Anne Frank – Ein Vorbild der Jugend
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Die sozialistische Jugendbewegung, darunter besonders die FDJ, hatte oft junge Märtyrer zu Vorbildern proklamiert. Darunter beispielsweise Artur Becker, der als „Held der deutschen Arbeiterjugendbewegung“1 bezeichnet und nach dem die höchste Auszeichnung der FDJ, nämlich die Artur-Becker-Medaille, benannt wurde. Am 16. Mai 1938 fiel er als Märtyrer im Kampf für die Volksdemokratie in Spanien in den Klauen der Franco-Faschisten2.
Es ist schwierig einem Märtyrer nachzueifern, denn sein Leben im Kampfe zu opfern ist alles andere als alltäglich. In der Revolution ist die Opferbereitschaft notwendig, das steht außer Frage. Für den Kampf um den und den Aufbau des Sozialismus brauchen wir aber viele lebendige, überzeugte Menschen. Artur Becker hatte natürlich auch ein Leben vor der Zeit als Spanienkämpfer, als Mitglied des KJVD. Dazu liegen aber kaum Selbstzeugnisse vor, sondern primär Erinnerungen anderer, was die Darstellung seiner Persönlichkeit erschwert3. Das macht seine Biographie eher zu einer Lebensdarstellung im historischen Kontext, aber ohne persönliche Tiefe, wie er zu seinen Anschauungen gekommen ist. Das macht ihn nicht zu einem schlechten Vorbild, aber für Außenstehende unnahbar. Es ist klar, dass die FDJ einen Jungkommunisten als Vorbild der Jugend setzte aus politischen Gründen, auch wenn dies zu Lasten der Authentizität ging. Dabei verlor man ein Grundprinzip unserer Partei aus dem Auge: „Das Proletariat ist nicht um der Kommunisten willen da, sondern die Kommunisten um des Proletariats willen.“4 Wenn man dem werktätigen Volk von ganzem Herzen dienen will, so muss man es ideologisch auf unseren Stand anheben. Dafür kann man sich aber keiner plumper Methoden bedienen, sondern muss zutiefst überzeugen. Wir sollten ein passenderes Vorbild finden, dem die Jugend auch real nacheifern kann.
Dafür bietet sich Anne Frank bestens an. Weder sie noch ihre Eltern waren Mitglieder der sozialistischen Bewegung. Aus diesem Grund wurde sie als Vorbild der Jugend von der FDJ nicht in Erwägung gezogen. Sie und ihre Familie waren „ganz gewöhnliche Menschen in außergewöhnlich dunklen Zeiten“5, wie Miep Gies einst bemerkte. Anne Frank und ihre Familie, bis auf ihren Vater Otto Frank, wurden von den Nazis ermordet – aber sie fielen nicht im Kampf. Das macht sie nicht zu klassischen Märtyrern. Warum sollte man Anne Frank also zum Vorbild nehmen?
Anne Frank verfasste ein Tagebuch, wo sie für ihr Alter frühreife Fragen aufwarf und dabei war, erwachsen zu werden. Das betrifft typische Fragen der Jugend, wie die Erfahrungen mit der eigenen Sexualität, aber auch Gedanken zu einer humanistischen Lebenseinstellung sowie ein aufkommendes Interesse für Geschichte und Politik. Das macht Anne Frank zu einem Alltagshelden, den man real nacheifern kann.
Anne Frank war sich ihrer jüdischen Herkunft natürlich bewusst. Über das Schicksal der Juden in Ungarn, nach der Besetzung Ungarns durch die Wehrmacht, die erfolgte, um das Horthy-Regime bündnistreu zu halten, war sie sich im Klaren: „Ungarn ist von deutschen Truppen besetzt. Dort gibt es noch eine Million Juden, die werden nun wohl auch draufgehen.“6 Sie war sich am eigenen Leib bewusst, was dort geschehen würde. Auch in den Niederlanden wurde die Situation für sie und ihre Familie schwieriger. Am 22. Mai 1944 schrieb sie: „Zu unserem großen Leidwesen und zu unserem großen Entsetzen haben wir gehört, dass die Stimmung uns Juden gegenüber bei vielen Leuten umgeschlagen ist. Wir haben gehört, dass Antisemitismus jetzt auch in Kreisen aufkommt, die früher nie daran gedacht hätten. Das hat uns tief, tief getroffen. Die Ursache von diesem Judenhass ist verständlich, manchmal sogar menschlich, aber trotzdem nicht richtig.“7 Der Hintergrund davon war, dass die Niederländer den Juden vorwarfen, dass sie ihre eigenen Helfer an die Nazibesatzer verraten würden. Anne Frank merkte an, dass bei den Verhörmethoden es fast unmöglich ist, zu schweigen. „Ich hoffe nur, dass dieser Judenhass vorübergehender Art ist.“8, notierte sie hoffnungsvoll. Auch wurde von Niederländern im Untergrund der Vorschlag gemacht, die deutschen Juden nach Kriegsende zurück nach Deutschland abzuschieben, weil ihr Asylrecht dann nicht mehr von Nöten sei. Sie selbst war davon aber keineswegs begeistert. Und hier kommt ihr Nationalgefühl ins Spiel. „Ich liebe die Niederlande. Ich habe einmal gehofft, dass es mir, der Vaterlandslosen, ein Vaterland werden wird. Ich hoffe es noch!“9, schrieb sie. Anne Frank sah sich also als Niederländerin der Nationalität nach, sie identifizierte sich nicht alleinig durch die Religionszugehörigkeit ihrer Familie. Dass sie sich nicht als Deutsche sah, das ist wenig verwunderlich. Das war nicht bloß der Fall wegen der Verfolgung durch die Hitlerfaschisten, denn durch ihre Familie beherrschte sie die deutsche Sprache fließend. Ihr Lebensumfeld war seit ihrer Kindheit an niederländisch. Entsprechend verfasste sie ihr Tagebuch auf Niederländisch, weil es ihre Umgangssprache war. Am 20. Juni 1942 merkte sie autobiographisch im Tagebuch an: „Meine Schwester Margot wurde 1926 in Frankfurt am Main geboren, in Deutschland. Am 12. Juni 1929 folgte ich. Bis zu meinem vierten Lebensjahr wohnte ich in Frankfurt. Da wir Juden sind, ging mein Vater 1933 in die Niederlande.“10 Sie schrieb auch über die Judengesetze, die Apartheid bedeutete, die durch den Judenstern offen gekennzeichnet wurde11. Anne Frank war zwar der Herkunft nach eine jüdische Deutsche, aber verbrachte die meiste Zeit ihres Lebens im Exil in den Niederlanden, wuchs dort auf. Ihre Lebensgeschichte kann man nicht auf ihre jüdische Familienherkunft reduzieren, wie es allzu oft getan wird. Ihr weltberühmtes Tagebuch wurde natürlich in einem Judenversteck in Amsterdam geschrieben, aber die Probleme, die sie bewegten, standen nicht alleinig mit ihrer jüdischen Abstammung in Verbindung.
