Der Begriff der Freiheit
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Die Anhänger der Bourgeoisie reiten auf dem Wort „Freiheit“ gegen uns zum Angriff. Was das genau sein soll, das wissen sie selbst nicht, es ist bloß immer beim politischen Gegner nicht vorhanden. Der Revisionismus mag die Freiheiten der Werktätigen Stück um Stück beseitigt haben, zuerst die politischen Rechte, später die wirtschaftlichen Rechte, aber die Lakaien der Bourgeoisie können dort nicht mehr kritisieren, als wie sie selbst den Werktätigen nicht zugestehen. Wenn sie kritisieren, dass es keine Meinungsfreiheit gab – wo gibt es im Kapitalismus Meinungsfreiheit für die Werktätigen außerhalb eines Vieraugengesprächs oder einer kleinen Nischenpublikation? Selbst dort muss man aufpassen, denn auch wenn es formell verboten ist, so kann die politische Überzeugung Anlass bieten, einen Kündigungsgrund zu fingieren. Sonst ergeht es einem wie Frau Tschu in einem von Guo Moruos Theaterstücken, die zum König von Wei sagte „Ich sage immer die Wahrheit, denn ich weiß nicht, wie man sich etwas ausdenkt.“1 und am Ende wegen ihrer Aussagen hingerichtet wurde. Man läuft durch Unvorsichtigkeit ins offene Messer der Bourgeoisie und ihrer Lakaien. Die Nischenpublikationen sind, wie der Name schon besagt, klein und wenig massenwirksam, sind keine großen Medien. Wenn die großen Medien in den Händen der Bourgeoisie sind, in Konzernform, oder durch einen Rundfunkrat für die Staatsmedien, in denen die gleichen gekauften Parteipolitiker sitzen, wie im Bundestag, wie viel Freiheit steckt dort für die Werktätigen drin? Natürlich keine, lediglich die Kapitalisten haben die Freiheit ihre Sichtweisen in eine Echokammer zu rufen. Die Bourgeoisie und ihre Schreiberlinge zitieren oft Rosa Luxemburg gegen den Sozialismus aus dem Kontext: „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden.“2 Misst man die Bourgeoisie an ihren eigenen Maßstäben, so wird man erkennen, dass die Andersdenkenden im Kapitalismus, und damit sind nicht die bloßen verschiedenen Schattierungen der bürgerlichen Ideologie gemeint, sondern die Sozialisten, die wirklich entgegengesetzt denken, keineswegs von Freiheit reden können. Verleumdungen in Presse und Schulbüchern, keine Gelegenheit die eigene Meinung kundzutun vor größerem Publikum – so schaut die Praxis aus. Die politische Freiheit in Deutschland ist auf einen reinen Gang zur Wahlurne beschränkt, darüber hinaus besteht keine Kontrolle. Die Meinungsfreiheit ist faktisch auf eine Schattierung der bürgerlichen Ideologie beschränkt, alles darüber hinaus wird mit Härte bekämpft. Der Sinn dahinter ist, das kapitalistische System als „alternativlos“ darzustellen – das ist außerdem das Schlagwort, unter dem Angela Merkel im Namen ihres Kabinetts praktisch jede ihrer Maßnahmen versucht zu legitimieren. Aber solches Gerede von „Alternativlosigkeit“ bedeutet praktisch den Ausschluss einer demokratischen Debatte um Alternativen.
Die bürgerlichen Literaten des 18. und 19. Jahrhunderts thematisierten die Frage der Freiheit mehrfach. Damals stand die bürgerliche Revolution gegen den Feudalismus auf der Tagesordnung. Bei Goethe findet sich der berühmte Ausspruch: „Niemand ist mehr Sklave, als der sich für frei hält, ohne es zu sein.“3 Diese Worte kann man all jenen heutzutage entgegenschleudern, die ausgebeutete Objekte im Kapitalismus sind und trotzdem der Demagogie glauben, sie seien unter diesen Verhältnissen „frei“. Dennoch ist das keine Definition von Freiheit. Beim Baltendeutschen Jakob Lenz findet sich die Aussage: „Ein Ball anderer zu sein ist ein trauriger, niederdrückender Gedanke, eine ewige Sklaverei, eine nur künstlichere, eine vernünftige, aber eben um dessentwillen desto elendere Tierschaft.“4 Was daran „vernünftig“ sein soll, erschließt sich nicht, im Rest steckt etwas Wahres. Die Arbeiterklasse ist bloß der „Ball“ der Bourgeoisie, unter kapitalistischen Verhältnissen hängt ihr Leben und Sterben von der Lohnarbeit ab. Freiheit definierte Lenz als „Platz zu handeln“5. Das kommt der Wahrheit recht nahe, aber genügt natürlich nicht als vollständige Darlegung.
