Das Problem des Kulturkonservatismus
Die Kultur entwickelt sich mit dem Anwachsen der Produktivkräfte weiter. Es kommen neue Musikinstrumente hinzu, neue Arten der Bildgestaltung und die dazugehörigen Formen. Das ist der natürliche Lauf der Dinge. Ein Problem ist es, wenn sich gewisse Personen, darunter auch einige Genossen, dem entgegenstellen. Wie könnte sich die Gesellschaft denn weiterentwickeln, wenn jeder Fortschritt auf den verschiedenen Bereichen von Technik und Kultur bekämpft wird? Das ist in etwa so, als würde man sich am Rasen vergreifen, um die Erde von der Umdrehung abzuhalten.
Zur Rockmusik. Bekanntlicherweise war Rockmusik lange Zeit von der DDR-Führung verpönt und es brauchte bis in die frühen 80er Jahre, um sich trotz der Widerstände zu etablieren. Genosse Heinz Ahlreip sagte darüber: „Die Musik ist gefährlich.“1 Er ist nicht der einzige Genosse, der so denkt, mir sind auch weitere Genossen bekannt, sowohl aus Deutschland, als auch dem Ausland, die ähnliche Ansichten äußerten. Genosse Heinz Ahlreip jedoch sagte dies in aller Öffentlichkeit, weswegen ich ihn hier anführe stellvertretend für alle anderen. So pauschal kann man Rockmusik nicht in den Boden stampfen. Gefährlich sind die Inhalte, aber nicht die Musikform an sich. Stern Meißen2 war zum Beispiel eine DDR-Rockband und keiner kann mit Ernst behaupten, diese hätten die DDR mit „gefährlichen“ Schallwellen ins Wanken gebracht. Es sind hauptsächlich ältere Genossen, die dennoch offenbar einen Sündenbock suchen oder einfach einen herbeigezogenen Grund, um ein Genre zu bekämpfen, das ihnen persönlich nicht gefällt. Da bleibt nur das, was Lu Hsün einst sagte: „Frei heraus sprechen, mutig vorgehen, ohne Rücksicht auf persönliche Interessen und ohne übertriebenen Respekt vor den Alten, aufrichtig die eigene Meinung sagen.“3 Wir jüngeren Genossen mögen zum Beispiel in der breiten Tendenz Schlager nicht. Dennoch denkt keiner daran, Anschuldigungen zu erfinden, um ein Verbot begründen zu wollen oder dieses Musikgenre per se schlechtzureden. Hanns Eisler sagte einmal: „Der moderne Komponist muß sich aus einem Parasiten in einen Kämpfer verwandeln. Im Interesse der Musik müssen wir uns fragen: Welche soziale Haltung ist die nützlichste? Wenn wir eingesehen haben, daß die heutige Gesellschaftsform die Musikbarbarei produziert, so müssen wir versuchen, sie zu ändern.“4 Der Kapitalismus bringt seine Musikwerke hervor, wie der Sozialismus die seinigen. Die Internationale kann man auch als Rockversion spielen zum Beispiel5. Es liegt nicht am Genre, sondern am eingefüllten Inhalt.
Die Ablehnung von gewissen Kunst-, Literatur- und Musikformen geht durch die Geschichte. Die kollektive Erinnerung schaut zum Beispiel auf die Verteufelung von Jazz als „Negermusik“ durch die Hitlerfaschisten, sowie die „entartete Kunst“, wie die Nazis Werke progressiver Künstler nannten. Das ist ein extrem reaktionäres Beispiel, woran sich kollektiv noch viel erinnert wird. Deshalb liefert es ein umso traurigeres Bild ab, wenn auch in unseren Reihen Formen bekämpft werden, obwohl das Problem an der Nutzung eben dieser bloß durch Personen entsteht, die diese Gefäße mit reaktionären Inhalten füllen. Bei Lunatscharski taucht zum Beispiel die Ablehnung des Foxtrott-Tanzes auf6. Der russische Philosoph Belinski sagte einmal: „Geschaffen wird der Mensch von der Natur, weiterentwickelt und geformt jedoch durch die Gesellschaft.“7 Diese reaktionären Inhalte entströmen doch nicht aus den Formen der Kunst, sondern der Gesellschaftsordnung. Im Kapitalismus werden nun mal Künstler im Dienste der Bourgeoisie dafür bezahlt, das zu tun, was von ihnen abverlangt wird. Die Kunst ist eben nur eine Ware im Kapitalismus8. Das ist unabhängig von ihrer Form.