So sind Anne Franks persönliche Probleme typisch für eine Jugendliche in ihrem Alter. „Ich war immer der Clown und der Taugenichts der Familie, musste immer für alle Taten doppelt büßen, einmal durch die Standpauken und einmal durch meine eigene Verzweiflung. Die oberflächlichen Zärtlichkeiten befriedigen mich nicht mehr, ebenso wenig die sogenannten ernsthaften Gespräche.“12, schrieb sie über sich. Das ist ein Problem, dass die Jüngsten in einer Familie des öfteren haben. Das mag zwar das Problem nicht direkt lösen, aber zeigen, dass man nicht alleine dasteht als „das Letzte“ der Familie. Es kann dabei helfen, sich innerfamiliär damit abzufinden und aufzuhören, sich den unerfüllbaren Anforderungen der Familienmitglieder zu unterwerfen. Anne Frank schrieb über ihr schwieriges Verhältnis mit ihrer Mutter: „Ich bin in einer schwierigen Lage. Mutter ist gegen mich, und ich bin gegen sie. Vater schließt die Augen vor dem stillen Kampf zwischen uns beiden. Mutter ist traurig, weil sie mich nicht lieb hat, ich bin überhaupt nicht traurig, weil sie für mich erledigt ist.“13 Solche Verhältnisse gibt es nicht nur eingepfercht in einem Versteck, sondern sie können in jeder Familie auftreten. Wenn ein Elternteil sich stets auf ein Kind stürzt, ob es tatsächlich etwas falsch gemacht hat oder nicht, kann es zu so einer völligen emotionalen Abnabelung kommen. Oberflächliche Entschuldigungen oder Zärtlichkeiten von diesem Elternteil machen die Lage nicht besser, sondern verdeutlichen nur noch mehr die Unaufrichtigkeit. Aufrichtigkeit war Anne Frank sehr wichtig. Über ihre Beziehung zu Frau van Daan schrieb sie: „Ich weiß nur zu gut, dass sie nicht mehr so schlecht über mich denkt wie am Anfang. Das kommt nur, weil ich ehrlich bin und den Menschen auch weniger schmeichelhafte Dinge einfach ins Gesicht sage. Ich will ehrlich sein und finde, dass man damit viel weiter kommt. Hinzu kommt, dass man sich selbst viel besser fühlt.“14 Die Wahrheit ist nicht immer bequem, aber sie ist nun mal objektiv. Manchen mag das nicht gefallen; sie empfinden es als „unhöflich“, wenn man ihnen die Wahrheit sagt. Es gibt aber auch eine Reihe von Menschen, die die Wahrheit mehr schätzen, als oberflächliche Schmeicheleien. Daran kann man wahren Charakter erkennen, ob jemand bloß oberflächlich ist oder sich wirklich um das Gegenüber kümmert. Natürlich hat man auch, wenn man die Wahrheit sagt, ein reines Gewissen und hat keine Gewissensbisse wegen Lügen. Noch in ihrem letzten Tagebucheintrag vom 1. August 1944 kam Anne Frank auf ihre Selbstunsicherheit zu sprechen: „Ich habe große Angst, dass alle, die mich kennen, wie ich immer bin, entdecken würden, dass ich eine andere Seite habe, eine schönere und bessere. Ich habe Angst, dass sie mich verspotten, mich lächerlich und sentimental finden, mich nicht ernst nehmen. Ich bin daran gewöhnt, nicht ernst genommen zu werden, aber nur die ´leichte´ Anne ist daran gewöhnt, nicht ernst genommen zu werden und kann es aushalten. Die ´schwerere´ ist dafür zu schwach.“15 Anne Frank gab sich nach außen hin oberflächlicher, um ihre Psyche zu schützen. Sie fürchtete, dass man sie sonst seelisch verletzen könnte. Viele Jugendliche haben mit diesem Problem zu kämpfen, es ist kein „Makel“ von Anne Frank, sondern alterstypisch. Dieses angesprochene Problem macht sie authentisch zu einem Alltagshelden. Sie mag zwar keine Lösung parat haben, aber hilft sicherlich bei der Selbstfindung der Jugendlichen, indem sie sehen, dass sie nicht alleine dastehen. Nicht nur diese Arten von Jugendproblemen wurden von ihr niedergeschrieben.
