Das Recht der Bourgeoisie – Eine Betrachtung von Paul Lafargue „Das Recht auf Faulheit“
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In der heutigen Zeit wird über das „Bedingungslose Grundeinkommen“ (BGE) viel diskutiert. Bedauerlicherweise wird es von allzu vielen Linken als Allheilmittel der bürgerlichen Gesellschaft angesehen. Dieser Gedanke ist aber gar nicht mal so neu, er tauchte schon in einer ähnlichen Weise 1883 bei Paul Lafargue auf in seiner Schrift „Das Recht auf Faulheit“. Damals wie heute wird das Problem in der Arbeit an sich gesucht, statt im Gesellschaftssystem, unter dem gearbeitet wird. Das ist der Kernfehler. Bevor ich aber zuviel vorwegnehme, möchte ich mit der Analyse von Lafargues Werk beginnen.
„Das Recht auf Faulheit“
In der Einleitung nannte Lafargue die kapitalistische Moral eine „jämmerliche Kopie der christlichen Moral“1, wobei er später schreibt, dass Jesus und Gott beide die Faulheit predigen würden2, abgesehen von seiner Vorstellung Gottes als einen „bärtigen alten Mann“, die bloß sein subjektives Denken widerspiegelt, worin sich zeigt, dass er nicht einmal die Transzendenz Gottes begriffen hat. Lafargue widerspricht sich also selbst gleich zu Beginn, indem er dem Christentum an zwei verschiedenen Stellen in seinen Ausführungen zwei entgegengesetzte Moralinhalte bescheinigt. Es sei vorweg angemerkt, dass solch ein Herangehen seiner idealistischen Methodik entspricht.
Im ersten Kapitel unterstellte Lafargue der Arbeiterklasse direkt in den ersten Zeilen, dass sie von einer „seltsamen Sucht“, der „Arbeitssucht“ befallen sei3. Immerhin gab er auch zu „weder Christ noch Ökonom, noch Moralist zu sein“4. Er gibt damit zu, dass er eine ökonomische Frage versucht zu beantworten, ohne Kenntnisse der Ökonomie. Lafargue sah es als positiv an, dass Spanien zu dieser Zeit noch nicht sehr industrialisiert war5 und dass man in der Sklavenhaltergesellschaft den Sklaven die Arbeit auflastete und sich die freien Männer anderen Tätigkeiten hingaben6. Das ist bloßer Romantizismus für eine noch rückständigere Ausbeutergesellschaft und eine Feindschaft gegenüber der industriellen Entwicklung, statt in ihren Produktivkräften die Grundlage für ein besseres Leben zu erkennen. Eine solche Kritik ist eine reaktionäre Kritik am Kapitalismus, nämlich durch ein „Zurück zu den vorherigen Ausbeutungsformen!“. „Alles individuelle und soziale Elend entstammt seiner [des Proletariats; L. M.] Leidenschaft für die Arbeit.“7, schreibt Lafargue. Für ihn steht nicht der antagonistische Widerspruch von Kapital und Arbeit im Zentrum, sondern bloß die „Leidenschaft für die Arbeit“. Lafargue sah das Problem der kapitalistischen Ausbeutung darin, dass die Arbeiterklasse eben arbeitete, nicht in der Ausbeutung durch die Extrahierung des Mehrwertes. Er ignorierte, dass die Arbeiter für ihren Broterwerb arbeiten und den Bedingungen unterworfen sind, die der Bourgeois an sie stellt, also was die Arbeitsnormen betrifft. Aber diese objektiven Bedingungen versucht Lafargue zu subjektivieren. Damit betreibt Lafargue aber eben keine dialektisch-materialistische Analyse, sondern bloße idealistische Zuschreibung von Geisteshaltungen. Das ist eine Abkehr vom Klassenkampf hin zu verfehlten reformistischen Forderungen nach Milderung der Umstände.
