Das Recht, sich zu befreien
erschienen am 18.November 2019 via KenFM
Gläubige Betrachter der Tagesschau werden wieder einmal auf perfideste Weise am Nasenring durch die Manege geführt, was den bolivianischen Putsch betrifft. Wie immer, wenn auch die Bundesregierung und das Auswärtige Amt Dreck am Stecken haben, werden alle Mittel, von den subtilsten bis zum Gröbsten, eingesetzt, die Wirklichkeit zu verdrehen.
Da kommen Demonstranten ‚bei gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei ums Leben'(1), was die Vorstellung gleicher Gewalt von beiden Seiten hervorruft; eine Absurdität, wenn Polizei und Militär mit scharfer Munition gegen die Proteste vorgehen. Die ‚Proteste fordern immer mehr Opfer‘(2), nicht der Putsch, gegen die sie sich richten. Die Bilder, die die Beiträge illustrieren, sind sorgsam ausgewählt. Sie zeigen keine Panzer auf den Straßen, sondern erwecken eher den Eindruck armer, hilfloser Polizisten, die sich aggressiven Demonstranten gegenüber sehen. Und um das zentrale Wort, das die Ereignisse klar benennt, wird ein raffinierter Eiertanz aufgeführt: „Morales wirft seiner selbsternannten Nachfolgerin einen Putsch vor.“
Nun, wenn es aussieht wie eine Ente, quakt wie eine Ente und watschelt wie eine Ente, dann ist es vermutlich eine Ente. Der Duden (3) definiert Putsch als „von einer kleineren Gruppe [von Militärs] durchgeführter Umsturz[versuch] zur Übernahme der Staatsgewalt“, das ist eine zutreffende Beschreibung dessen, was in Bolivien geschehen ist. Die Tagesschau lässt dieses Wort aber nicht fallen, ohne es sogleich zu entwerten – es ist ja nur Morales, der einen Putsch ‚vorwirft‘. Nachdem Morales bereits mit dem Etikett ‚Machthaber‘ geziert wurde, als er noch in Bolivien war, soll diese Formulierung nahe legen, es handele sich genau darum nicht.
Den durch den Putsch erzwungenen Rücktritt von Morales bezeichnete Regierungssprecher Steffen Seibert (4) schließlich als „wichtigen Schritt hin zu einer friedlichen Lösung“. Damit war die offizielle deutsche Haltung zu diesem Ereignis gesetzt, und die Medienmeute folgt nur gehorsam der vorgegebenen Richtung (5). Auch wenn ein Putsch im Regelfall das genaue Gegenteil einer ‚friedlichen Lösung‘ ist, was jeder weiß, in dessen Gedächtnis Chile 1973 und Argentinien 1976 noch irgendwelche Erinnerungen aufrufen. Ein Putsch rechter Militärs ist immer eine Garantie für Gewalt, Folter und Mord. Es gab Zeiten, da wurde es Politikern vom rechten Rand der Unionsparteien überlassen, ihre Sympathie für die Militärdiktatur in Chile zu äußern, und Publikationen wie die ZEIT kritisierten sie scharf dafür (6) (den damaligen Artikel sollte man schon deshalb lesen, um zu erkennen, wie tief die deutsche Presse seither gefallen ist). Heute ist selbst das Neue Deutschland so weit im Hintern der deutschen Machtpolitik verschwunden, dass es allen Ernstes eine Pro- und Contra-Debatte über den Putsch publiziert (7), und der außenpolitische Sprecher der Grünen befindet, das Militär habe „die richtige Entscheidung getroffen“ (8).
Die deutsche Liebe zu den Putschisten steht also der US-amerikanischen in nichts nach, ebenso wenig wie die Gier nach den möglichst günstig zu erbeutenden Rohstoffen – die Kündigung eines Vertrags mit einem deutschen Konzern über Lithium-Abbau durch Morales dürfte dazu sein Teil beigetragen haben. Thomas Röper hat sich im Anti-Spiegel ausführlich damit befasst (9), was ihn dazu brachte, vom ‚Greta-Putsch‘ zu schreiben.