Man findet bei Anne Frank Einträge auch zur Entdeckung ihrer Sexualität und der Liebe. So tauschte sie sich mit ihrer Jugendliebe Peter16 aus über das Thema Sexualität, so zum Beispiel über die Geschlechtsorgane bei Frauen17. Anne Frank beschrieb, dass die Eltern sich beim Thema Sexualität „eigenartig“ verhalten und nicht wollen, dass die Kinder etwas davon mitbekommen, um die Ehe sich „heilig und unversehrt“ vorzustellen18. Sie selbst empfand sowas als Unsinn und schrieb: „Ich persönlich finde es für einen Mann überhaupt nicht schlimm, wenn er ein bisschen Erfahrung mit in die Ehe bringt. Damit hat doch die Ehe nichts zu tun.“19 Über das Kinderkriegen und Jungfernhäutchen wusste sie aus einem Buch über sexuelle Aufklärung bescheid, von Verhütung hatte sie auch etwas gehört, wusste aber nicht, wie das funktionieren sollte und ihr Vater erzählte ihr von Prostituierten, aber es seien „genug Fragen übrig“ geblieben20. „Wenn eine Mutter ihren Kindern nicht alles erzählt, erfahren sie es stückchenweise, und das ist sicher verkehrt.“21, monierte sie über die mangelnde sexuelle Aufklärung durch ihre Eltern. Beim Thema Sexualität war sie also so aufgeschlossen, wie es erst Jahrzehnte später Usus wurde; sie war also eine sehr fortschrittliche junge Dame. Über das Wesen der Liebe machte sie sich ebenfalls Gedanken. Sie schrieb darüber: „Liebe, was ist Liebe? Ich glaube, dass Liebe etwas ist, was sich eigentlich nicht in Worte fassen lässt. Liebe ist, jemanden zu verstehen, ihn gernzuhaben, Glück und Unglück mit ihm zu teilen. Und dazu gehört auf die Dauer auch die körperliche Liebe. Du hast etwas geteilt, etwas hergegeben und etwas empfangen. Und ob du dann verheiratet oder unverheiratet bist, ob du ein Kind kriegst oder nicht, ob die Ehre weg ist, auf das alles kommt es nicht an, wenn du nur weißt, dass für dein ganzes weiteres Leben jemand neben dir steht, der dich versteht und den du mit niemandem zu teilen brauchst!“22 Anne Frank hatte dadurch eine individualistische Sichtweise auf die Liebe, die aber für Paare untereinander auch zutreffen mag. Bemerkenswert ist, dass sie keine unbedingte Notwendigkeit in einer Ehe sah, sondern die Liebesbeziehung zwischen zwei Menschen in den Fokus rückte.
Anne Frank schuf anderen ein personifiziertes Vorbild, aber war selbst ohne eins. So notierte sie über ihre Schwester Margot am 5. Februar 1943, als ihre Eltern sagten, sie solle doch sich an ihr ein Beispiel nehmen: „Ich gebe auch gerne zu, dass ich ganz und gar nicht wie Margot werden will. Sie ist mir viel zu lasch und gleichgültig, lässt sich von jedem überreden und gibt in allem nach. Ich will einen kräftigeren Geist haben!“23 Anne Frank wollte also Charakterstärke als Eigenschaft besitzen, was ihr aber kein familiäres Vorbild geben konnte. „Manchmal glaube ich, dass Gott mich auf die Probe stellen will, jetzt und auch später. Muss ich ein guter Mensch werden, ohne Vorbilder und ohne Reden, damit ich später besonders stark werde? Wer außer mir wird später alle diese Briefe lesen? Wer außer mir wird mich trösten? Ich habe so oft Trost nötig. Ich bin so häufig nicht stark genug und versage öfter, als dass ich den Anforderungen genüge. Ich weiß es und versuche immer wieder, jeden Tag aufs Neue, mich zu bessern.“24, schrieb sie am 30. Oktober 1943 in ihr Tagebuch. Es war ihr selbst bewusst, dass sie alles andere als „perfekt“ ist. Aber genau das macht sie so nahbar. Sie sah sich auch bloß als ein normales Mädchen, nicht als eine herausragende Persönlichkeit25. Diese Bescheidenheit spiegelte sich auch in einem humanistischen Selbstbekenntnis wieder. Am 25. März 1944 schrieb sie in ihr Tagebuch: „Ich bin nicht reich, ich bin nicht hübsch, nicht intelligent, nicht klug, aber ich bin und werde glücklich sein! Ich habe eine glückliche Natur, ich liebe die Menschen, ich bin nicht misstrauisch und will alle mit mir zusammen glücklich sehen.“26 Aufgrund der Umstände scheint sie sich selbst unterschätzt zu haben, gemessen an ihrem Alter, aber Bescheidenheit bewahrt andererseits vor Hochmut. Schreiben und Geschichte waren ihre selbstgenannten Hobbys, wobei sie auch Stammbäume und antike Mythologie nannte27, welche Unterkategorien der Geschichte sind. „Ich schreibe sogar ganze Abschnitte aus der Geschichte ab.“28, notierte Anne Frank. Ihr sogenanntes „Ägyptenbuch“ legt dafür Zeugnis ab29. Sie liefert ein Beispiel dafür, dass auch die Jugend sich mit solchen Themen befassen kann.
Bei Anne Frank zeichnete sich außerdem ein beginnendes Interesse für Politik ab. Bereits in einem Brief an ihre Großmutter Alice Frank vom Frühjahr 1941 erwähnte sie die Rationierung, die es ihrer Familie schwierig machte, für sie ein neues Kleid zu beschaffen und dass sie sich wünschte, dass die „Zeiten wieder normal“ wären30. „Stundenlang könnte ich dir über das Elend, das der Krieg mit sich bringt, erzählen, aber das macht mich nur noch bedrückter. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als so ruhig wie nur möglich das Ende dieser Misere abzuwarten. Die Juden warten, die Christen warten, der ganze Erdball wartet, und viele warten auf ihren Tod.“31, schrieb Anne Frank am 13. Januar 1943 in ihr Tagebuch. Damit beschrieb sie zutreffend die Haltung der meisten Menschen in Europa. Am 27. Februar 1943 notierte sie: „Pim wartet jeden Tag auf die Invasion.“32 Diese ließ aber noch mehr als ein ganzes Jahr auf sich warten. Es wurde am 18. März 1943 die Meldung getätigt, die Türkei sei dem Krieg beigetreten33. Bereits einen Tag später schrieb Anne Frank enttäuscht, dass sich das als falsch herausstellte34. Das zeigte zumindest, dass sie sich beim Kriegsgeschehen auf dem Laufenden hielt. Ebenfalls am 19. März 1943 bezeichnete sie Hitlers Besuch bei verwundeten Soldaten, der im Radio übertragen wurde, als ein „schreckliches Marionettentheater“35, weil die Soldaten dort stolz auf ihre Verkrüppelungen präsentiert worden sind. Sie durchschaute also die Oberflächlichkeit der faschistischen Propaganda.