Was ist Kunst eigentlich? Dimityr Blagoew schrieb einst in einem Artikel über die Kunstauffassung von Tolstoi das hier dazu: „Die Kunst ist eine Tätigkeit, durch die ein Mensch bewußt mit bestimmten äußeren Zeichen anderen Empfindungen mitteilt, die er selber empfunden hat, sie damit ansteckt und sie diese nacherleben läßt.“9 Das ist kein bloßer Idealismus, sondern darin steckt etwas Wahres. Bei geschriebenem Wort ist dieser Effekt schwieriger zu erzeugen, aber die Musik ist auch eine Kunstform, mit welcher man Stimmung beeinflussen kann. Wer sich zum Beispiel das Lied „Seemann“10 von Rammstein angehört hat, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit von der Melancholie des Liedes erfasst worden sein. Diese Empfindungen, Eindrücke von der Umwelt, die abgebildet werden, sind eben ein Spiegel der gesellschaftlichen Umstände bzw. ihrer Teilaspekte.
Die Bourgeoisie mag heute sich selbst als der „normale Standpunkt“ darstellen, als sei ihre Denkweise die einzig menschlich mögliche. Auch im Kulturwesen wird so getan, als seien die bürgerlichen Produktionen „neutral“. Die revolutionäre Bourgeoisie betrieb kein solches Versteckspiel aus Angst davor, dass die Massen ihren Klassenstandpunkt erkennen. Nachdem Napoleon sich vom Papst zum Kaiser krönen ließ, lehnte es Ludwig van Beethoven ab, eine Sonate auf Frankreich zu verfassen, weil sich „alles wieder ins alte Gleiss zu schieben sucht“11. Die Arbeitermusik mit Musik von Hanns Eisler, Texten von Bert Brecht und Gesang von Ernst Busch trat nicht weniger offen für den proletarischen Standpunkt ein, wie Beethoven für den bürgerlichen. Lunatscharski stellte einst fest: „Jede Klasse hat ihr Weltverständnis und Weltgefühl. Freilich ist es für die oberen Klassen leichter, sie zu bestimmen und auszudrücken, aber die herrschende Kunst ist die Kunst der Herrschenden, und sie kann die untere Klasse, die kraftvoll wächst und nach Freiheit strebt, nicht zufriedenstellen, und so wie es zweifellos eine aristokratische, eine bürgerliche, eine kleinbürgerliche Kunst gibt, so muß auch eine proletarische Kunst entstehen.“12 Dies hängt mit der ideologischen Hegemonie zusammen, die die Bourgeoisie ausübt. Es ist aber eben falsch zu sagen, dass eine Kunstform schlecht sei, nur weil sie Bourgeoisie sich dieser bedient. „Die Selbstständigkeit des proletarischen Schaffens äußert sich in einer keineswegs unkünstlerischen Originalität und setzt die Vertrautheit mit allen Früchten der vorangegangenen Kultur voraus.“13, wie Lunatscharski in einem Thesenpapier ausführte. Man muss das Allgemeinmenschliche aus den vorangegangenen kulturellen Errungenschaften extrahieren14. Dazu gehören nicht nur einige in den Kunstwerken behandelte Themen, die in der Menschheitsentwicklung eine bedeutende Rolle spielten und spielen, sondern eben auch deren Ausdrucksformen. Nur weil sich Kunstformen unter den Ausbeutergesellschaften entwickelten, so sind sie dennoch nicht abzulehnen. Es ist wie Thomas Mann mal sagte: „Der Geist sollte geistig genug sein, zuzugeben, daß es völlig gleichgültig ist, in welchem Vorzeichen, dem positiven oder dem negativen, eine Erkenntnis steht, falls sie Erkenntnis, falls sie wahr ist.“15 Nur weil etwas unter Ausbeutungsverhältnissen entstanden ist, ist es noch lange nicht deshalb schlecht. Die Ausbeutung ist schlecht, aber nicht die Früchte der Kultur, die trotzdem entstehen. Ansonsten hätte sich die Menschheit seit dem Ende des Urkommunismus nicht weiterentwickeln können.