Die Unterstützer der Putschisten rekrutieren sich, wie schon in Brasilien und, weniger erfolgreich, in Venezuela, aus der weißen Mittelschicht. Das offenbart eine der Achillesfersen, die alle sozialdemokratischen Reformregierungen in Lateinamerika gemein haben. Sie alle, seien es Lula und Rousseff in Brasilien, sei es Morales, sei es Correa, hatten zwar durchaus Erfolg, die Lage vieler Menschen in ihren Ländern zu verbessern, selbst ohne die vorhandene Eigentumsordnung ernsthaft anzutasten. Als kleines Beispiel dafür mag genügen, dass noch Anfang der 1990er nur 13% der brasilianischen Bevölkerung eine Bildung besaßen, die einem Hauptschulabschluss entspricht, und nur 4% einen Universitätsabschluss hatten – im Jahr 2018 waren es bereits 55,6% der Jugendlichen aus der nicht-weißen Bevölkerungsmehrheit (10), die über den primeiro grão hinaus eine Schule besuchen konnten, was ein gewaltiger Fortschritt ist, selbst wenn bei den weißen Brasilianern der Anteil mit 78,8% immer noch bedeutend höher liegt.
Es sind aber genau diese Fortschritte, die aus der weißen Mittelschicht eine willige Verfügungsmasse für die Oligarchie und auswärtige Strippenzieher machen. Diese weiße Mittelschicht war es gewöhnt, sich Dienstpersonal leisten zu können und die gutbezahlten Stellen in Wirtschaft und Verwaltung für ihren Nachwuchs gleichsam fest gebucht zu haben, unabhängig von deren Fähigkeiten oder Leistung. Mehr als zehn Jahre expansiver Bildungspolitik haben aber Konkurrenz geschaffen, und auf Konkurrenz reagiert diese Klasse biestig. Das ließ sich selbst in Deutschland beim Volksentscheid zur sechsjährigen Grundschule in Hamburg beobachten (11). In Lateinamerika manifestiert sich diese Haltung noch deutlich stärker, wenn jene, die in Eigentumswohnungen mit Klimaanlage, drei Autos und Dienstmädchen leben, auf einmal ihre Kinder in Konkurrenz zu den Kindern jener wiederfinden, die in Hütten ohne Bad hausen und sich in die öffentlichen Busse drängen. Wenn die Privilegien der Hautfarbe in Frage gestellt sind, schwappt der vorhandene Rassismus auf breiter Front nach oben, und die Verachtung für die Mehrheitsbevölkerung, schwarz oder indigen, wird zum Antrieb eines faschistischen Mobs. (Und es hat seinen ganz eigenen Charme, wenn die Grünen, die sich hier so gern als Bannerträger des Antirassismus gerieren, ihn innig in die Arme schließen, in Bolivien wie schon in der Ukraine).
Die Entwicklung in ganz Lateinamerika wirkt aus der Ferne wie eine Wiederholung der Putschwelle von Guatemala (1954) bis Argentinien (1976) im Zeitraffer. Die jahrelang mehr oder weniger geduldeten sozialdemokratischen Regierungen werden alle miteinander ins Visier genommen und gestürzt; man könnte glauben, die koloniale Macht sei dabei, zu erstarken. In Wirklichkeit sind diese Handlungen aber Zeichen der Schwäche, und eine Reaktion auf einen neuen Spieler auf dem lateinamerikanischen Feld – China. Die Chinesen sind mittlerweile nicht nur für große Teile Lateinamerikas der wichtigste Handelspartner (12), sie sind auch die größten Investoren. Kein Wunder, dass das den Unmut (13) nicht nur der Vereinigten Staaten auslöst (auch die Konkurrenten um den bolivianischen Lithium-Vertrag waren Chinesen). Teile der Kompradorenelite könnte in Versuchung geraten, sich umzuorientieren. Der Versuch, die Zügel in Lateinamerika straffer zu ziehen, soll verhindern, dass sie ganz aus der Hand gleiten; anders ist auch nicht zu erklären, dass an so vielen Stellen gleichzeitig gezündelt wird.