Im zweiten Kapitel behauptete Lafargue, dass man vorgehabt habe die „Faulheit auszurotten“ durch Arbeitshäuser und Napoleons Vorschlag, sogar am Sonntag arbeiten zu lassen8. Damit bewegt sich Lafargue auf bloßer Moralebene, welche die Faulheit als „gut“ und die Arbeit als „schlecht“ betrachtet. Den Zweck der Arbeit im Kapitalismus zur Erzeugung von Mehrwert, zur Ausbeutung, wird nicht analysiert. Das ist eine idealistische Anklage der kapitalistischen Ausbeutung, die auf die Arbeit per se übertragen wird9. Mit einer dialektisch-materialistischen Analyse hat dies nichts gemein. Lafargue vertritt nicht den marxistischen Standpunkt. Lafargue versteigt sich sogar von der „Religion der Arbeit“10 zu sprechen, als hätte die Arbeit nichts mit materiellen Werten zu tun. Mit der 1848er Revolution ging auch die Forderung nach dem Recht auf Arbeit einher. Lafargue sah dies nicht positiv, sondern merkte dazu an: „Schande über Euch, Proletarier!“11 Lafargue schwebte nicht das ausbeutungsfreie gleiche Recht sowie die gleiche Pflicht zur Arbeit vor, sondern bloß die Abschaffung der Arbeit. Wer die materiellen Werte der Gesellschaft schaffen soll, die eben nur durch menschliche Arbeit geschaffen werden kann, erwähnt der selbsterklärte Nichtökonom nicht. Anstatt eine Analyse der materiellen Bedingungen vorzunehmen, fiel er zurück in utopistische Anschauungen. „Es wäre besser, man vergiftete die Brunnen, man säte die Pest, als inmitten einer ländlichen Bevölkerung kapitalistische Fabriken zu errichten.“12 – So drückt Lafargue seinen Antikapitalismus von reaktionärer Seite aus. Anstatt eine sozialistische Revolution durchzuführen und die Kapitalisten zu enteignen, sollte man lieber im Feudalismus oder Manufakturkapitalismus stehenbleiben. Die Feministin Hedwig Dohm schrieb einst: „Ich bin des Glaubens, dass die eigentliche Geschichte der Menschheit erst beginnt, wenn der letzte Sklave befreit ist.“13 Sie war nicht einmal eine ausgesprochene Sozialistin und gab selbst an „Ich verstehe ja nichts von Politik“14. Dennoch wies sie voran in der Entwicklung der Geschichte und nicht rückwärts, wie Lafargue. Lafargue versucht sich der Entwicklung der Produktivkräfte entgegenzustellen, anstatt sich für eine Gesellschaftsordnung einzusetzen, die diese für die Bedürfnisse des werktätigen Volkes nutzbar macht, statt für den Profit der Bourgeoisie. „Arbeitet, arbeitet, Proletarier, vermehrt den Nationalreichtum und damit euer persönliches Elend. Arbeitet, um, immer ärmer geworden, noch mehr Ursache zu haben, zu arbeiten und elend zu sein. Das ist das unerbittliche Gesetz der kapitalistischen Produktion.“15 Lafargue trifft damit tatsächlich eine richtige Tendenz, aber er blendet den Klassenkampf durch das Proletariat völlig aus. Statt voranzuschreiten zum Kampf um den Sozialismus, versucht Lafargue sich gedanklich in die Vergangenheit zu flüchten. Er beschreibt übrigens die Anfänge der imperialistischen Konflikte um Absatzmärkte16, im Jahre 1883, als sein Werk veröffentlicht worden ist.