Wenn man gegen die bürgerliche Durchseuchung der heutigen Kultur ist, die ihr Denken verbreitet und täglich neue Tiefpunkte erreicht im Niveau der Darbietung, so ist es keineswegs eine richtige Reaktion an „allem, was einst war“ festzuhalten. „Unnütz zu kritisieren, wenn dieser Kritik kein Plus, keine Vorwärtsbewegung entspringt.“16, wie Lunatscharski zu sagen pflegte. Es gibt einen Unterschied zwischen der dialektisch-materialistischen Aneignung des Kenntnisstandes des fortschrittlichen traditionellen Erbes einer Nationalkultur und der Aneignung neuer Formen, die für uns auch genutzt werden können, und einem reaktionären Standpunkt des Kulturkonservatismus. Wir müssen uns gegen den Kulturkonservatismus stemmen und proletarische Kulturinhalte vertreten, egal in welcher möglichen Form.
1„Die DDR, das neue Deutschland – Protokollband der Konferenz vom 5. und 6. Oktober 2019 in Berlin “, Hrsg.: KPD, Berlin 2019, S. 289.
2https://youtu.be/flYRS4h-2l4 Ein Beispiellied.
3„Das stumme China“ (16. Februar 1927) In: Lu Hsün „Der Einsturz der Lei-feng-Pagode“, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 1976, S. 68.
4„Einiges über die Lage der modernen Komponisten“ (um 1932) In: Hanns Eisler „Reden und Aufsätze“, Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig 1961, S. 55.
5https://www.youtube.com/watch?v=Qs66lDeNGM0 Mit chinesischem Gesang.
6Siehe: „Die sozialen Quellen der Musik“ (1929) In: Anatoli Lunatscharski „Die Revolution und die Kunst“, VEB Verlag der Kunst, Dresden 1974, S. 66.
7„Die Werke Alexander Puschkins“ (1844) In: W. G. Belinski „Ausgewählte philosophische Schriften“, Verlag für fremdsprachige Literatur, Moskau 1950, S. 290.
8Vgl. „Kunst und Proletariat“ (Januar 1911) In: Clara Zetkin „Zur Theorie und Taktik der kommunistischen Bewegung“, Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig 1974, S. 337. Clara Zetkin sagt dort: „Die Grundlage der kapitalistischen Warenproduktion ist die Unfreiheit der menschlichen Arbeit. Solange die menschliche Arbeit unfrei ist, bleibt wie die Handarbeit so auch die Kopfarbeit geknechtet, müssen Wissenschaft und Kunst unfrei bleiben.“
9„Was ist Kunst?“ (1898) In: Dimityr Blagoew „Das Leben und die Literatur“, Dietz Verlag, Berlin 1979, S. 188.
10https://www.youtube.com/watch?v=srN1GsnBui8 Hier das offizielle Musikvideo des Liedes.
11An Franz Hofmeister (8. April 1802) In: Ludwig van Beethoven „Briefe“, Henschelverlag, Berlin 1969, S. 24.
12„Die Aufgaben des sozialdemokratischen Kulturschaffens“ In: Anatoli Lunatscharski „Vom Proletkult zum sozialistischen Realismus“, Dietz Verlag, Berlin 1980, S. 51.
13„Proletariat und Kunst“ In: Ebenda, S. 65.
14Vgl. „Über den Proletkult“ (September 1918) In: „Proletarische Kulturrevolution in Sowjetrußland (1917-1921)“, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1969, S. 22.
15„Kultur und Sozialismus“ (April 1928) In: Thomas Mann „Schriften zur Politik“, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1970, S. 66.
16„Thesen über die Aufgaben der marxistischen Kritik“ (1978) In: Anatoli Lunatscharski „Die Revolution und die Kunst“, VEB Verlag der Kunst, Dresden 1974, S. 14.