Antworten auf aufgetretene Fragen

Es ist schon einige Jahre her, dass ich auf grundlegende Fragen geantwortet habe1. Es sind wieder Fragen aufgetreten, wenn auch leider weniger zu ideologischen Grundlagen als viel mehr welche, die den Einfluss der Woken betreffen. Es wäre mir persönlich lieber, dass solche Fragen gar nicht existieren würden. Aber da wir in einer Zeit leben, in denen die trivialsten Erkenntnisse in Frage gestellt und geleugnet werden, konnten diese überhaupt erst entstehen.

Wie viel ideologische Einheit ist realistisch?

Es gibt in der linken Szene die toxische Tendenz, jeden zu blockieren und auszuschließen, der nicht vollständig mit einem einer Meinung ist und sei sie noch so nebensächlich. Vor allem bei identitätspolitischen Themen kommt es zu Sektierertum: Beim Gendern, bei der Gewichtung von LGBT-Fragen oder bei der Flüchtlingsfrage beispielsweise. Diese Themen sind absolute Nebenthemen, die am kapitalistischen System rein gar nichts ändern. Der Kampf auf diesem Gebiet ist bloß einer zwischen einer liberalen und einer eher konservativen Ausrichtung (wobei man den Begriff des Konservatismus an dieser Stelle schon sehr weit fassen muss).

Unser Fokus sollte auf dem Klassenkampf vor allem liegen. Der Klassenkampf für die Interessen der Arbeiterklasse und gegen die Bourgeoisie ist es, was uns eint. Der Kampf um den Sozialismus ist es, was uns eint. Nebensächliche identitätspolitische Fragen sind nichts als Ablenkung und ihre Überbetonung ist kein Anliegen der Arbeiterklasse, sondern von bürgerlichen Ideologen.

Augustinus sagte mal: Diejenigen aber, die ihre Meinung, wenn sie auch falsch und verkehrt ist, ohne hartnäckige Leidenschaft verteidigen, sind nicht den Ketzern beizuzählen.“2 Das hat natürlich Bezug auf die Frühkirche. Dennoch ist dieses Zitat im übertragenen Sinne passend: Man sollte nicht jeden wegen unbedeutender Abweichungen, die für diesen keine so große Rolle spielen, sofort ausschließen. Es mag für viele nervig sein, andere Meinungen in Nebenfragen, vor allem auf dem Gebiet der Gesellschaft, auszuhalten. Aber man kann in diesen Fragen keine absolute ideologische Einheit erreichen und man muss es auch nicht. Dafür ist es andererseits von lebensnotwendiger Wichtigkeit der sozialistischen Bewegung, dass Einigkeit über die Notwendigkeit des Klassenkampfes, der Planwirtschaft, der Diktatur des Proletariats sowie des Volks- und Genossenschaftseigentums besteht. Und das sind genau die Kernbereiche, die bei denjenigen, die sich über identitätspolitische Nebensächlichkeiten unendlich ereifern, zu kurz kommen.

Eine ideologische Einheit in den grundlegenden Fragen, die den Sozialismus betreffen, ist also realistisch und notwendig. In für den Sozialismus als Gesellschaftsform nebensächlichen Fragen ist eine ideologische Einheit nicht nur nicht zwingend notwendig, sondern wohl unmöglich.

Lebt der Kapitalismus einen gewissermaßen ungefährlichen Antikapitalismus vor?

Genossen, die über diese Frage nachdenken, sind auf einem Gedankenpfad, den bereits Mark Fisher entlanggeschritten ist. Er sprach in seinem Werk „Kapitalistischer Realismus ohne Alternative?“ bereits von einem „Konzern-Antikapitalismus“3. Als Beispiele dafür führte er unter anderem die „ideologische Erpressung“ durch großangelegte Spendensammlungen, die ohne Systemänderung die Welt verbessern könnten4. Sicherlich können Spendengelder akute Hilfen finanzieren, vor allem in Afrika, wo ausländische „harte Währungen“ einen hohen Umrechnungskurs in der jeweiligen nationalen Währung erzielen können. Aber das liefert nur partielle Linderung, keine vollständige Beseitigung der grundlegenden Probleme des kapitalistischen Systems.

Mark Fisher monierte auch, dass die „globalisierungskritische, antikapitalistische Bewegung“ letztendlich nicht den Kapitalismus bekämpfe, sondern nur dessen „schlimmste Exzesse“5. Offenbar spielt Fisher damit auf Attac an, welche einen solchen Antikapitalismus ohne klares Ziel betreiben. Antikapitalismus ist nicht gleichbedeutend mit Sozialismus. Der Sozialismus stellt eine neue Gesellschaft dar, der Antikapitalismus jedoch lediglich eine ablehnende Haltung gegenüber dem bestehenden Gesellschaftssystem. Der Antikapitalismus ist also kein Gegenentwurf und eben deshalb nicht dazu in der Lage, den Kapitalismus zu überwinden. Aus diesem Grund können Großkonzerne diesen auch kommerziell ausschlachten.