Auch im dritten Kapitel nimmt Lafargues Anschauungen keine materialistische Wendung. Er behauptet, die Proletarier würden „ohne Maß und Ziel“ arbeiten17. Damit blendet er aus, dass das Proletariat arbeitet, um den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen. Es hat also sehr wohl ein Ziel, einen Zweck. Lafargue zitiert einen antiken griechischen Dichter, der die Entwicklung der Produktivkräfte besang, konkret die Wassermühle18. Lafargue schrieb weiter: „Die blinde, wahnsinnige und menschenmörderische Arbeitssucht hat die Maschine aus einem Befreiungsinstrument in ein Instrument zur Knechtung freier Menschen umgewandelt: Die Produktivkraft ist die Ursache der Verarmung der Massen geworden.“19 Auch hier fehlt der Klassenkampf. Die Produktionsmittel tragen den Klassencharakters der Klasse, der sie gehören. Lafargue sieht jedoch die Produktionsmittel als handelnde Subjekte, obwohl sie lediglich Objekte sind. Lafargue behauptet, die Arbeiterklasse würde dadurch, dass sie dem Motto „Arbeit und Enthaltsamkeit“ folgen würde, die Bourgeoisie zu „erzwungener Faulheit und Üppigkeit, zur Unproduktivität und Überkonsum“ verurteilen20. Damit gibt er der Arbeiterklasse die Schuld an der Existenz der Diktatur der Bourgeoisie und der kapitalistischen Wirtschaft. Auf eine zynische Weise kann man diesen Vorwurf machen, indem man die Haltung annimmt, die Arbeiterklasse würde sich aus reiner Freiwilligkeit heraus bewusst ausbeuten lassen. Wenn dem aber so wäre, dann würden die Arbeiter wie Ameisenarbeiterinnen so geboren werden und ihr Schicksal unhinterfragt hinnehmen. Dann wäre die Menschheit aber eben nicht Menschheit, sondern Tierheit. Es würde außerdem nicht erklären, wozu die Bourgeoisie dann eines Zwangsapparates, des bürgerlichen Staates bedarf und warum es auch bei niedrigem Klassenbewusstsein immer wieder Ausdruck des Protests gibt gegen gewisse Aspekte der bürgerlichen Herrschaft. Lafargue führt Zahlen zur Berufstätigkeit der Bevölkerung von Wales an, womit er die Entwicklung der Produktivkräfte dokumentieren wollte, jedoch analysiert er diese nicht tiefgründig, sondern präsentiert sie lediglich21. Lafargue stellt zurecht fest, dass die Bourgeoisie ein „Parasitenleben“ führt, unterstellt der Arbeiterklasse jedoch abermals „unnatürliche Arbeitssucht“22, unter Ignorierung der ökonomischen Zwangslage. Er dokumentierte einige revolutionäre Bewegungen, die das Recht auf Arbeit im Kern hatten, wie auch die Parole „Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen.“23, welche von Paulus stammt24. Lafargue sieht nicht die revolutionäre Bedeutung dahinter. Die Bourgeoisie als Ausbeuterklasse ist damit unvereinbar, eben weil sie nicht arbeitet, eben weil sie ein Parasitenleben führt. Lafargue behauptet sogar, die Arbeiterklasse würde gar nicht konsumieren wollen25! Er zieht gar nicht in Betracht, dass die Löhne nicht ausreichen, um die produzierten Waren sich leisten zu können. Er behauptet, die Fabrikanten (also die Bourgeoisie) seien nur dazu da, um die „wahnsinnige Arbeitssucht der Arbeiter zu befriedigen“26. Er nennt sie sogar, als sei er ein Bischof, „lasterhafte Arbeitssucht“27. Diese ganzen Aussagen stellen die materiellen Verhältnisse auf den Kopf und versuchen sie, auf Denkweisen zurückzuführen, statt auf materielle Sachzwänge. So auch, wo er es darstellt, als würden die Arbeiter 12 bis 14 Stunden aus reiner „Arbeitssucht“ arbeiten wollen28. Nirgends geht es bei Lafargue um die wirklichen Lebensverhältnisse der Arbeiterklasse, um den Kampf des ökonomischen Überlebens. „Können die Arbeiter denn nicht begreifen, daß dadurch, daß sie sich mit Arbeit überbürden sie ihre und ihrer Nachkommenschaft Kräfte erschöpfen, daß sie, abgenutzt, vorzeitig arbeitsunfähig werden, daß sie alle schönen Anlagen in sich ertöten, nur um der rasenden Arbeitssucht willen?“29, fragte Lafargue. Da kann man die Gegenfrage stellen: Hält Herr Lafargue die Arbeiterklasse etwa für dumm und naiv? Lafargues Worte klingen danach, als würde die Arbeiterklasse jeden Tag völlig kostenlos arbeiten und sie würde nicht begreifen, dass man sie ausnutzt. Natürlich wird Mehrwert abstrahiert, aber es wird immerhin ein Lohn gezahlt, von dem der Arbeiter versucht über die Runden zu kommen. Das ist der ökonomische Boden, den Lafargue nicht anrührt, sondern stattdessen in anarchistischer Weise gegen die Arbeit per se zum Angriff reitet. Lafargue stellt es so dar, als sei das Ideal der Amerikaner die Faulheit gewesen30. Der amerikanische Traum war jedoch, als Kleinproduzent zu expandieren, war also benötigte sehr wohl einen Antrieb zur Arbeit. Er romantisiert hier also lediglich über Verhältnisse, die er nicht kennt. Aus solchem Stoff kann man Kolonialromane wie Karl May schreiben, aber eben keine Analyse.