Den inneren Zerfall des faschistischen Italiens verfolgte Anne Frank mit Interesse. Am 3. August 1943 schrieb sie in ihr Tagebuch: „Mit der Politik geht es ausgezeichnet. In Italien ist die faschistische Partei verboten worden. An vielen Stellen kämpft das Volk gegen die Faschisten, auch Soldaten nehmen an dem Kampf teil. Wie kann so ein Land noch Krieg mit England führen?“36 Mussolini war in dieser Zeit in Italien abgesetzt worden. Am 10. September 1943 notierte Anne Frank, dass das faschistische Italien am 8. September kapitulierte, nach der Unterzeichnung eines Waffenstillstandes vom 3. September desselben Jahres. „Die Engländer sind in Neapel gelandet. Norditalien ist von den Deutschen besetzt. Am Freitag, dem 3. September, war der Waffenstillstand schon unterzeichnet, genau an dem Tag, als die Engländer in Italien gelandet sind. Die Deutschen fluchen und wettern in allen Zeitungen über den Verrat Badoglios und des italienischen Königs.“37, schrieb sie im selben Tagebucheintrag. Sie merkte nicht an, dass Mussolini in der Sozialrepublik Italien wieder an die Macht gekommen ist. Danach flauten die politischen Notizen etwas ab.
Ihr Interesse an der Politik war aber ungebrochen, auch wenn sie am 27. März 1944 schrieb: „Ein sehr großes Kapitel in unserer Versteckgeschichte auf Papier müsste eigentlich die Politik einnehmen, aber da dieses Thema mich persönlich nicht so sehr beschäftigt, habe ich es zu sehr links liegen gelassen.“38 Sie fügte aber später hinzu: „Ich habe etwas herausgefunden, und die Wirkung ist enorm. Es ist als ob du jemanden mit einer Nadel stichst und er aufspringt. Genauso funktioniert mein Mittel. Fange mit der Politik an, eine Frage, ein Wort, ein Satz, und sofort sind alle mittendrin!“39 So desinteressiert wie die erste Niederschrift vermuten lässt, war Anne Frank keineswegs. Sie erwähnte auch, dass Churchill „von allen“ geschätzt wird bei ihnen40. Das ist wenig verwunderlich, weil sie die Radiosendungen des BBC hörten und sich ihre Befreiung erhofften. Sie bezeichnete England sogar als „nichtstuend“ bis zur Invasion, kritisierte aber auch, dass die Niederländer keine britische Besatzung haben wollten und dies bedeute, dass sich die Engländer militärisch opfern sollten für Holland41. Sie erkannte also die Doppelmoral der Niederländer. Am 6. Juni 1944 schrieb Anne Frank in ihr Tagebuch „Die Invasion hat begonnen!“42 und am 9. Juni „Mit der Invasion geht es oberprima!“43. Die Freude über den D-Day wurde aber mit Vorsicht genossen. Anne Frank schrieb am 6. Juni 1944: „Das Hinterhaus ist in Aufruhr. Sollte denn nun wirklich die lang ersehnte Befreiung nahen, die Befreiung, über die so viel gesprochen wurde, die aber zu schön, zu märchenhaft ist, um je wirklich werden zu können? Sollte dieses Jahr, dieses 1944, uns den Sieg schenken? Wir wissen es doch nicht, aber die Hoffnung belebt uns, gibt uns wieder Mut, macht uns wieder stark. Denn mutig müssen wir die vielen Ängste, Entbehrungen und Leiden durchstehen. Nun kommt es darauf an, ruhig und standhaft zu bleiben, lieber die Nägel ins Fleisch zu drücken, als laut zu schreien. Schreien vor Elend können Frankreich, Russland, Italien und auch Deutschland, aber wir haben nicht das Recht dazu!“44 Man kann sehen, dass sie nur noch ausharren wollte, ohne entdeckt zu werden. Bedauerlicherweise wurde Anne Frank und ihre Familie dennoch gefasst. „Die Engländer haben den großen Angriff auf Cherbourg begonnen. Laut Pim und vaan Daan sind wir am 10. Oktober bestimmt frei.“45, schrieb sie noch voller Hoffnung am 23. Juni 1944 ins Tagebuch. Eine Hoffnung, die unerfüllt bleiben würde.
Anne Frank warf natürlich auch einen Blick auf die Ostfront. Am 31. März 1944 schrieb sie: „Die Stimmung ist im Allgemeinen wieder optimistisch für die russische Front, denn da ist es großartig! Ich schreibe zwar nicht viel über Politik, aber wo sie jetzt stehen, muss ich dir doch kurz mitteilen, nämlich dicht vor dem Generalgouvernement und bei Rumänien am Pruth. Ganz dicht bei Odessa stehen sie, und Tarnopol haben sie eingekesselt. Hier erwarten sie jeden Abend ein Sonderkommuniqué von Stalin. In Moskau wird so viel Salut geschossen, dass die Stadt jeden Tag förmlich dröhnen muss. Ob sie es schön finden, so zu tun, als wäre der Krieg in der Nähe, oder ob sie ihre Freude nicht anders äußern können, ich weiß es nicht!“46 Die Wehrmacht wurde zu der Zeit an der Südfront zurückgedrängt. Am 3. Mai 1944 notierte sie: „Die Politik hat Urlaub. Es gibt nichts, aber auch gar nichts mitzuteilen. So allmählich glaube ich auch, dass die Invasion kommt. Sie können die Russen doch nicht alles allein erledigen lassen. Übrigens, die tun zur Zeit auch nichts.“47 Das liegt wohl daran, dass die Heeresgruppe Mitte stabil blieb und an der Südfront es keine schnellen Erfolge in diesem Zeitraum gab. Am 23. Juni 1944 schrieb Anne Frank aber: „Die Russen nehmen an der Aktion teil und haben gestern ihre Offensive bei Witebsk begonnen, genau auf den Tag drei Jahre nach dem deutschen Einfall.“48 Das war der Start der Operation Bagration. Deren siegreiches Ende sollte Anne Frank nicht mehr miterleben.
