Das Problem der Stellvertretung – Oder: Warum Parlamentarismus nicht gleich Demokratie ist

Der französische Anarchist Élisée Reclus kritisierte schon vor über einem Jahrhundert: Einmal ernannt, ist der Repräsentant in der Tat unabhängig von seinen Wählern.“1 Es handelt sich dabei um ein Problem, welches man das Stellvertreterproblem nennen kann. Das Problem liegt darin, dass die gewählten Abgeordneten eben Stellvertreter sind, die nicht unbedingt dieselben Ansichten vertreten, wie ihre Wählerschaft. Das erschafft eine Diskrepanz, über die in bürgerlichen Staaten allzu oft stillschweigend hinweggegangen wird.

In den sozialistischen Staaten versuchte man diesem beizukommen, indem man Rechenschaftspflicht und Abberufbarkeit der Abgeordneten verfassungsrechtlich verbriefte.

Die sowjetische Verfassung von 1936 besagt in Artikel 142:

Jeder Deputierte ist verpflichtet, den Wählern über seine Arbeit und über die Arbeit der Sowjets der Deputierten der Werktätigen Rechenschaft abzulegen, und kann jederzeit durch Mehrheitsbeschluß der Wähler in dem durch das Gesetz festgelegten Verfahren abberufen werden.“

Die sozialistische Verfassung der DDR von 1968 besagt in Artikel 57:

1. Die Abgeordneten der Volkskammer sind verpflichtet, regelmäßig Sprechstunden und Aussprachen durchzuführen sowie den Wählern über ihre Tätigkeit Rechenschaft zu legen.

2. Ein Abgeordneter, der seine Pflichten gröblich verletzt, kann von den Wählern gemäß dem gesetzlich festgelegten Verfahren abberufen werden.“

Rechenschaftslegung und Abberufbarkeit waren also rechtlich verbrieft. Man kann darüber diskutieren in wie weit die Rechenschaftslegung zu einer rein formalen Pflichtveranstaltung entartet ist oder ob die Hürden für eine Abberufung zu hoch gewesen sind. Das im Detail auszuloten bedarf tieferer Recherche. Fakt ist aber, dass man sich des Stellvertreterproblems zumindest theoretisch bewusst gewesen ist, wenn dieses auch nicht omnipräsent war.

In der BRD hingegen besteht das Stellvertreterproblem ganz offenkundig. Das Grundgesetz in Artikel 38, Absatz 1 besagt: „Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“ Das bedeutet: Abgeordnete können noch am Wahlabend zugeben, dass ihre ganzen Wahlversprechen bloß erlogen gewesen sind, und man kann sie dafür nicht belangen. Sie sind auf vier oder gar fünf Jahre erst einmal gewählt. Man kann deshalb die demokratische Legitimation der Abgeordneten dadurch in Frage stellen, denn das Volk hat zwar die Möglichkeit, eine Partei zu wählen, aber danach keinerlei Kontrolle mehr über die gewählten Abgeordneten. Man kann in diesem Falle kaum von einer Volksvertretung sprechen, sondern eher von gewählten Selbstdarstellern. Außer dem reinen Wahlakt sieht das Grundgesetz keine demokratische Beteiligung der Staatsbürger vor.

In letzter Zeit gibt es eine Ausnahme, die dieses starre, undemokratische System zumindest ein wenig auflockerte: Die Schaffung eines Bürgerrates zur Frage der Ernährung in der BRD stellt ein Novum in der demokratischen Beteiligung der Bürger dar. Er wurde von konservativer sowie rechtsextremer Seite direkt bombardiert. Kurz zum Verständnis des Bürgerrates:

Der Bürgerrat wird ausgelost, sind also zufällig ausgewählt. Lediglich muss man nach der Auswahl einige Angaben zur Person machen, damit festgestellt wird, ob die Auslosung ein einigermaßen proportionales Bild der Gesellschaft darstellt. Aus 20.000 ausgelosten Personen werden 160 ausgewählt, die eben dieses relativ proportionale Gesellschaftsbild darstellen. Der Bürgerrat besitzt lediglich ein Vorschlagsrecht für den Bundestag, besitzt also keinerlei Beschlusskraft.