Im vierten Kapitel behandelt Lafargue seine Idealvorstellungen. Gleich zu Beginn sprach er davon, dass man die Bourgeoisie davon „erlösen“ müsse „Allerweltskonsument“ zu sein und die Arbeiter dazu bringen sollte, mehr zu konsumieren, damit der Arbeitsmarkt überfüllt werde, sodass man „gezwungen sein wird, die Arbeit zu verbieten“31. Hier zeigt sich nochmals sehr offen seine bürgerliche Grundüberzeugung. 1. Stellt Lafargue es so dar, als sei die Bourgeoisie leidtragend; 2. Sieht Lafargue noch immer in seinem Ideal einen Arbeitsmarkt vor, der aber eben bedeutet, dass Privateigentum von Produktionsmitteln und daraus folgend Lohnarbeit besteht; 3. Will Lafargue die Arbeit verbieten, wobei sich da die Frage stellt, wer dann die Güter der Gesellschaft herstellen soll. Lafargue schlug vor, dass die Arbeiterklasse genauso unproduktiv sein solle, wie die Bourgeoisie und versprach statt „20 oder 30 Gramm zähes Fleisch“ ganze „saftige Beefsteaks von ein oder zwei Pfund“, sowie „volle Gläser“ gefüllt mit Wein32. „Die Proletarier haben sich in den Kopf gesetzt, die Kapitalisten zu zehn Stunden Gruben- oder Fabrikarbeit anhalten zu wollen – das ist der große Fehler, die Ursache der sozialen Gegensätze und der Bürgerkriege. Nicht auferlegen, verbieten muß man die Arbeit.“33, schrieb Lafargue. Sein Ideal war also eine Gesellschaft, die nur noch aus Bourgeoisie besteht, völlig ohne Werktätige. Zum einen unterstellt er den Proletariern, dass sie am Klassengegensatz schuld seien, zum anderen sieht er von seinem Elfenbeinturm nicht, dass die Güter von jemandem erzeugt werden müssen, die dann auf den Tellern landen. Lafargue vertrat damit sehr dekadente Anschauungen, die nur von einem bürgerlichen Intellektuellen stammen können. So auch diese utopistische Ansicht: „Die gesellschaftliche Zwietracht verschwindet. Einmal überzeugt, daß man ihnen durchaus nichts Übles antun, sondern nur von der Plage, Überkonsumenten und Verschleuderer sein zu müssen, befreien will, werden die Kapitalisten und Rentiers die ersten sein, die sich zur Partei des Volkes schlagen.“34 Lafargue tut so, als hätte es nie eine Bettina von Arnim gegeben, die in utopisch-sozialistischer Weise Bettelbriefe an den preußischen König, den obersten Vertreter der herrschenden Klasse damals, schrieb, man solle das Elend der Massen beenden. Lafargues Denkfehler ist es, anzunehmen, dass die Bourgeoisie, der alles gehört, ein Leidensdruck dadurch entstehen würde. Wie soll das geschehen, ihnen geht es materiell übermäßig gut, so gut wie sonst keinen anderen Menschen in der kapitalistischen Gesellschaft. Es geht allein ihnen so gut. Der Leidensdruck kann nur rein moralischen, also idealistischen Ursprungs sein. Wie man bei Friedrich Engels ersehen kann, gibt es tatsächlich einige aus der Bourgeoisie stammende Menschen, die sich deshalb auf die Seite der Arbeiterklasse schlagen. Das sind aber Einzelfälle, man kann solche Menschen in den vergangenen 200 Jahren weltweit gesehen fast an einer Hand abzählen. Die meisten Kapitalisten, mehr als 99% von ihnen, werden eher solche Statements kundtun, wie es die Tochter eines Großkapitalisten Verena Bahlsen im Frühjahr 2019 tat: „Ich bin Kapitalistin. Mir gehört ein Viertel von Bahlsen und da freue ich mich auch drüber. Es soll mir auch weiterhin gehören. Ich will Geld verdienen und mir Segelyachten kaufen von meiner Dividende und so was.