Freiheit ist im Allgemeinen, also im „Abstrakten“, die Nutzung seiner Möglichkeiten. Etwas tun dürfen, das ist Freiheit. Dieser abstrakte Begriff kann sich nur konkret manifestieren, sonst wäre dieser Begriff nicht gesellschaftsfähig, würde sich dadurch in sein Gegenteil wenden, weil man ihn auf die Spitze treibt. Deshalb bedarf es Beschränkungen, sodass eine Freiheit tatsächlich für jeden verfügbar ist. Gäbe es ein Recht auf Töten, so hätte niemand das Recht zu leben; weil es ein Recht auf Leben gibt, ist das Töten im Allgemeinen verboten. Das ist eben Dialektik. Natürlich gibt es für Letzteres in verschiedenen Ländern die verschiedensten Ausnahmen, besonders im Hinblick auf die Justiz, ganz abgesehen vom sterben lassen durch Elend. Dennoch ist dies ein Grundprinzip, auch wenn es auf verschiedene Arten eingeschränkt oder gar ausgehebelt wird. Ohne dieses Grundprinzip wäre die menschliche Gesellschaft als Ganzes unmöglich. Natürlich gibt es Menschen, die sich „die Freiheit nehmen“ gegen Regeln zu verstoßen, aber dafür werden sie vom Kollektiv in die Schranken gewiesen. Das ist ein Erhaltungsmechanismus einer bestehenden Ordnung. Diese kann variieren, wie man allein an der bürgerlichen Gesellschaft ersehen kann.
Die Freiheit des Privateigentums und der Lohnarbeit sind faktisch nur für die Kapitalisten vorhanden. In den Gesetzestexten sind diese Rechte pro forma „universell“, jedoch kann nur derjenige diese Rechte nutzen, der Kapital besitzt. Sie sind allgemein niedergeschrieben, aber so, dass sie nur auf eine bestimmte Gruppe der Bevölkerung, der Kapitalistenklasse, zutrifft. Das bürgerliche Recht betreibt Gleichmacherei auf dem Papier, obwohl die Realität in der bürgerlichen Gesellschaft eine solche vorausgesetzte Gleichheit nicht als materielle Grundlage. Lenin sagte einst: „Jedes Recht besteht in Anwendung von gleichem Maßstab auf ungleiche Individuen.“6 Das ist die Heuchelei des bürgerlichen Rechts: Jedem stehen formell alle Rechte zur Verfügung, aber zur Ausübung dieser Rechte bedarf es oftmals Mitteln, die ein einfacher Werktätiger nicht besitzt. Liberale mögen einwenden: „Wenn du so viel Geld wie ein Unternehmer hättest, könntest du diese Rechte ja ausüben.“ Das wäre korrekt, aber eine Tautologie des Problems: Die Existenz der Bourgeoisie als Klasse. Es gibt keine reale Aufstiegsmöglichkeit aus der Arbeiterklasse in die Bourgeoisie, denn woher soll das Startkapital kommen? Abgesehen davon kann nur ein sehr, sehr kleiner Teil der Bevölkerung, also praktisch Einzelpersonen, zur Großbourgeoisie aufsteigen. Auch das Kleinbürgertum geht aufgrund des Konkurrenzkampfes auf dem Markt zugrunde, wird zum Großteil proletarisiert, während ein ganz geringer Teil zur Mittelbourgeoisie und ein noch geringerer Teil zur Großbourgeoisie aufsteigt, wenn überhaupt. Die Freiheit der Bourgeoisie, Lohnarbeiter zu beschäftigen, ist wie das Recht auf Sklavenhaltung: Ein Besitzer braucht ein Objekt, das er besitzen kann. Man setzt also voraus, dass die Masse der Bevölkerung Lohnarbeiter sind, die man ausbeuten kann. Sonst würde dieses Recht wirkungslos werden. Es ist also King of the Hill in der Frage um die sozioökonomische Herrschaft, der Frage, wessen Freiheit gewahrt wird und wer dafür auf der anderen Seite beschränkt wird. Die Bourgeoisie hat im Faschismus ihre größte Freiheit, kann offen am tyrannischsten herrschen, denn die Werktätigen sind dort jeglicher formaldemokratischen Rechte beraubt, besitzen nur so viele Freiheiten, wie für die kapitalistische Reproduktion nötig; die Arbeiterklasse hat im Sozialismus und Kommunismus ihre größte Freiheit, denn sie wird vom ausgebeuteten Objekt zum herrschenden Subjekt, erbaut und regiert aus eigener Kraft. Das ist ein antagonistischer Widerspruch, ein Widerspruch zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten.