Die Bürgerräte sind also keineswegs Arbeiterräte, die eine legislative Beschlussfähigkeit besitzen und können dem Bundestag also keine Konkurrenz machen. Sie sind lediglich ein Gremium, welches aus dem Volk ausgelost worden ist, um dem Parlament zuzuarbeiten. Das einzig demokratische Element daran ist letztendlich, dass dieses Gremium eine Stimme aus dem Volk darstellt und nicht aus den Tretmühlen des Parlamentarismus. Und diese Tatsache ist es wohl, weshalb sich CDU und AfD darüber so sehr aufregen.

Der parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion im Bundestag, Thorsten Frei, sagt über den Bürgerrat: Es wäre eine Gefahr für unseren Staat, wenn die Demokratie durch Nebengremien oder Expertenrunden ausgehöhlt würde.“2 Zwei Jahre zuvor soll er die Idee der Bürgerräte noch unterstützt haben. Sein Argument trifft nicht zu, da es sich beim Bürgerrat um einfache Leute aus dem Volk handelt und nicht um irgendein Gremium, welches sich aus bereits gewählten Politikern rekrutiert. Er sagt auch, dass er skeptisch sei, ob der Bürgerrat in einer „repräsentativen Demokratie“ überhaupt einen Mehrwert schaffen könnte3. Darum geht es wohl eigentlich: Die CDU will keine breitere Beteiligung des Volkes an politischen Prozessen. Von Entscheidungsprozessen kann man hierbei gar nicht sprechen, dabei behält der Bundestag das letzte Wort.

Während die CDU-Fraktion behauptet, es gebe „mit den bestehenden Instrumenten der repräsentativen parlamentarischen Demokratie bereits hinreichend Möglichkeiten zur Bürgerbeteiligung“ und Bürgerräte seien „zu teuer“4, fordert der ehemalige CDU-Generalsekretär mindestens zwei Bürgerräte pro Thema, weil diese als Impulsgeber an die Legislative fungieren könnten, aber eben nur die 160 Menschen darin vertreten würden, da sie nicht repräsentativ seien5.

Diese Argumente könnte man aber gegen das bürgerliche Parlament zurückwerfen:

Erstens ist die einzige Beteiligungsmöglichkeit die Wahlurne. Abgeordnete unterliegen keinerlei Rechenschaftspflicht gegenüber ihrer Wählerschaft, weshalb Eingaben an sie de facto sinnlos sind.

Zweitens ist der Bundestag mit den Jahren durch Überhang- und Ausgleichsmandate immer größer und entsprechend teurer geworden. Der Bundestag ist das zweitgrößte Parlament der Welt in einem Land, was sich mit Nichten als zweitgrößtes Land der Welt bezeichnen könnte. Chinas Nationaler Volkskongress ist die unangefochtene Nummer 1. Die Proportionalität ist also völlig aus den Fugen geraten.

Drittens könnte man aufgrund der fehlenden Rechenschaft der Abgeordneten gegenüber den Wählern auch auf die Idee kommen zu behaupten, dass die derzeitig 734 Bundestagsabgeordneten nur sich selbst vertreten würden und nicht das Volk. Schließlich sind sie „nur ihrem Gewissen gegenüber“ verantwortlich.