“35 Das materielle Interesse steht tausendmal höher als idealistischer moralischer Leidensdruck. „Bittere Vergeltung wird man an den Moralisten nehmen, welche die menschliche Natur verdreht haben, an den Heuchlern und Scheinheiligen, die öffentlich Wasser predigen und heimlich Wein trinken.“36, schrieb Lafargue. Die Bourgeoisie will Lafargue schonen, aber ihre Handlanger will er brutal bestrafen. Das hat den Sinn, als würde man tollwütig auf eine Marionette einschlagen aus Hass auf das, was der Marionettenspieler mit dieser einem angetan hat. Damit kann man Lafargue selbst Doppelmoral vorwerfen, welche er doch angeblich so sehr verachtet. Lafargue endet mit einem Plädoyer gegen die Menschenrechte, weil sie das Recht auf Arbeit enthalten37. Sein Schlusswort lautet: „O Faulheit, Mutter der Künste und der edlen Tugenden, sei Du der Balsam für die Schmerzen der Menschheit.“38 Eigentlich beleidigt Lafargue damit die Kunst, indem er sie mit Faulheit in Verbindung bringt. Damit sagt er zwischen den Zeilen, dass das ja „keine richtige Arbeit“ sei. Aber da steckt nun mal Arbeitskraft drin und es nützt der Entwicklung der Gesellschaft. Außerdem erinnert dies an eine religiöse Beschwörungsformel. Anbetracht dessen, dass er nie die Frage stellt, warum überhaupt gearbeitet werden muss, nämlich um die gesellschaftlichen Güter zu erzeugen, ist es auch nicht mehr als eine Scheinreligion. In der Praxis funktionieren kann es nämlich nicht, was er erstrebt.
Dem Werk liegt noch ein Anhang bei: „Eine Auseinandersetzung mit den Moralisten“. Dort äußert Lafargue nichts, was er nicht schon in seinen vorangegangenen Ausführungen Nach einem längeren Zitat von Cicero merkte er an: „Ein Bürger, der seine Arbeit für Geld hergibt, erniedrigt sich zum Rang eines Sklaven; er begeht ein Verbrechen, das jahrelanges Gefängnis verdient!“39 Völlig fremd von den realen Lebensbedingungen der Arbeiterklasse, der nichts anderes übrigbleibt. Lafargue behauptet, man sei schon soweit, dass die Maschinen selbstständig jegliche Arbeit erledigen könnten40. Tatsächlich stimmte das nicht. Auch heute, wo vieles noch deutlich weiter automatisiert ist, so braucht es dennoch menschlicher Arbeit. So zum Beispiel bei der Überwachung der Arbeitsprozesse, der Abfertigung, dem Transport, der Programmierung und so weiter. Das betrifft allein den produzierenden Sektor, nicht einmal die sozialen Berufe, welche man nicht mechanisieren kann. Man kann die Arbeit vereinfachen, aber nicht beseitigen. Lafargue nannte die Lohnarbeit „die schlimmste aller Sklavereien“41. Es ist die letzte der Ausbeutergesellschaften, aber nicht unbedingt die schlimmste. Man kann zwar argumentieren, dass noch nie so viele Menschen unter einem Ausbeutungssystem zu leiden hatten, wie heute, aber genauso kann man anführen, dass die vorhergegangenen Ausbeutergesellschaften noch primitiver gewesen sind, die Lebenshaltung niedriger war und zum Beispiel ein Sklave nicht einmal das formelle Recht hatte, zu leben, wenn sein Halter ihn loswerden wollte. Lafargue moralisiert also gegen den Verlauf der Geschichte, anstatt die positive Seite zu sehen, dass der Kapitalismus durch den Sozialismus beseitigt werden muss und damit die letzte Schlacht gegen die Ausbeuterklassen ausgefochten wird.