Man entkommt bei der Frage der Freiheit nicht der Dialektik. Freiheit und Einschränkung bilden eine dialektische Einheit der Gegensätze; sie sind nichtantagonistisch. Jedoch können gewisse Aspekte davon antagonistisch sein. Wie bereits aufgezeigt, bedürfen gewisse Freiheiten der völligen Einschränkung, weil die Folge sonst wäre, dass es keine weiteren geben könnte, so zum Beispiel beim Recht auf Töten im antagonistischen Widerspruch zum Recht auf Leben. Ob eine Freiheit gewährt wird und welchen Beschränkungen sie unterliegt, kann man nicht in der bürgerlichen Art und Weise als eine moralisierende Frage stellen, sondern muss von den konkreten Notwendigkeiten und Bedürfnissen der Gesellschaft ausgehen und das bedeutet in einer Klassengesellschaft eben von einem gewissen Klassenstandpunkt aus zu handeln. Es gibt keine „neutralen Freiheiten“, jede Freiheit und auch jede Beschränkung hat ihren angedachten Zweck. Man kann stets die Zweckmäßigkeit gewisser Freiheiten oder Einschränkungen in Frage stellen, aber man kann die Frage nicht so stellen, als könne man nur „absolute Freiheit“ oder „absolute Einschränkung“ haben. Real kann es solche abstrakten Schemen nicht in der Praxis geben. Kurt Eisner stellte einst Individuum und Kollektiv als solch einen Antagonismus gegenüber7, obwohl sich ein Kollektiv aus verschiedenen Individuen zusammensetzt und ein Individuum wiederum Teil eines Kollektivs ist. Einen ähnlichen Fehler machte einst Plechanow, als er Willensfreiheit und materielle Bedingungen als Antagonismus gegenüberstellte8, praktisch als „absoluten Willen“ und „absolute Materie“. Damit wäre Freiheit von vornherein unmöglich, wenn die Welt sich nach Plechanows Schema bewegen würde. Damit wäre Ersteres das idealistische „Primat des Willens“, während Letzteres eine mechanische Analogie von der Materie zum Denken wäre. Eisner und Plechanow besaßen eine Auffassung der Dialektik, als bestünde die Welt nur aus antagonistischen Widersprüchen. Darin liegt der Fehler: Nichtantagonistische Widersprüche, wie Freiheit und Einschränkung eben einen bilden, sind in einem bestimmten Verhältnis zueinander lösbar.
Ob und wie das Verhältnis von Freiheit und Einschränkung bei einem konkreten Sachverhalt sein muss, kann man nur dadurch herausfinden indem man diesen untersucht.
1„The Tiger Tally“ (1942) In: Guo Moruo „Five Historical Plays“, Foreign Languages Press, Beijing 1984, S. 296, Englisch.
2„Zur russischen Revolution“ In: Rosa Luxemburg „Gesammelte Werke“, Bd. 4, Dietz Verlag, Berlin 1979, S. 359.
3„Die Wahlverwandtschaften“ (1809) In: „Goethes Werke“, Gutenberg Verlag, Hamburg o. J., S. 139.
4„Über Götz von Berlichingen“ In: Lenz „Werke in einem Band“, Aufbau-Verlag, Berlin und Weimar 1986, S. 351.
5Ebenda, S. 352.
6„Staat und Revolution“ (August/September 1917) In: W. I. Lenin „Werke“, Bd. 25, Dietz Verlag, Berlin 1974, S. 479.
7Siehe: „Um Manchester“ (15. August 1896) In: Kurt Eisner „Sozialismus als Aktion – Ausgewählte Aufsätze und Reden“, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1975, S. 14. Er sagt dort: „Die Individualisierung beginnt erst, wo die Gemeinschafts-Institutionen aufhören.“
8Siehe: Georgi W. Plechanow „Über die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte“ (1898), Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig 1961, S. 11/12.