Der materielle Anreiz als einfache Konditionierung
Eine Theorie von Pawlow, die jedem, der sich einmal mit Biologie oder Erziehung befasst hat, bekannt sein dürfte: Die klassische Konditionierung.
Diese beruht ursprünglich auf einem Versuch, bei dem ein Hund immer nur dann gefüttert wurde, als man einen bestimmten Ton erklingen ließ (in diesem konkreten Fall eine Glocke)1. Dadurch bildete sich beim Hund nach einiger Durchführung des Versuchs durch das bloße Ertönen der Glocke Speichel, auch wenn er dann nicht gefüttert wurde. Es entstand durch die Konditionierung eine Verbindung zwischen dem akustischen Reiz und der Nahrungserregung der Geschmackszellen. Pawlow machte noch einen ähnlichen Versuch, bei dem der Hund bei der Ausführung des Kommandos „Gib die Pfote!“ oder „Pfote!“ etwas zu fressen bekam. Nach einiger Wiederholung gab der Hund von selbst die Pfote bei Appetit2. Wie aber auch beim Versuch mit dem Ton konnte die Verbindung zwischen der Bewegung und der Nahrungserregung verschwinden, wenn dieser längere Zeit nicht bekräftigt wurde, oder falls dieser auf irgendeine Weise gehemmt wird3.
Pawlow führte außerdem einen Versuch mit einem Schimpansen durch, der gezeigt bekam, wie Futter in eine Kiste gelegt und dann verschlossen wurde. Diese musste der Schimpanse nun mit einem von 15-20 Stöcken, die jeweils eine runde, viereckige sowie dreieckige Querschnittsform besaßen, öffnen. Nur mit dem richtigen Stock lässt sich die Kiste durch eine Öffnung aufmachen4. Pawlow widersprach zwei ausländischen Kollegen, die eine solche Rätsellösung allein der Intelligenz der Affen zuschreiben, indem er sagte, dass es sich dabei um einen Assoziationsprozess handele, den Hunde genauso könnten, wenn sie aufgrund ihrer Gliedmaßen dazu motorisch in der Lage wären und auch Kinder solche Aufgaben lösen könnten5.
Diese Versuche beinhalten einen materiellen Anreiz für ein erwünschtes Verhalten. Zusammen mit Strafen für unerwünschtes Verhalten bilden diese Ansätze die Grundlagen des Behaviorismus. Für uns ist aber in erster Linie der materielle Anreiz von Bedeutung, weil er eine positive Motivation bildet, etwas zu tun, im Gegensatz zur Strafe als negative Motivation.
Der materielle Anreiz bewegt zwar Werktätige dazu, mehr zu produzieren und damit der Gesamtgesellschaft zu nützen, aber schafft alleine keine sozialistische Moral. Es ist eher ein Hebel auf Instinktebene, als auf der Schwelle des Bewusstseins. Wenn man alleinig dem materiellen Anreiz den Vorrang gibt, die ideologische Hegemonie vernachlässigt und die aktive Rolle der Werktätigen missachtet, dann wird es einem nicht gelingen, die Gesellschaft entsprechend sozialistischer Denkweisen umzugestalten. Einen solchen Fall gab es bereits unter Liu Schaotschis Schirmherrschaft in China. Seine revisionistische Zielsetzung hatte für die bewusste und aktive Rolle der Werktätigen keinen Platz, also war es ihm gerade recht, bloß die materiellen Instinkte der Werktätigen anzusprechen. Während der Großen Proletarischen Kulturrevolution gab es über das Thema des materiellen Anreizes hitzige Debatten6. Eine Gruppe war dafür, den materiellen Anreiz vollkommen abzuschaffen, weil dieser nur dazu führe, dass das politische Bewusstsein auf der Strecke bleibt und an dessen Stelle die Gier nach mehr Boni tritt, egal auf welche Weise. Damit würde auch der Einkommensunterschied zwischen den Arbeitern zu groß werden. Eine weitere Gruppe war für die Beibehaltung des materiellen Anreizes, weil es dem Prinzip „jedem nach seiner Leistung“ entspräche. Eine dritte Gruppe war zwar für die Beibehaltung des materiellen Anreizes, aber der Reduktion der Boni, sodass diese für sich genommen keinen so großen Anreiz für sich darstellen und die politische Erziehung die Grundlage bleibt. Diese dritte Gruppe scheint den richtigen Ansatz zu haben. Man bräuchte einen fixen Prozentsatz beim an der Übererfüllung der Pläne oder anderer herausragender Leistungen geschaffenen Mehrprodukt, der als materieller Anreiz ausgezahlt wird, der sich am Prozentsatz des Arbeitslohnes zum geschaffenen Mehrprodukt orientieren sollte. Auf diese Weise bleibt der prozentuale Anteil stets gleichmäßig.