Als Schlussresümee muss man anmerken, dass Lafargue sehr viel sich über einzelne Aspekte des Kapitalismus empört, aber daraus nicht die richtigen Schlüsse zieht. Seine Anschauungen sind ein Rücktritt in utopische Anschauungen. Lafargue versuchte die Arbeiterklasse vom Klassenkampf wegzuführen und stattdessen weiszumachen, sie müssten bloß Müßiggang einlegen und er sah die noch rückständigeren Formen der Ausbeutung als „besser“ an, als die Lohnarbeit. Dabei waren diese keineswegs minder grausam, sie waren lediglich vergangene Zeiten, über welche Lafargue an manchen Stellen romantisierte, wie der antiken griechischen Sklavenhaltergesellschaft. Lu Hsün sagte einmal: „Mit Tinte geschriebene Lügen können niemals Fakten verbergen, die mit Blut geschrieben sind.“42 Eine Verklärung der vorkapitalistischen Ausbeutung kann diese nicht schöner machen, als sie tatsächlich war. Lafargues Anschauungen können nur einer Schreibstube entsprungen sein, nicht der Analyse der realen Lage. Er unterstellt den Arbeitern, dass sie sich freiwillig so schinden lassen würden und blendet den ökonomischen Zwang aus. Er mag diesen als Intellektueller damals nicht so gespürt haben, wie die einfachen Werktätigen, was zu solchen Anschauungen führt, wenn man seine eigene Situation nicht reflektiert. Seine Vorschläge sind nicht minder realitätsfremd, wie solche von Franziska Schreiber, mit dem Unterschied, dass Lafargue dabei einen fortschrittlichen Anspruch besitzt. Im Kern jedoch geht es um die Umgehung des antagonistischen Widerspruchs von Kapital und Arbeit bei beiden. Dem liegt eine idealistische Auffassung von Welt und Geschichte zugrunde, auch wenn er ein harter Kritiker der Religion war. Atheist zu sein ist nicht damit gleichzusetzen, eine materialistische Weltanschauung zu besitzen. Lafargue warf dem Christentum wahlweise Faulheit und kapitalistische Antreibermoral vor. Sein atheistisches Zelotentum ähnelt dem der heutigen „Neuatheisten“, welche für alle gesellschaftlichen Missstände die Existenz von Religionen als Sündenbock bemühen. Das ist nicht weniger idealistisch und damit anti-materialistisch, wie es Atheisten der Religiosität vorwerfen. Bei der Betrachtung eines solchen Zelotentums für den Atheismus ist es nicht verwunderlich, dass Marx und Engels diesen noch immer als eine Religion einstuften, durch die „negative Anerkennung Gottes“43. So viel zu Lafargue. Was macht ihn so relevant, obwohl er buchstäblich keinen richtigen Gedanken zur Ökonomik dargelegt hat in einem Werk, das eine ökonomische Frage zum Kerninhalt hat? Weil sein Denken, auch wenn man nicht sagen kann, dass dies bewusst geschehen würde, von den Anhängern des BGE in einer ähnlichen Weise vertreten wird.
Was wollen die Anhänger des BGE?
