründen ist das Drittweltlertum nicht nur falsch, sondern eine zutiefst konterrevolutionäre Theorie.

1Vgl. „Was tun?“ In: W. I. Lenin „Werke“, Bd. 5, Dietz Verlag, Berlin 1955, S. 379.

2Vgl. Karl Marx „Das Kapital“, Bd. 3 In: Karl Marx/Friedrich Engels „Werke“, Bd. 25, Dietz Verlag, Berlin 1964 S. 893.

3Ebenda.

4Die große Initiative“ (28. Juni 1919) In: W. I. Lenin „Werke“, Bd. 29, Dietz Verlag, Berlin 1984, S. 410.

5Die Aufgaben der Jugendverbände“ (2. Oktober 1920) In: W. I. Lenin „Werke“, Bd. 31, Dietz Verlag, Berlin 1966, S. 282

6Über den Staat“ (11. Juli 1919) In: W. I. Lenin „Werke“, Bd. 29, Dietz Verlag, Berlin 1984, S. 467.

11Karl Marx „Das Kapital“, Bd. I In: Karl Marx/ Friedrich Engels „Werke“, Bd. 23, Dietz Verlag, Berlin 1962 S.741.

12Über den Staat“ (11. Juli 1919) In: W. I. Lenin „Werke“, Bd. 29, Dietz Verlag, Berlin 1984, S. 465.

13Der Hauptfeind steht im eigenen Land!“ (Mai 1915) In: Karl Liebknecht „Gesammelte Reden und Schriften“, Bd. VIII, Dietz Verlag, Berlin 1966, S. 230.

23Karl Marx „Das Kapital“, Bd. II In: Karl Marx/Friedrich Engels „Werke“, Bd. 24, Dietz Verlag, Berlin 1975, S. 31.

24https://www.boerse.de/wissen/groesste-unternehmen-deutschland Die Umsätze der größten 100 deutschen Unternehmen sind hier zu finden.

50https://de.statista.com/statistik/daten/studie/164774/umfrage/konsumausgaben-private-haushalte/ Wenn man 348€ durch 30 Tage teilt. Wenn man 348€ durch 31 Tage teilt, dann kommen gerundet 11,23€ pro Tag für Nahrungsmittel raus.

52Ergebnisse des ersten Fünfjahrplans“ (7. Januar 1933) In: J. W. Stalin „Werke“, Bd. 13, Dietz Verlag, Berlin 1955, S. 177.

54Siehe: „Die Moderati und die Intellektuellen“ (H19 §27) In: Antonio Gramsci „Gefängnishefte“, Bd. 8, Argument Verlag, Hamburg 2019, S. 1980.

55Siehe: „Wissen ist Macht – Macht ist Wissen“ (5. und 24. Februar 1872) In: Wilhelm Liebknecht „Kleine politische Schriften“, Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig 1976, S. 133 ff.

56https://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.388567.de/11-45-1.pdf S. 3. Diese Studie zeigt auch einige Probleme auf, auf die ich bereits eingegangen bin.

57Vgl. „Amerikanismus und Fordismus“ In: Antonio Gramsci „Gefängnishefte“, Bd. 9, Argument Verlag, Hamburg 2019, S. 2087.

58Vgl. Ebenda, S. 2092.

60Vgl. „Amerikanismus und Fordismus“ In: Antonio Gramsci „Gefängnishefte“, Bd. 9, Argument Verlag, Hamburg 2019, S. 2093/2094.

63Siehe: „Amerikanismus und Fordismus“ In: Antonio Gramsci „Gefängnishefte“, Bd. 9, Argument Verlag, Hamburg 2019, S. 2094/2095.

64Die internationale Lage und die Verteidigung der UdSSR“ (1. August 1927) In: J. W. Stalin „Werke“, Bd. 10, Dietz Verlag, Berlin 1953, S. 43.

65Über den langwierigen Krieg“ (Mai 1938) In: Mao Tse-tung „Ausgewählte Werke“, Bd. II, Verlag für fremdsprachige Literatur, Peking 1968, S. 179.

67Vgl. Ebenda, S. 18.

72Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ (Januar – Juni 1916) In: W. I. Lenin „Werke“, Bd. 22, Dietz Verlag, Berlin 1971, S. 248.

73Vgl. Ebenda, S. 298.

74https://youtu.be/naK94oQO7T4 Diese Dokumentation hat nur teilweise mit dem Thema der kolonialen Ausbeutung zu tun, aber zeigt auf, wie Monsanto eine Mischung aus genmanipuliertem Saatgut, Düngemitteln und Pestiziden aus ihrer Monopolstellung heraus aufdrückt und wie sich das auf die Menschen und Umwelt in Argentinien auswirkt.

