Darf man lügen?

Berühmt ist das radikale Verbot zu lügen im Kantianismus. Dieses Verbot ist eines der bekanntesten Beispiele für den kantianischen Idealismus. Kant schrieb 1797 den Aufsatz „Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen“1, in welchem er dieses Verbot aufstellte.

Der Aufsatz beginnt mit einem Zitat von Benjamin Constant, in welchem er Kant dafür kritisierte, dass dieser es als Verbrechen ansehe, wenn ein Freund einen anderen vor einem Mörder schützen würde, indem er lügt, dass dieser nicht in sein Haus geflohen wäre. Constant meinte dazu, dass dies falsch sei, denn es hätte nur jemand das Recht dazu, die Wahrheit zu erfahren, dem gegenüber man auch die Pflicht besäße sie zu sagen – davon sei ein Mörder eben ausgeschlossen. Kant sah das nicht so, weil er anführt, dass das Opfer des Mörders genau deshalb in sein Verderben gehen könnte, indem man über den Aufenthaltsort lügt, weil es ihm dann auf der Straße begegnen würde. Das ist zufällig, aber die Schuld für den Zufall gibt Kant dem notlügenden Freund.

Kant geht also von einem sehr theoretischen Fall aus, in welchem das Opfer durch die Lüge des Freundes erst recht zu Schaden kommt. Das ist bloßer Zufall. Daraus lässt sich keine Regel ableiten. Der Regelfall wird nämlich stets ein Dilemma des Freundes sein, in welchem die Lüge das Opfer entweder retten wird oder erst recht dem Mörder in die Arme laufen lässt. Dilemma können keine „richtige“ und „falsche“ Entscheidung besitzen, sondern zwei oder mehrere Entscheidungen, die potenziell beides in sich vereinen. Anstatt ein Dilemma zu erkennen, entscheidet sich Kant dafür, den Grundsatz „Du sollst nicht lügen.“ zum Dogma in jeder Situation zu machen. „Wer also lügt, so gutmütig er dabei auch gesinnt sein mag, muß die Folgen davon, selbst vor dem bürgerlichen Gerichtshofe, verantworten und dafür büßen: so unvorhergesehen sie auch immer sein mögen; weil Wahrhaftigkeit eine Pflicht ist, die als die Basis aller auf Vertrag zu gründenden Pflichten angesehn werden muß, deren Gesetz, wenn man ihr auch nur die geringste Ausnahme einräumt, schwankend und unnütz gemacht wird. Es ist also ein heiliges, unbedingt gebietendes, durch keine Konvenienzen einzuschränkendes Vernunftgebot; in allen Erklärungen wahrhaft (ehrlich) zu sein.“, ist Kants Meinung. Er sieht es also als „vernünftig“ an, in keiner Situation zu lügen. Dabei ist es doch gerade unvernünftig, ein potentielles Dilemma nicht zu erkennen und entsprechend abzuwägen.

Die Wahrheit kann keine „unbedingte Pflicht“ sein, die „in allen Verhältnissen gilt“, wie Kant es sich am Schreibtisch, fern von der Lebenspraxis, ersonnen hat. Man kann kein generelles Verbot erteilen, in Notsituationen zu lügen. Wenn die Lüge das Potenzial besitzt, einen Menschen zu retten, ist sie aus anderen ethischen Gründen heraus zulässig. Würde man in einem solchen Fall nicht lügen, würde man zwar einen ethischen Grundsatz hochhalten, aber einen anderen Opfern, nämlich die Nächstenliebe2, die das Wohl der Menschen über alles andere stellt. Ein Dilemma ist eben ein antagonistischer Widerspruch.

Kant machte im Aufsatz auch jenen falschen Ausspruch: Das Recht muß nie der Politik, wohl aber die Politik jederzeit dem Recht angepaßt werden.“ Kant nahm damit das Problem vorweg, welches die bürgerlichen Juristen besitzen: Sie betonen, dass Politik sich an Gesetze halten müsste, übersieht dabei aber, dass die Politik die Gesetze hervorbringt. Das Recht wird stets der Politik angepasst, nicht die Politik dem Recht. Wenn sich die Politik ans Recht hält, so ist dies in erster Linie eine bloße Selbstregulierung. Dies hat aber mit Kants Ethik des Lügenverbots wenig zu tun, außer, dass diese Aussage selbst eine Falschaussage, somit eine Lüge ist.

Die von mir erörterte Ethik, laut der Notlügen erlaubt sind, kann sich nur auf Zwischenmenschliches beziehen. Im Politischen sind Lügen unzulässig, weil sie das Vertrauen der Massen untergraben, die Massen in Unwissenheit lassen und nur zu Selbsttäuschung führen können. Natürlich gibt es auch gewisse Geheimnisse, etwa vertrauliche Dokumente, aber über diese sollte man öffentlich besser gar nicht reden, als über sie in einer verfälschenden Weise zu sprechen. Besser, man legt kein Zeugnis ab, als ein falsches Zeugnis3. Lenin sagte: Dem Volke muß man die Wahrheit sagen. Nur dann werden ihm die Augen aufgehen, und es wird lernen, die Unwahrheit zu bekämpfen.“4 Wir können nicht von anderen abverlangen etwas zu verstehen, von dem die betreffenden Personen bloß ein verlogenes Zerrbild erhalten haben. Wir können uns nicht benehmen wie die bürgerlichen Apologeten, wir können uns nicht benehmen wie die revisionistischen Demagogen.

Das muss unsere politische Linie sein: Ehrlichkeit, auch wenn die Wahrheit hart ist.

1http://www.zeno.org/Philosophie/M/Kant,+Immanuel/%C3%9Cber+ein+vermeintes+Recht+aus+Menschenliebe+zu+l%C3%BCgen Wenn nicht anders angegeben, beziehe ich mich bei den Kant-Referenzen auf diese Quelle.

2 Vgl. 3. Mose 19, 18.

3 Vgl. 2. Mose 20, 16.

4 „Ein trauriges Dokument“ (16. Mai 1917) In: W. I. Lenin „Werke“, Bd. 24, Dietz Verlag, Berlin 1989, S. 338.

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