Die Beseitigung von Hartz IV und die Ersetzung durch bezahlte Arbeitslosigkeit, wenn man es herunterbricht44. Ein Einkommen „ohne Zwang zur Arbeit.“45, wie es ein Netzwerk, welches das BGE unterstützt, ausdrückt, bedeutet praktisch nichts anderes als ein „Recht auf Faulheit“. Solche Forderungen sind auch für den Sozialismus und Kommunismus inkompatibel, wo es Recht und Pflicht zur Arbeit gibt. Lafargue schrieb: „Ihr seid Freunde des Einzelhandels? Fördert den Warenumsatz; hier habt ihr Konsumenten wie gerufen; eröffnet ihnen unbegrenzten Kredit.“46 Ein solches Statement hätte auch von Ralph Boes kommen können47, der jahrelang als „Hartz-IV-Rebell“ sich für das BGE einsetzte. Er behauptete sogar einmal verbalradikal, er sei bereit sich „zu Tode zu hungern“48. Dies ist nicht geschehen. Lu Hsün sagte einmal, dass man, wenn man selbst nicht bereit ist, sich für eine Sache aufzuopfern, auch kein Recht habe, andere dazu aufzufordern49. In diesem Falle kündigte Boes jedoch ein Martyrium an, das er nicht durchzog. Jedenfalls ist auch hier das Kernproblem, dass letztendlich nicht die Bourgeoisie dafür zahlt, sondern die Werktätigen mit ihren Steuern. Man tritt damit bloß auf eine Konsumumverteilung innerhalb der Werktätigen ein, aber beseitigt keineswegs die Ausbeutung.
Die Bourgeoisie hat das Recht auf „Freiheit von der Freiheit“. Das mag merkwürdig klingen, aber es handelt sich hier um zwei Arten der Freiheit: Die „Freiheit“ ausgebeutet zu werden und die Freiheit, andere auszubeuten. Die Bourgeoisie hat die Freiheit von der „Freiheit“ des Arbeitsmarktes. Diese Freiheit der Bourgeoisie ist es, die die Anhänger des BGE auch für die Werktätigen fordern. Das ist weder umsetzbar, noch nützlich für uns. Es wird entweder zu einer hohen Inflation führen, dadurch, dass die arbeitende Bevölkerung hohe Steuern zahlt und der Anreiz, nicht zu arbeiten, größer ist oder die Bezugssätze werden so niedrig sein, dass sie wertlos sind. Andere Ausgänge gibt es nicht, immerhin handelt es sich dabei um eine Anschauung, die auf dem Warenfetischismus fußt. Es nützt nichts, bloß Geld zu drucken, denn für dieses Geld muss es auch einen realen Gegenwert in Produkten geben. Diesen gibt es aber nicht, wenn niemand arbeitet.
Das BGE und Lafargues Anschauungen sind sich beide sehr ähnlich und sind beide eine Form des Bourgeoisie“sozialismus“. „Sie wollen die Bourgeoisie ohne das Proletariat.“50, warfen schon Marx und Engels den Bourgeoisie“sozialisten“ vor. Anstatt Klassenkampf zu führen gegen die Ausbeutung, soll die Arbeiterklasse versuchen unter kapitalistischen Verhältnissen zu müßig und dekadent zu leben, wie die Bourgeoisie selbst. Wir Marxisten müssen die Unzulänglichkeit solcher Reformvorschläge aufzeigen und dass eine „Abschaffung der Arbeit“ nicht möglich ist, es aber darauf ankommt, sie für jeden so gleichberechtigt wie möglich, frei von Ausbeutung, zu ermöglichen im Sozialismus und Kommunismus. Das bedeutet natürlich auch eine Reduktion der Arbeitszeit und mehr Zeit für die Wahrnehmung von Bildungsangeboten. Aber das ist eben nicht „Faulheit“, wie Lafargue der Kunst unterstellte, sondern eben ein Katalysator für die Verbesserung der Arbeit. Die Arbeit im Kapitalismus dient nur dem Profit der Bourgeoisie, im Sozialismus dient die Arbeit der Verbesserung der Lebenshaltung der Massen. Es ist nun mal so: Ohne Fleiß, keinen Preis! Das gilt, seitdem die Menschheit besteht und solange sie bestehen wird. Wir können und müssen die Umstände der Arbeit verändern, welche von den sozioökonomischen Verhältnissen bestimmt werden. Wir dürfen uns nicht dem falschen Gedanken hingeben, man könnte die Arbeit an sich abschaffen.