Die Konditionierung durch den materiellen Anreiz kann man am Anfang benutzen, um die Werktätigen anhand ihrer materiellen Erfolge zu zeigen, dass der Sozialismus ihnen ein gutes und gesichertes Leben beschert, mittelfristig im Sozialismus benutzen, um mit dem Gerechtigkeitssinn zu argumentieren „Wer mehr leistet, bekommt auch mehr!“, aber langfristig, im Hinblick auf den Kommunismus, wird man aufzeigen müssen, dass wichtiger als das eigene Portmonee die Versorgung der ganzen Gesellschaft ist und einem das eben mit nützt. Oder soll etwa im Kommunismus dieses Muttermal der alten Gesellschaft konserviert werden, sodass es noch dort Geld gibt, obwohl es das nicht geben dürfte? Wohl kaum! Kim Il Sung stellte richtigerweise fest: „Man kann nicht zum Kommunismus schreiten, wenn man es so macht, daß die Menschen nur Geld kennen. Um zum Kommunismus zu schreiten, muß die Wirtschaft entwickelt werden, aber man muß auch bei den Menschen das alte Bewußtsein verändern. Wichtig ist vor allem, zu erreichen, daß die Menschen bewußt, nach ihrem eigenen Willen arbeiten, das heißt, daß sie kommunistisch arbeiten.“7 Wenn wir die werktätigen Menschen so behandeln, als seien sie Pawlowsche Hunde, so braucht man sich nicht zu wundern, wenn sie ebenso wie Tiere in erster Linie den primitiven Instinkten folgen, statt in größeren Ordnungen zu denken.
Pawlow sprach zwar davon, dass er es gerne sah, wenn seine geistige Arbeit in körperlicher Arbeit umgesetzt wurde8, aber wir werden ihm wohl am wenigsten gerecht, wenn wir seine Erkenntnisse absolutisiert anwenden, als seien nicht bloß Teil eines großen Ganzen, nämlich der Summe aller wissenschaftlichen Erkenntnisse. Aus diesem Grund sollten wir dem materiellen Anreiz seinen historischen Platz in der Übergangsphase vom Kapitalismus zum Kommunismus, in der sozialistischen Gesellschaft, einräumen, und daran arbeiten, diese Methode durch Anhebung des Bewusstseins obsolet zu machen.
1 Siehe: „Zusammenfassung der Versuchsergebnisse mit der Exstirpation verschiedener Abschnitte der Großhirnhemisphären nach der Methode der bedingten Reflexe“ (1911) In: I. P. Pawlow „Ausgewählte Werke“, Akademie-Verlag, Berlin 1955, S. 218.
2 Vgl. „Der physiologische Mechanismus der sogenannten willkürlichen Bewegungen“ (1936) In: Ebenda, S. 230/231.
3 Vgl. Ebenda, S. 232.
4 Vgl. „(Versuche an Menschenaffen – Kritik der Vorstellungen von Yerkes und Köhler)“ (16. Mai 1934) In: Ebenda, S. 407/408.
5 Vgl. Ebenda, S. 408.
6 https://youtu.be/XnN1zofIs8o (Englisch) Ab 10:51.
7 „Über die Weiterentwicklung des Däaner Arbeitssystems“ (9. November 1962) In: Kim Il Sung „Reden und Aufsätze“, Bd. I, Verlag Roter Stern, Frankfurt (Main) 1971, S. 319.
8 Vgl. „Schreiben an das Treffen der Meister der Kohle des gesamten Donezgebietes“ (7. Januar 1936) In: I. P. Pawlow „Ausgewählte Werke“, Akademie-Verlag, Berlin 1955, S. 47.