Eine letzte Freude bereitete ihr das Attentat vom 20. Juli 1944. Sie schrieb darüber am Folgetag eine Tagebuchnotiz. „Nun werde ich hoffnungsvoll, nun endlich geht es gut. Ja, wirklich, es geht gut! Tolle Berichte! Ein Mordanschlag auf Hitler ist ausgeübt worden, und nun mal nicht durch jüdische Kommunisten oder englische Kapitalisten, sondern durch einen hochgermanischen deutschen General, der Graf und außerdem noch jung ist. Die ´göttliche Vorsehung´ hat dem Führer das Leben gerettet, und er ist leider mit ein paar Schrammen und einigen Brandwunden davongekommen. Ein paar Offiziere und Generäle aus seiner nächsten Umgebung sind getötet oder verwundet worden. Der Haupttäter wurde standrechtlich erschossen.“49, schrieb sie. Ihr war aber auch folgendes bewusst: „Der beste Beweis ist doch wohl, dass es viele Offiziere und Generäle gibt, die den Krieg satthaben und Hitler gern in den tiefsten Tiefen versenken würden, um dann eine Militärdiktatur zu errichten, mit deren Hilfe Frieden mit den Alliierten zu schließen, erneut zu rüsten und nach zwanzig Jahren wieder einen Krieg zu beginnen.“50 Damit durchschaute sie, was die bürgerliche Geschichtsschreibung heutzutage nicht zugeben will, nämlich, dass Stauffenberg und seine Anhänger keine Antifaschisten waren und sie nur Widerstand leisteten, weil der Krieg verlorenging. Es handelt sich dabei um einen weiteren Beleg von Anne Franks geistiger Reife.
Anne Frank strebte nach einem besseren Leben vertrat dabei eine humanistische Sichtweise. So schrieb sie am 5. April 1944 in ihr Tagebuch: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich so leben muss wie Mutter, Frau van Daan und all die anderen Frauen, die ihre Arbeit machen und später vergessen sind. Ich muss neben Mann und Kindern etwas haben, dem ich mich ganz widmen kann! Oh ja, ich will nicht umsonst gelebt haben wie die meisten Menschen. Ich will den Menschen, die um mich herum leben und mich doch nicht kennen, Freude und Nutzen bringen. Ich will fortleben, auch nach meinem Tod.“51 Ihr Ziel war es also, etwas zu schaffen, das so nützlich ist, dass es bleibt. Das hat sie mit ihrem Tagebuch geschafft. Sie war sich selbst aber nicht so sicher, ob dies etwas für die Ewigkeit wäre. Tatsächlich war sie dabei voller Selbstzweifel. Schon am 20. Juni 1942, zu Beginn des Tagebuchs, schrieb sie: „Es ist für jemanden wie mich ein eigenartiges Gefühl, Tagebuch zu schreiben. Nicht nur, dass ich noch nie geschrieben habe, sondern ich denke auch, dass sich später keiner, weder ich noch ein anderer, für die Herzensergüsse eines dreizehnjährigen Schulmädchens interessieren wird. Aber darauf kommt es eigentlich nicht an, ich habe Lust zu schreiben und will mir vor allem alles Mögliche gründlich von der Seele reden.“52 Am 29. März 1944 notierte Anne Frank, dass sie die Radioansprache vom Bildungsminister der niederländischen Exilregierung Gerrit Bolkestein gehört habe und dass dieser ankündigte, nach dem Krieg Tagebücher und Briefe aus der Besatzungszeit zu veröffentlichen53. Daraus fasste sie den Entschluss, ihr Tagebuch editorisch zu bearbeiten, sodass es später veröffentlicht werden kann. Zwei Wochen später, am 14. April 1944, wurde sie aber wieder einmal von Selbstzweifel übermannt. Sie notierte: „Alles steht durcheinander, man merkt keinen Zusammenhang, und ich bezweifle manchmal ernsthaft, ob sich später mal jemand für mein Geschwätz interessieren wird. ´ Die Bekenntnisse eines hässlichen jungen Entleins´ wird der ganze Unsinn dann heißen. Herr Bolkestein und Herr Gerbrandy werden von meinem Tagebüchern wirklich nicht viel haben.“54 Es ist klar, dass ihre Selbstzweifel unberechtigt gewesen sind. Ihr Tagebuch machte sie postum weltberühmt. Nun aber zurück zu ihrer Sichtweise auf das Leben.
Anne Frank führte Peter als ein Negativbeispiel an mit seiner Lebenseinstellung. Aus ihrer Sicht besaß er keine Ideale und er war über sich selbst verunsichert. Sie schrieb: „Mir wird bang ums Herz, wenn Peter davon spricht, dass er später vielleicht Verbrecher wird oder anfängt zu spekulieren. Obwohl es natürlich als Witz gemeint ist, habe ich doch das Gefühl, dass er selbst Angst vor seiner Charakterschwäche hat.“55 Zu diesen Eigenschaften kam sie in folgender Weise zu sprechen: „Faulheit mag anziehend scheinen, Arbeit gibt Befriedigung. Menschen, die nichts von Arbeit halten, kann ich nicht verstehen. Aber das ist bei Peter auch nicht der Fall. Er hat kein festes Ziel vor Augen, findet sich selbst zu dumm und zu unbedeutend, um etwas zu leisten. Armer Junge, er hat noch nie das Gefühl gekannt, andere glücklich zu machen, und das kann ich ihm auch nicht beibringen.“56 Anne Frank war Peter diametral entgegengesetzt in ihren Lebensvorstellungen. Sie erwähnte, dass ihr Vater aus einer „steinreichen“ Familie stammte und ihre Mutter aus einer zwar nicht reichen, dafür aber „wohlhabenden“ Familie stammte57. „Reich kann man uns auf keinen Fall mehr nennen, aber meine Hoffnung richtet sich auf die Zeit nach dem Krieg. Ich versichere dir, dass ich keinesfalls auf ein so beschränktes Leben aus bin, wie Mutter und Margot sich das wünschen. Ich würde gern ein Jahr nach Paris und ein Jahr nach London gehen, um Sprachen zu lernen und Kunstgeschichte zu studieren. Vergleich das mal mit Margot, die Säuglingsschwester in Palästina werden will. Ich male mir immer schöne Kleider und interessante Menschen aus. Ich will etwas sehen und erleben in der Welt, das habe ich dir schon öfter gesagt, und ein bisschen Geld kann dabei nicht schaden!“58, schrieb Anne Frank am 8. Mai 1944 ins Tagebuch. Sie hatte ein Interesse an Französisch und Englisch, war diese beiden Sprachen am lernen. Deshalb ist es wenig verwunderlich, dass sie Frankreich und England bereisen wollte. Für Anne Frank war Geld bloß ein Mittel zum Zweck, das sie zur Selbstverwirklichung brauchte. Sie hatte trotz ihrer Herkunft keine großbürgerliche Weltanschauung, sondern eher eine kleinbürgerliche. Das zeigte sich nicht nur an ihrem eigenen Leib.