1Paul Lafargue „Das Recht auf Faulheit u. a. Ausgewählte Texte“, Verlag Monte Verita, Wien o. J., S. 6.
2Vgl. Ebenda, S. 12.
3Vgl. Ebenda, S. 9.
4Ebenda.
5Vgl. Ebenda, S. 11.
6Vgl. Ebenda, S. 11/12.
7Ebenda, S. 13.
8Vgl. Ebenda, S. 15/16.
9Siehe bspw.: Ebenda, S. 18.
10Ebenda, S. 16.
11Ebenda, S. 17.
12Ebenda, S. 24.
13„Ich bin des Glaubens“ (1878) In: Hedwig Dohm „Ausgewählte Texte“, trafo Verlag, Berlin 2006, S. 32.
14„Der Missbrauch des Todes“ (1917) In: Ebenda, S. 287.
15Ebenda, S. 26.
16Siehe: Ebenda, S. 31/32.
17Vgl. Ebenda, S. 33.
18Siehe: Ebenda, S. 34.
19Ebenda, S. 34/35.
20Vgl. Ebenda, S. 37/38.
21Siehe: Ebenda, S. 41 ff.
22Vgl. Ebenda, S. 43.
23Siehe: Ebenda, S. 44.
242. Thessalonicher 3, 10 In: „Bibel – Neues Testament mit Psalmen und Sprüchen“, Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 1999, S. 433.
25Vgl. Paul Lafargue „Das Recht auf Faulheit u. a. Ausgewählte Texte“, Verlag Monte Verita, Wien o. J., S. 46.
26Vgl. Ebenda, S. 48.
27Ebenda, S. 49.
28Vgl. Ebenda, S. 50.
29Ebenda, S. 54.
30Siehe: Ebenda, S. 55.
31Vgl. Ebenda, S. 56.
32Vgl. Ebenda, S. 57/58.
33Ebenda, S. 58.
34Ebenda, S. 59.
36Paul Lafargue „Das Recht auf Faulheit u. a. Ausgewählte Texte“, Verlag Monte Verita, Wien o. J., S. 60.
37Siehe: Ebenda, S. 64/65.
38Ebenda, S. 65.
39Ebenda, S. 70.
40Vgl. Ebenda, S. 72/73.
41Ebenda, S. 73.
42„Mehr Rosen ohne Blüten“ (18. März 1926) In: Lu Xun „Selected Works“, Vol. II, Foreign Languages Press, Beijing 1980, S. 260, Englisch.
43„Die heilige Familie“ (September bis November 1844) In: Karl Marx/Friedrich Engels „Werke“, Bd. 2, Dietz Verlag, Berlin 1962, S. 116.
44http://wir-sind-boes.de/ Nichts anderes, nur blumiger formuliert, findet sich hier als Forderung.
46Paul Lafargue „Das Recht auf Faulheit u. a. Ausgewählte Texte“, Verlag Monte Verita, Wien o. J., S. 28.
47https://youtu.be/HDJqxazHZWQ Dieses Interview zum Beispiel.
48https://youtu.be/fi2sF7C-9ns Ab 4:26.
49Vgl. „Über die Intellektuellenklasse“ (25. Oktober 1927) In: Lu Hsün „Der Einsturz der Lei-feng-Pagode“, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 1976, S. 81.
50„Manifest der Kommunistischen Partei“ (Dezember 1847/Januar 1848) In: Karl Marx/Friedrich Engels „Werke“, Bd. 4, Dietz Verlag, Berlin 1977, S. 488.