Das Drama hat den letzten Akt aber noch lange nicht erreicht, denn auch die Bevölkerungsmehrheit der betroffenen Länder ist mit im Spiel. In Chile waren mittlerweile an einem Tag 3,7 Millionen Menschen auf der Straße, um gegen den neoliberalen Präsidenten zu protestieren; das ist beinahe jeder vierte Einwohner. In Brasilien hat Bolsonaro nicht halb so viel Diktatur erreicht, wie er gerne hätte, und befindet sich mittlerweile in einem Medienkrieg mit dem größten Fernsehsender Globo (14), der zuvor geholfen hatte, ihn an die Macht zu bringen. In Bolivien sind es nicht Tausende, sondern Zehn- oder Hunderttausende, die immer weiter gegen den Putsch protestieren, trotz Verhaftungen und trotz Dutzender Todesopfer (15). Die Aymara-Miliz Ponchos Rojos (16), die immerhin bis zu hunderttausend militärisch ausgebildete und vermutlich bewaffnete Mitglieder hat, hat zum bewaffneten Widerstand aufgerufen (17). Auch wenn sich die Putschisten auf extrem rechte, weiße Milizen stützen können und inzwischen Polizei und Militär Straffreiheit für jeglichen Gewaltakt garantieren (18), wird das nicht genügen.
Im mexikanischen Exil wurde Morales auch zum Aufruf der Ponchos Rojos befragt (19). „Mich überrascht, dass von Bürgerkrieg geredet wird, denn wenn die bewaffnete Macht nicht für die Demokratie einsteht, bedeutet das, dass das Volk gezwungen ist, sich zu bewaffnen. Wir haben das nicht gewünscht. Ich persönlich wünsche das nicht, aber wenn solche Gruppen entstehen, wenn wir auf einen Bürgerkrieg zusteuern, dann ist das die Schuld zuerst der extremen Rechten, und dann jener Kommandeure, die nicht für die Demokratie einstehen. Selbstverständlich hat das Volk das Recht, sich zu befreien.“
Das gilt nicht nur in Bolivien. Die an vielen Stellen gelegten Feuer könnten sich zu einem Flächenbrand vereinen, an dessen Ende ein neues Lateinamerika steht, das die alten kolonialen Fesseln endgültig abgestreift hat.
Nachtrag:
Inzwischen hat die Putschregierung eine Spezialeinheit bei der Staatsanwaltschaft eingerichtet, die Abgeordnete und Senatoren verhaften soll, die ‚Subversion‘ betreiben… Es kann nicht mehr geleugnet werden, dass hier von Faschisten die Rede ist.
Quellen:
- https://www.tagesschau.de/ausland/bolivien-ausschreitungen-tote-101.html
- https://www.tagesschau.de/ausland/bolivien-proteste-unruhen-101.html
- https://www.duden.de/rechtschreibung/Putsch
- https://www.arte.tv/de/afp/neuigkeiten/bolivien-steht-nach-ruecktritt-von-praesident-morales-vor-ungewisser-zukunft
- https://www.nachdenkseiten.de/?p=56297
- https://www.zeit.de/1977/51/was-strauss-in-chile-lobte/komplettansicht
- https://www.neues-deutschland.de/artikel/1128428.pro-ruecktritt-morales-loslassen-lernen.html?sstr=bolivien
- https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8102/
- https://www.anti-spiegel.ru/2019/die-hintergruende-der-ereignisse-in-bolivien-der-greta-putsch/
- https://agenciadenoticias.ibge.gov.br/en/agencia-press-room/2185-news-agency/releases-en/26015-blacks-and-browns-are-more-educated-though-inequality-in-relation-to-white-persons-remains
- https://www.spiegel.de/lebenundlernen/schule/volksentscheid-hamburger-schmettern-schulreform-ab-a-707179.html
- https://www.zeit.de/wirtschaft/2018-03/china-lateinamerika-einfluss-abhaengigkeit-ressourcen-gefahren
- https://www.handelsblatt.com/politik/international/investitionen-wie-china-immer-mehr-einfluss-in-lateinamerika-gewinnt/24468406.html?ticket=ST-10443259-RJ03uOfo3Y5Bbja234b1-ap2
- https://www.sueddeutsche.de/politik/bolsonaro-franco-mord-tv-sender-1.4663689
- https://twitter.com/Larissacostas/status/1195519316009111554
- https://www.clarin.com/mundo/ponchos-rojos-fiel-temible-milicia-aymara-evo-morales-pelea-conquista-espanola_0_DeuD2b_L.html
- https://www.youtube.com/watch?v=0C5znWBenm4
- https://amerika21.de/2019/11/234238/bolivien-tote-koka-bauern-zivilisten
- https://jornada.com.mx/2019/11/16/politica/014e1pol