Als eine Mischung ihres politischen Bewusstseins und ihrer humanistischen Anschauungen sah Anne Frank die Armut als ein gesellschaftliches Grundproblem. Am 13. Januar 1943 bemerkte sie: „Wir haben es gut, besser als Millionen anderer Menschen. Wir sitzen sicher und ruhig und essen sozusagen unser Geld auf. Wir sind so egoistisch, dass wir über ´nach dem Krieg´ sprechen, uns über neue Kleider und Schuhe freuen, während wir eigentlich jeden Cent sparen müssten, um nach dem Krieg anderen Menschen zu helfen, zu retten, was noch zu retten ist.“59 Man merkt, dass die Familie von Anne Frank vor dem Krieg großbürgerlich war und sich entsprechend um sich selbst kümmerte. Anne Frank selbst aber hatte einen Blick auf die Nöte der anderen. Besonders das Kinderelend ist ihr aufgefallen: „Die Kinder hier laufen in dünnen Blusen und mit Holzschuhen an den Füßen herum, kein Mantel, keine Mütze, keine Strümpfe und niemand, der ihnen hilft. Sie haben nichts im Bauch, sondern kauen an einer Mohrrübe herum. Sie gehen aus ihrer kalten Wohnung auf die kalte Straße und kommen in der Schule in eine noch kältere Klasse. Ja, es ist sogar so weit mit Holland gekommen, dass viele Kinder auf der Straße die Vorübergehenden anhalten und um ein Stück Brot bitten.“60 Anne Frank vertrat folglich die Solidarität mit den Armen. Nicht nur in diesem Tagebucheintrag.
Am 26. März 1944 verfasste sie ein Traktat über die Armut. Es handelt sich dabei um ein Plädoyer für die soziale Gerechtigkeit und Gleichwertigkeit der Menschen. „Es ist schlimm, sehr schlimm, dass in einem Land wie den Niederlanden, das sich seiner guten sozialen Gesetze und einer anständigen Bevölkerung rühmt, die Menschen einander so behandeln. Ein Bettler ist für die meisten bessergestellten Bürger minderwertig, jemand, der schmutzig und ungepflegt ist, frech und ungezogen. Aber wer von all diesen Menschen hat sich einmal gefragt, wie diese Bettler so geworden sind?
Vergleichen sie einmal ihre eigenen Kinder mit den Bettelkindern! Was ist der Unterschied zwischen ihnen? Ihre eigenen Kinder sind schön und sauber, die anderen ungepflegt und hässlich! Ist das alles? Ja, tatsächlich, darin liegt der ganze Unterschied, aber wenn ein Bettelkind ebenfalls schöne Kleider angezogen bekäme und ordentliche Manieren gelernt hätte, dann gäbe es überhaupt keinen Unterschied mehr!
Alle Menschen sind gleich geboren, alle waren sie hilflos und unbefleckt. Alle Menschen atmen dieselbe Luft, viele glauben an denselben Gott. Und doch ist der Unterschied für viele so unaussprechlich groß! Er ist groß, weil so viele sich nie darüber klargeworden sind, worin der Unterschied eigentlich liegt, denn wenn sie das getan hätten, wären sie schon längst zu der Erkenntnis gekommen, dass es wirklich keinen Unterschied gibt!“61, schrieb sie über die Gleichwertigkeit der Menschen. Das war aber noch nicht alles. „Nicht im Reichtum oder in der Macht liegt die Größe des Menschen, sondern in seinem Charakter und seiner Güte. Alle Menschen sind nur Menschen, alle Menschen haben ihre Fehler und Mängel, doch alle werden auch mit viel Güte geboren. Und wenn man nun beginnen würde, diese Güte zu vergrößern, statt sie zu ersticken, den Armen auch ein Gefühl zu geben, Mensch zu sein, dann braucht man dafür noch nicht einmal Geld oder Güter, denn das hat nicht jeder zu verschenken.“62, schrieb sie weiter. Anne Frank erkannte die Notwendigkeit zur Erziehung zu einer humanistischen Anschauung des Menschen auf den Menschen. Sie war sich bewusst, dass das nicht von selbst kommen würde. Damit ist Anne Frank dem Ansatz auf der Bewusstseinsebene von Edwin Hoernle gar nicht so fern, der einst monierte, dass Arbeiterfamilien die Geistesentwicklung ihrer Kinder dem Selbstlauf überließen, mit dem Hinweis, dass ihre Lage sie schon zur Erkenntnis führen würde. Er führte als Gegenbeleg an, dass, wenn dem so wäre, es keine unter dem bürgerlichen Einfluss stehenden Arbeiter geben dürfte63. Natürlich war Anne Frank kein sozialistischer Revolutionär, wie es Edwin Hoernle gewesen ist. Dennoch besaß sie Ansichten zum Eigentum, die durchaus Richtung Sozialismus tendierten, von ihrem humanistischen Ansatz heraus. „Alle Menschen werden gleich geboren, alle Menschen sterben wieder und behalten nichts von ihrem Ruhm auf Erden. Aller Reichtum, alle Macht und alle Größe sind nur für wenige Jahre, warum wird das Vergängliche dann so hartnäckig festgehalten? Warum können die Menschen, die zu viel für ihren eigenen Bedarf haben, dieses Zuviel nicht an ihre Mitmenschen abgeben? Warum muss man es in den wenigen Jahren hier auf der Erde so schlecht haben?