Bei der AfD werden Bürgerräte offensichtlich noch viel negativer beurteilt als bei der CDU, die sich vor Jahren noch für diese Idee aussprach. Die AfD gab am 16. April 2024 sogar ein sehr rabiates Statement ab: Solche Bürgerräte, es gab bereits einen, der das Thema ‚Ernährung‘ behandelte, sind völliger Quatsch, verfassungswidrig und lediglich eine undemokratische, linke Spielwiese. Wir leben in einer repräsentativen Demokratie, also weder einer Räte-, noch einer Sowjetrepublik.“6 Offenbar sieht die AfD in einer neuen Beteiligungsmöglichkeit der Staatsbürger eine „verfassungswidrige, undemokratische, linke Spielwiese“ und einen Ansatz zu einem Übergang zu einer „Sowjetrepublik“. Die AfD stellt sich gerne so dar, als würde sie die „Stimme des Volkes“ vertreten wollen. Geht es aber darum, das Volk tatsächlich mehr an politischen Prozessen zu beteiligen, wird direkt eine übertriebene Breitseite abgefeuert. Die AfD fordert mehr Volksentscheide statt Bürgerräte7. Der Grund ist klar: Bürgerräte sind zwar nicht beschlussfähig, aber durch ihre Meinungsäußerung lästig. Die vertreten nicht die von der AfD gewollten Meinungen. Bei Volksentscheiden wird eine spezifische politische Frage zu einem „Ja oder Nein?“ heruntergebrochen und das Volk besitzt außer dieser einen spezifischen Abstimmung kein Mitspracherecht. Der politische Diskurs wäre somit weiterhin frei von Stimmen aus dem Volk.

Die von CDU und AfD aufgebauschten angeblichen Gefahren für die „parlamentarische Demokratie“ ist selbst aus bürgerlicher Sicht eine bloße demagogische Fiktion. Man kann lediglich daraus lesen, dass diese beiden Parteien so wenig demokratische Beteiligung des Volkes wie möglich haben wollen, kurzum: Den gesetzlichen Mindeststandard, der sich in der BRD eben auf das Werfen eines Zettels in die Wahlurne beschränkt.

Man erkennt daran, wie pervertiert das Demokratieverständnis in der BRD ist, wenn Meinungsäußerungen aus dem Volk direkt abqualifiziert und delegitimiert werden, und direkt die Forderung im Raum steht, dass lediglich das Parlament bestehen dürfe. Man sieht daran auch, dass die Bundestagsabgeordneten sich verselbstständigt haben, am meisten die der rechten Parteien. Sie sind offenkundige Symptome des Stellvertreterproblems.

Auch die Ampelparteien sind davor nicht gefeit, auch wenn sie den Bürgerrat zu Ernährungsfragen einberufen haben. Dieser besitzt an sich keine Beschlussfähigkeit (was aufgrund der Auslosung berechtigt ist) und diskutiert über ein Nebenthema. Es ist nicht absehbar, dass Bürgerräte zu grundlegenden Problemen einberufen werden. Das ist wohl der Grund, wieso sie diesen überhaupt einberufen haben: Er kann ihnen nicht gefährlich werden. Der Tollwutschaum der rechten Parteien zeigt, wie sehr sie jegliche demokratische Beteiligung des Volkes am liebsten im Keim ersticken wollen würden. Sie haben offen Farbe bekannt.

Es ist klar, dass ein Land alleinig mit direkter Demokratie unregierbar wäre. Volksabstimmungen sollte es durchaus über grundlegende Entscheidungen wie etwa Verfassungsänderungen geben. Volksabstimmungen sind aber kein stehendes Organ. Es kommt darauf an, dass man neben den Vertretungsorganen institutionelle Möglichkeiten schafft, offiziell und direkt auf die Vertretungen zumindest beratend einzuwirken. Dadurch wird zumindest das politische Diskursspektrum erweitert und läuft nicht in Gefahr, von in der Hauptstadt ansässigen Abgeordneten dominiert zu werden, die sich durch ihre Abgeschiedenheit vom Volk entfremdet haben. Gegen Letzteres kann nur die möglichst wenig bürokratische Abberufbarkeit und die regelmäßige Rechenschaftslegung durch die Abgeordneten Abhilfe schaffen.

Das sollten wir im Blick haben.

1 Élisée Reclus „Staat, Fortschritt, Anarchie“ Matthes & Seitz, Berlin 2024, S. 53.

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