Stalin sagte mal: Die Bourgeoisie weiß: Wenn der Kapitalismus noch nicht gestürzt ist und nach wie vor besteht, so verdankt er dies nicht seinen guten Eigenschaften, sondern dem Umstand, dass das Proletariat noch nicht genügend festen Glauben an die Möglichkeit seines Sieges hat.“6 Ohne den Glauben daran, dass die sozialistische Gesellschaft möglich ist und den Einsatz für dessen Verwirklichung, wird der Kapitalismus weiterbestehen. Der Antikapitalismus ist im Sozialismus indirekt enthalten, dadurch nämlich, dass der Sozialismus den Kapitalismus als Gesellschaftsordnung ersetzen will. Antikapitalismus allein ist nicht ausreichend. Das weiß und nutzt die Bourgeoisie.

Die gestellte Frage ist also zu bejahen.

Ist ein armer weißer Obdachloser privilegierter als ein armer hungernder Afrikaner?

In der FAZ behauptete Rainer Hank am 22. April 2024, dass ein Obdachloser in einer Frankfurter U-Bahn-Unterführung es besser habe als ein hungernder Zentralafrikaner7. Das ist ein zynisches Abwiegen von Armut. Man spielt dabei die Gefahr zu erfrieren gegen die Gefahr zu verhungern aus.

Der ugandische Präsident Museveni sagte einmal über das afrikanische Klima: Dieses Klima ist ein wenig bequem, in Europa war das Klima so schlecht, dass die Menschen sich ernsthaft organisieren mussten, um zu überleben. Sie mussten aktiver gegen die Umwelt kämpfen. In unseren Ländern kann man es sich leisten, nackt herumzulaufen und dabei nicht zu sterben.“8 Das Hauptproblem auf dem Gebiet der Ernährung in Uganda ist nicht der Hunger, sondern die Mangelernährung.

Armut hat verschiedene Erscheinungsformen, aber es gibt keine „gute“ und „schlechte“ Armut, die man gegeneinander aufwiegen kann. Die Woken machen aber genau das, wenn sie, wie die Neoliberalen von der FAZ genau in diese Richtung argumentieren in ihren abstraktestmöglichen Debatten über „Privilegien“. Im Prinzip spielen sie verschiedene Teile der Arbeiterklasse gegeneinander aus, indem sie behaupten, dass Weiße per se mehr „Privilegien“ hätten. Dabei ist die Wahrheit: Ein armer Weißer ist eben auch arm. Ein schwarzer Bourgeois wird besser behandelt als ein weißer Arbeiter; ein weißer Bourgeois wird besser behandelt als ein schwarzer Arbeiter. Vor einigen Jahrzehnten war diese Erkenntnis eine Trivialität. Das war auch in den USA so, die einen historisch stark verwurzelten Rassismus besitzen aufgrund der früheren Sklaverei. Und selbst dort haben die Genossen von der Black Panther Party nicht in diesen falschen „Privilegien“-Kategorien gedacht, sondern sind vom Klassenkampf als Primat ausgegangen. Die Black Panther marschierten mit armen Weißen aus den Südstaaten damals gemeinsam unter der Fahne der Südstaaten9, da sie erkannten, dass sie in ihren Klasseninteressen geeint sind. Die Woken heute hätten die armen frustrierten weißen Arbeiter wohl als „Nazis“ abgestempelt.

Die Debatte über angebliche „Privilegien“ wird völlig an der Klassenlage vorbei diskutiert. Die Ausbeuterklassen besitzen tatsächliche Privilegien, dass sie nämlich die allgemein formulierten bürgerlichen Rechte, die de facto Kapitalbesitz voraussetzen, auch wirklich nutzen können und eben durch ihr Kapital bessergestellt sind. Es geht nicht darum, Diskriminierung zu leugnen – diese existiert gegenüber einigen Bevölkerungsgruppen – sondern darum, aufzuzeigen, dass es kein „Privileg“ ist, nicht diskriminiert zu werden. Der Logik der woken Haltung nach wäre es bereits eine Belohnung, nicht bestraft zu werden. Damit wird eine eigentliche Selbstverständlichkeit bereits zum „Privileg“ erklärt, während die tatsächlichen bürgerlichen Privilegien ignoriert werden.

2 Aurelius Augustinus „Ausgewählte Briefe“, St. Benno-Verlag, Leipzig 1966, S. 105.

3 Mark Fisher „Kapitalistischer Realismus ohne Alternative?“, VSA Verlag, Hamburg 2020, S. 21.

4 Vgl. Ebenda, S. 23.

5 Vgl. Ebenda, S. 22.

6 „Rechenschaftsbericht an den XVIII. Parteitag über die Arbeit des ZK der KPdSU(B)“ (10. März 1939) In: J. W. Stalin „Werke“, Bd. 14, Verlag Roter Morgen, Dortmund 1976, S. 234.

8 „Yoweri Museveni – This he said“, Hrsg. Faustin Mugabe, o.O. 2011, S. 13, Englisch.

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