“64, fragte sie. An späterer Stelle monierte sie: „Oh, wären wir doch nur so weit, wären die Niederlande und später Europa und schließlich die ganze Welt endlich zur Einsicht gekommen, dass sie unrecht handeln, wäre die Zeit doch schon gekommen, dass die Menschen einander gut gesinnt sind, in dem Bewusstsein, dass sie alle gleich sind und alle irdischen Dinge nur vergänglich!“65 Sie blieb nicht bloß bei Mahnungen über die damalige Lage, sondern machte zum Schluss der Schrift einen Aufruf: „Es gibt Platz, Reichtum, Geld und Schönheit genug in der Welt. Gott hat für alle genug geschaffen! Fangen wir alle damit an, es gerecht zu verteilen!“66 Das Privateigentum wird nicht beim Namen genannt, auch wenn ihr das Konzept im Groben zumindest klar gewesen sein dürfte, denn sie erkannte, dass nicht alle materiell in der Lage sind, etwas abzugeben. Außerdem ist ihr Ansatz utopisch, ruft dazu auf, dass jeder anfängt jedem zu helfen. Sie denkt also ohne die Klassengegensätze zu beachten. Natürlich war sich Anne Frank aufgrund dessen über die Diktatur der Bourgeoisie nicht im Klaren. „Die Welt steht hier auf dem Kopf. Die anständigsten Menschen werden in Konzentrationslager, Gefängnisse und einsame Zellen geschickt, und der Abschaum regiert über Jung und Alt, Arm und Reich.“67, schrieb sie am 25. Mai 1944 in ihr Tagebuch. Sie verstand nicht, dass die Bourgeoisie, die Reichen, mit ihrem Staatsapparat über die Werktätigen, die Armen, politisch herrschen. Zumindest erkannte sie aber die Bedeutsamkeit der sozialen Frage. Ein utopisch-sozialistischer Ansatz mag aus der Sicht des Marxismus reaktionär sein, weil ihm die wissenschaftliche Umsetzbarkeit fehlt, aber aus der Perspektive der bürgerlichen Weltanschauung ist es ein Schritt vorwärts in der geistigen Entwicklung. Es weckt das Bewusstsein für die gesellschaftlichen Probleme, auch wenn der Lösungsansatz in der Umsetzung scheitern würde. Der Jugend dürften diese Ideale von Anne Frank inspirieren. Unser Auftrag als Kommunisten ist es danach, die Jugend bei solchen Anschauungen „abzuholen“ und zur wissenschaftlichen Theorie des Marxismus zu führen.
Hoffentlich wird Anne Frank als Vorbild der Jugend das hervorrufen, was sie einst über sich selbst schrieb: „Wenn man sich verändert, merkt man das erst, wenn man verändert ist. Ich bin verändert, und zwar gründlich, ganz und gar. Meine Meinungen und Auffassungen, mein kritischer Blick, mein Äußeres und mein Inneres, alles ist verändert, und zwar zum Guten.“68 Anne Frank mag zwar keine deutsche Version von Lei Feng sein, der als Jungkommunist in der Volksbefreiungsarmee diente, bei einem LKW-Unfall sein Leben verlor und ebenfalls ein Tagebuch hinterließ, dessen vorbildlicher Inhalt eine Kampagne ins Leben rief, ihm nachzueifern69. Dafür ist sie aber auch keine Salomea Genin, die Jungkommunistin war, aber im späteren Leben den Sozialismus verwarf und sich seitdem als fromme Jüdin darbietet70. Anne Frank war zwar, wie ihre Familie, gläubige Jüdin, aber aufgrund ihrer Herkunft liberal71. Für sie war der Glaube keine Scheuklappe, sondern Teil ihres Lebens. So schrieb sie in einer Kritik an Peters Verhalten: „Er hat keine Religion, spricht spottend über Jesus Christus, flucht mit dem Namen Gottes. Obwohl ich auch nicht orthodox bin, tut es mir doch jedes Mal weh, wenn ich merke, wie verlassen, wie geringschätzig, wie arm er ist. Menschen, die eine Religion haben, dürfen froh sein, denn es ist nicht jedem gegeben, an überirdische Dinge zu glauben. Es ist nicht mal nötig, Angst zu haben vor Strafen nach dem Tod. Das Fegefeuer, die Hölle und der Himmel sind Dinge, die viele nicht akzeptieren können. Trotzdem hält sie irgendeine Religion, egal welche, auf dem richtigen Weg. Es ist keine Angst vor Gott, sondern das Hochhalten der eigenen Ehre und des Gewissens.“72 Ihre Religionsanschauung war im Kern eher säkular, sie sah darin weniger den Glauben an das Jenseits, sondern als eine moralische Stütze im Leben. Ihr ging es scheinbar mehr um Religion als gelebter Glaube, weniger um die Hoffnung auf Erlösung. Es geht also weniger darum, einer Religion anzugehören, als einen Glauben im Leben zu haben. Mao Tsetung schrieb einmal: „Wir kommen ohne Religion aus, aber nicht ohne Glauben.“73 Anne Frank scheint das so gemeint zu haben.
Anne Franks humanistische Lebenseinstellung und ihr beginnendes Interesse für Geschichte und Politik sind Grundbausteine, die wir für die sozialistische Persönlichkeitsbildung nutzen können. Daraus kann die Jugend bessere Grundlagen für eine sozialistische Geisteshaltung ziehen, als durch junge revolutionäre Märtyrer, die auf dem Schlachtfeld fielen. Lasst uns als Jugend von Anne Frank lernen, um unsere sozialistischen Ideale nicht nur in Programmen anzuerkennen, sondern auch in uns selbst zu verinnerlichen!
1Emil Kortmann „Artur Becker – Das Lebensbild eines Helden der Arbeiterjugendbewegung“, Verlag Neues Leben, Berlin 1956, S. 7.
2Vgl. Ebenda, S. 133.
3Siehe: Ebenda, S. 135.