76Noch einmal über die Gewerkschaften, die gegenwärtige Lage und die Fehler der Genossen Trotzki und Bucharin“ (25. Januar 1921) In: W. I. Lenin „Werke“, Bd. 32, Dietz Verlag, Berlin 1982, S. 85.

77http://isj.org.uk/the-rate-of-profit-and-the-world-today/ Einige Informationen und veranschaulichende Grafiken zu dem Thema sind hier zu finden.

79Siehe: Walter Ulbricht „Die Bedeutung des Werkes ´Das Kapital´ von Karl Marx für die Schaffung des entwickelten gesellschaftlichen Systems des Sozialismus in der DDR und den Kampf gegen das staatsmonopolistische Herrschaftssystem in Westdeutschland“ (12./13. September 1967), Dietz Verlag, Berlin 1970, S. 26 ff.

80´Kommunismus´“ (12. Juni 1920) In: W. I. Lenin „Werke“, Bd. 31, Dietz Verlag, Berlin 1966, S. 154.

81Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ (Januar – Juni 1916) In: W. I. Lenin „Werke“, Bd. 22, Dietz Verlag, Berlin 1971, S. 198.

82Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus“ (Oktober 1916) In: Ebenda, Bd. 23, Dietz Verlag, Berlin 1975, S. 113.

83Engels an Marx“ (7. Oktober 1858) In: Karl Marx/Friedrich Engels „Werke“, Bd. 29, Dietz Verlag, Berlin 1978, S. 358.

84The Labour Aristocracy“ and Working-Class Struggles: Consciousness in Flux, Part 2 by Charles Post.

85Siehe: „Rede von Deng Hsiao-ping, dem Leiter der Delegation der Volksrepublik China, auf der Sondertagung der UNO-Vollversammlung“ (10. April 1974), Verlag für fremdsprachige Literatur, Peking 1974, S. 2. Er sagte dort: „Die USA und die Sowjetunion bilden die Erste Welt. Die Entwicklungsländer in Asien, Afrika und Lateinamerika sowie anderen Gebieten bilden die Dritte Welt. Und die entwickelten Länder, die sich zwischen diesen beiden Welten befinden, bilden die Zweite Welt.“

88Vgl. „Chruschtschow hat eine schwere Zeit“ (17. Januar 1964) In: Mao Zedong „On Diplomacy“, Foreign Languages Press, Beijing 1998, S. 393, Englisch.

89Siehe bspw.: „Gespräch während eines Zusammentreffens mit Persönlichkeiten der Sozialistischen Partei Japans“ (10. Juli 1964) In: Mao Zedong „Texte“, Bd. V, Carl Hanser Verlag, München/Wien 1982, S. 317. Mao sagte dort: „Die Völker von ganz Asien, Afrika und Lateinamerika sind alle gegen den amerikanischen Imperialismus. In Europa, Nordamerika und Ozeanien gibt es auch sehr viele, die gegen den (amerikanischen) Imperialismus sind. Imperialisten wenden sich auch gegen den (amerikanischen) Imperialismus. Wenn de Gaulle sich gegen Amerika wendet, so ist das ein Beweis dafür. Wir vertreten jetzt eine solche Ansicht, nämlich die zwei Zwischenzonen. Asien, Afrika und Lateinamerika sind die erste Zwischenzone. Europa, Nordamerika und Ozeanien bilden die zweite Zwischenzone.“

90Vgl. „China und Frankreich haben Gemeinsamkeiten“ (30. Januar 1964) In: Mao Zedong „On Diplomacy“, Foreign Languages Press, Beijing 1998, S. 399, Englisch.

91Vgl. „Gespräch mit Edgar Snow über internationale Angelegenheiten“ (9. Januar 1965) In: Ebenda, S. 418, Englisch.

92Siehe: „Wir begrüßen Frankreichs unabhängige Politik sehr“ (10. September 1964) In: Ebenda, S. 415, Englisch.

93Siehe: „Im Interesse der Zusammenarbeit der Sowjetunion und Frankreichs!“ (1. Dezember 1966) In: A. N. Kossygin „Ausgewählte Reden und Aufsätze 1939-1976“, Staatsverlag der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1977, S. 178 ff.

94Über die Frage der Differenzierung der Drei Welten“ (22. Februar 1974) In: Mao Zedong „On Diplomacy“, Foreign Languages Press, Beijing 1998, S. 454, Englisch.

95Siehe: „Wir müssen den Weltfrieden schützen und die heimische Entwicklung gewährleisten“ (29. Mai 1984) In: „Selected Works of Deng Xiaoping“, Vol. III, Foreign Languages Press, Beijing 1994, S. 66, Englisch.

96Siehe: „Ergreift die Möglichkeit, um die Wirtschaft zu entwickeln“ (24. Dezember 1990) In: Ebenda, S. 350, Englisch.

//