Das Jahr der Folgen

Die Masken sind sich am lüften. Während hinter den Masken zwei Jahre lang der Klassenkampf in den Hintergrund getreten ist, zeigen sich nun die Folgen der Wirtschaftskrise unmaskiert. Das Jahr 2022 wird ein Jahr der Krisenfolgen. Das zeichnete sich schon vor der direkten Einmischung Russlands in der Ukraine ab.

Die Inflationsrate lag nämlich schon seit November 2021 über der 5%-Marke1 im Vergleich zum Vorjahresmonat, wobei sie über das Jahr 2021 stetig angestiegen ist bis zu diesem Niveau. Selbst der temporäre Krisengewinnler Amazon ist derzeit auf dem absteigenden Ast und verbucht Umsatzeinbußen2. Im Januar 2022 sanken kurzzeitig noch einmal die Unternehmenspleiten im Vergleich zum Vorjahresmonat um 4,6%3. Ein Anstieg der Insolvenzen wurde aber im selben Monat für das Jahr 2022 schon erwartet4. Das war aber noch vor dem Preisanstieg. Dieser traf die Baubranche stark5. Im März 2022 stiegen die Unternehmensinsolvenzen im Vergleich zum Vormonat um 27% und es wird mit einem weiteren Anstieg gerechnet6. Dieser scheint aufgrund des inflationsbedingten Preisanstiegs auch nicht allzu abwegig. Im April stieg die Inflationsrate im Vergleich zum Vorjahresmonat auf 7,4%7, was den höchsten Stand seit 1981 bildete. Im Mai wurde sie sogar noch überboten mit einem Anstieg von 7,9% im Vergleich zum Vorjahresmonat8. Voraussichtlich wird das BIP 2022 um 2,7% wachsen und nicht um 4,8%, wie es noch im Herbst 2021 angenommen worden ist9.

Es erweist sich in dieser Situation mal wieder, dass es keine „Lohn-Preis-Spirale“ gibt. Die Preise steigen stärker als die Löhne. Der Gewerkschafter Otto Brenner sagte seinerzeit: „In Wirklichkeit existiert diese seltsame Spirale gar nicht. Wenn aber schon von einer Spirale gesprochen werden soll, dann muss man von einer Preis-Lohn-Spirale sprechen.“10 Da die Preise steigen müssen die Löhne dem angeglichen werden. Ansonsten droht Reallohnverlust, also eine Reduktion der Lebenshaltung. Darauf sollten wir aufmerksam machen, um die naheliegenden Interessen der Arbeiterklasse zu vertreten. Damit nehmen wir auch den liberalen Auffassungen von Lohnarbeit und Preisbildung den Wind aus den Segeln.

Wir als Marxisten haben natürlich den Nachteil, dass wir für die meisten Werktätigen scheinbar „von außen“ etwas an sie herantragen, obwohl wir ihre ureigensten Klasseninteressen vertreten. Deshalb stoßen wir auf Ablehnung, weil sie unsere Absichten nicht verstehen. „Hunde bellen alles an, was sie nicht kennen.“11, sagte einst Heraklit. Das ist eine natürliche Reaktion, keine Boshaftigkeit. Fremdem gegenüber kritisch zu sein kommt doch daher, dass man es im eigenen Kopf nicht recht einzuordnen vermag. So natürlich diese Haltung sein mag, so muss man sich darum bemühen, aufzuzeigen, dass unsere Positionen ihnen gar nicht so fremd sind, sondern dass die Werktätigen sich bloß entfremdet haben.

Man muss unsere Anschauungen volksnah vermitteln. Anstatt, wie es Genosse Hans-Jürgen Westphal in seinem Wahlkampfwerbespot für die Landtagswahl 2019 in Sachen tat, mit komplexen Termini an die Massen heranzutreten12, sollten wir die Werktätigen geistig dort abholen, wo sie stehen. Anstatt einzusteigen mit „Aufgrund der Lohnarbeit musst du dem Privateigentümer deines Betriebs deinen Mehrwert überlassen.“, sollte man eher sagen „Die meiste Zeit deines Lebens arbeitest du vergebens.“ und sich auf das Gegenüber mit dessen Rückfragen einlassen. Es gibt, wie oben aufgezeigt, genügend Gesprächsthemen, bei denen man an unmittelbaren Lebensinteressen der Werktätigen ansetzen kann, die für sie nicht als abstrakte Theorie erscheinen. Packen wir es an!

10 „Aktuelle Gewerkschaftsfragen und Betriebsratswahlen“ (16. Februar 1965) In: Otto Brenner „Ausgewählte Reden 1946-1971“, Steidl Verlag, Göttingen 2007, S. 321.

11 Zit. nach: „Die Vorsokratiker von Demokrit bis Thales“, Anaconda Verlag, Köln 2016, S. 92.

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