4„Auf die Schanzen“ In: Die Rote Fahne vom 8. Januar 1921, S. 1. Es handelt sich dabei um ein abgewandeltes Zitat aus der Unabhängigkeitserklärung der Niederlande: „Ein Volk ist nicht wegen des Fürsten, sondern ein Fürst um des Volkes willen geschaffen; denn ohne das Volk wäre er ja kein Fürst.“ („Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Niederlande“ [1581] In: Hrsg.: Reinhard Pohanka „Dokumente der Freiheit“, Marix Verlag, Wiesbaden 2009, S. 21).
5Miep Gies „Meine Zeit mit Anne Frank“, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2011, S. 8.
6Eintrag vom 31. März 1944 In: „Tagebuch“ In: Anne Frank „Gesamtausgabe“, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2013, S. 197.
7Eintrag vom 22. Mai 1944 In: Ebenda, S. 237.
8Ebenda, S. 238.
9Ebenda.
10Eintrag vom 20. Juni 1942 In: Ebenda, S. 19.
11Siehe: Ebenda, S. 20.
12Eintrag vom 30. Oktober 1943 In: „Tagebuch“ In: Anne Frank „Gesamtausgabe“, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2013, S. 118.
13Eintrag vom 28. März 1944 In: Ebenda, S. 194.
14Eintrag vom 25. März 1944 In: Ebenda, S. 191.
15Eintrag vom 1. August 1944 In: Ebenda, S. 262.
16Siehe: Eintrag vom 28. März 1944: In: Ebenda, S. 194. Anne Frank notierte: „Außerdem denkt Mutter, dass Peter in mich verliebt ist. Ich wünsche mir, ehrlich gestanden, dass es wahr wäre. Dann wären wir quitt und könnten uns viel leichter näherkommen.“
17Siehe: Eintrag vom 24. März 1944 In: Ebenda, S. 189/190.
18Vgl. Eintrag vom 18. März 1944 In: Ebenda, S. 180.
19Ebenda, S. 181.
20Vgl. Ebenda.
21Ebenda.
22Eintrag vom 2. März 1944 In: Ebenda, S. 165.
23Eintrag vom 5. Februar 1943 In: Ebenda, S. 75.
24Eintrag vom 30. Oktober 1943 In: Ebenda, S. 119.
25Siehe: Eintrag vom 12. März 1944 In: Ebenda, S. 174.
26Eintrag vom 25. März 1944 In: Ebenda, S. 192.
27Siehe: Eintrag vom 6. April 1944 In: Ebenda, S. 201.
28Ebenda.
29Siehe: „Das Ägyptenbuch“ In: Ebenda, S. 455 ff.
30Vgl. Brief an Alice Frank (Frühjahr 1941) In: Ebenda, S. 408.
31Eintrag vom 13. Januar 1943 In: „Tagebuch“ In: Ebenda, S. 73/74.
32Eintrag vom 27. Februar 1943 In: Ebenda, S. 76.
33Siehe: Eintrag vom 18. März 1943 In: Ebenda, S. 80.
34Siehe: Eintrag vom 19. März 1943 In: Ebenda.
35Ebenda, S. 81.
36Eintrag vom 3. August 1943 In: Ebenda, S. 102.
37Eintrag vom 10. September 1943 In: Ebenda, S. 113.
38Eintrag vom 27. März 1944 In: Ebenda, S. 192.
39Ebenda, S. 193.
40Vgl. Ebenda.
41Vgl. Eintrag vom 13. Juni 1944 In: Ebenda, S. 146.
42Eintrag vom 6. Juni 1944 In: Ebenda, S. 243.
43Eintrag vom 9. Juni 1944 In: Ebenda, S. 245.
44Eintrag vom 6. Juni 1944 In: Ebenda, S. 244.
45Eintrag vom 23. Juni 1944 In: Ebenda, S. 251.
46Eintrag vom 31. März 1944 In: Ebenda, S. 197.
47Eintrag vom 3. Mai 1944 In: Ebenda, S. 221.
48Eintrag vom 23. Juni 1944 In: Ebenda, S. 251.
49Eintrag vom 21. Juli 1944 In: Ebenda, S. 260.
50Ebenda, S. 260/261.
51Eintrag vom 5. April 1944 In: Ebenda, S. 200.
52Eintrag vom 20. Juni 1942 In: Ebenda, S. 18.
53Siehe: Eintrag vom 29. März 1944 In: Ebenda, S. 196.
54Eintrag vom 14. April 1944 In: Ebenda, S. 210.
55Eintrag vom 6. Juli 1944 In: Ebenda, S. 253.
56Eintrag vom 6. Juli 1944 In: Ebenda, S. 253.
57Vgl. Eintrag vom 8. Mai 1944 In: Ebenda, S. 226.
58Ebenda.
59Eintrag vom 13. Januar 1943 In: Ebenda, S. 73.
60Ebenda.
61„Gib!“ (26. März 1944) In: Ebenda, S. 346.
62Ebenda, S. 347.
63Vgl. Edwin Hoernle „Kommunistische Kindergruppen“ In: „60 Jahre revolutionäre deutsche Kinderbewegung“, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1980, S. 54.
64„Gib!“ (26. März 1944) In: Anne Frank „Gesamtausgabe“, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2013, S. 346.
65Ebenda, S. 347.
66Ebenda, S. 348.
67Eintrag vom 25. Mai 1944 In: „Tagebuch“In: Ebenda, S. 239.
68Eintrag vom 25. März 1944 In: Ebenda, S. 190.
69Siehe: „Lernt von Lei Feng“ (6. März 1963) In: „Selected Works of Zhou Enlai“, Vol. II, Foreign Languages Press, Beijing 1989, S. 432, Englisch.
70Siehe: Salomea Genin „(Rückkehr zum Judentum)“ (Juli 1989) In: „DDR-Geschichte in Dokumenten“, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1998, S. 426/427.
71Siehe: Miriam Pressler „Anne Franks Leben“ In: Anne Frank „Gesamtausgabe“, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2013, S. 505.
72Eintrag vom 6. Juli 1944 In: „Tagebuch“ In: Ebenda, S. 254.
73„Randnotizen zu: Friedrich Paulsen ´System der Ethik´“ (1917/1918) In: „Mao´s Road to Power“, Vol. I, M. E. Sharpe, Armonk (New York)/London 1992, S. 300, Englisch.