An falschen Fronten

übernommen von Dagmar Henns Blog Das kate Herz

 

Theodor_Hosemann,_Armut_im_Vormärz,_1840(1)Zweitens hat die englische Bourgeoisie das irische Elend nicht nur ausgenutzt, um durch die erzwungene Einwanderung der armen Iren die Lage der Arbeiterklasse in England zu verschlechtern, sondern sie hat überdies das Proletariat in zwei feindliche Lager gespalten. Das revolutionäre Feuer des keltischen Arbeiters vereinigt sich nicht mit der soliden, aber langsamen Natur des angelsächsischen Arbeiters. Im Gegenteil, es herrscht in allen großen Industriezentren Englands ein tiefer Antagonismus zwischen dem irischen und englischen Proletarier. Der gewöhnliche englische Arbeiter haßt den irischen als einen Konkurrenten, der die Löhne und den standard of life |Lebensstandard| herabdrückt. Er empfindet ihm gegenüber nationale und religiöse Antipathien. Er betrachtet ihn fast mit denselben Augen, wie die poor whites |armen Weißen| der Südstaaten Nordamerikas die schwarzen Sklaven betrachteten. Dieser Antagonismus zwischen den Proletariern in England selbst wird von der Bourgeoisie künstlich geschürt und wachgehalten. Sie weiß, daß diese Spaltung das wahre Geheimnis der Erhaltung ihrer Macht ist.


Karl Marx

Nachdem die Debatte über Migrationspolitik so wirr wie moralistisch geführt wird, ist es an der Zeit, sich mit der Frage etwas grundsätzlicher auseinanderzusetzen. Und das heißt, vor allem zu bestimmen, wo der richtige Klassenstandpunkt zu finden ist.

Die offizielle Debatte, der sich leider die meisten Linken kritiklos anschließen, behauptet, es sei Integration versucht worden, und der strittige Punkt ist stets, ob sie nun erfolgreich gewesen sei oder nicht. Der Gedanke, Integration sei nie das erwünschte Ziel gewesen, ist in dieser Debatte nicht vorhanden; dabei lässt sich genau dieser Standpunkt aus der konkreten Politik belegen.

Welches Ziel aber wird mit dem regelmäßigen Import neuer nationaler Minderheiten verfolgt, die nicht integriert werden sollen? Die zielgerichtete Spaltung der Bevölkerung. In den letzten Jahren konnte man beobachten, wie erfolgreich diese Strategie ist, und wie hilflos die Versuche der Entwicklung einer Gegenstrategie. Diese Hilflosigkeit beruht eben darauf, dass die richtigen Fragen gar nicht erst gestellt werden.

Jede kapitalistische Gesellschaft ist die Herrschaft einer kleinen Minderheit über eine große Mehrheit. Wie jede andere kleine herrschende Klasse steht die Klasse der Kapitalbesitzer vor dem grundlegenden Problem, zahlenmäßig weit unterlegen zu sein, und wie jede andere herrschende Klasse vor ihr reagiert sie darauf mit drei Strategien – der Errichtung eines Systems der Unterdrückung in Gestalt von Polizei und Gefängnissen, der Erzeugung von Kooperation der Beherrschten, die über die herrschende Ideologie und z.B. das Schulsystem gefördert wird, und die Nutzung jeder Möglichkeit, die beherrschten Klassen zu spalten.

In Deutschland ist die Technik der Spaltung besonders weit gediehen. Der Grund dafür liegt in der besonderen Stärke, die die deutsche Arbeiterbewegung einmal besaß, und in der Tatsache, dass die Theorie des Marxismus tief in der deutschen philosophischen Tradition wurzelt. Die einfachste und oft unterschätzte Form dieser Spaltung ist das Gefälle zwischen unterschiedlichen Lohngruppen, das die Illusion fördert, jener, der ein höheres Einkommen erzielt, leiste einen wertvolleren Beitrag zum gesellschaftlichen Produktionsprozess wie jener, dessen Einkommen niedriger ist. Dass eine Lohnspreizung in diesem Ausmaß nicht unmittelbare Folge einer kapitalistischen Produktionsweise ist, sondern das Ergebnis einer gezielten Strategie des Kapitals (die erbärmlicherweise von den Gewerkschaften mit getragen wurde), lässt sich schnell erkennen, wenn man die Lohnspreizung etwa in der Schweiz mit der hiesigen vergleicht. Dort wurde jüngst ein Volksbegehren zu einer Begrenzung der Managergehälter auf das Zwölffache des niedrigsten Lohns innerhalb eines Unternehmens vor allem mit dem Argument abgeschmettert, es gäbe in der ganzen Schweiz nur eine Handvoll Unternehmen, in denen überhaupt ein höheres Gehalt gezahlt würde. In der Bundesrepublik kann der Abstand zwischen dem niedrigsten und dem höchsten Lohn innerhalb eines Unternehmens problemlos das Hundertfache überschreiten.

Unmittelbar im Bereich dieser Lohnspreizung liegt die Spaltung zwischen Männern und Frauen. Die Bundesrepublik ist das einzige hochindustrialisierte Land, in dem der Abstand zwischen den Geschlechtern über zwanzig Prozent liegt, und das schon bei den Stundenlöhnen. Über den Lebensverlauf hinweg wird eine noch weit höhere Spaltung erzielt. Auch hier gilt, es handelt sich nicht um eine zwangsläufige Folge, sondern um eine Strategie – im Nachbarland Frankreich liegt dieser Unterschied bei wenigen Prozent.

Die nächste tiefe Spaltung ist die zwischen dem Gebiet der alten Bundesrepublik und dem annektierten Staatsgebiet der DDR. Auch diese Kluft wird beharrlich weiter aufrechterhalten.

Und schließlich ist da die in jeder Armutsstatistik belegte Spaltung zwischen der eingeboren deutschen und der Migrationsbevölkerung.

Ist das Zufall? Ein Versehen? Nein, darum handelt es sich nicht. Die Spaltung der Arbeiterklasse ist ein absolut zentrales Mittel der Herrschaft; sie wird mit allen verfügbaren Mitteln verstärkt und immer wieder bekräftigt. Man muss nur einen Blick auf die regelmäßig wiederholten Denunziationsrunden gegen die Bürger der DDR werfen (die nur scheinbar auf ‚geschichtliche Aufarbeitung‘ zielen), um zu sehen, dass Fremdheit und Verachtung gezielt gefördert werden, selbst innerhalb der eigenen Nation.

Das amerikanische Vorbild

Nicht das erste Mal folgt das deutsche Kapital hier dem Vorbild der Vereinigten Staaten. Als nach dem Ende des zweiten Weltkriegs die Politik Roosevelts wieder zurückgerollt wurde (ein langfristiger Prozess, in dem sich der Spitzensteuersatz von 95% bis 1972 hielt), waren zwei Säulen dafür von besonderer Bedeutung – ein regelmäßiger Zufluss neuer (vorzugsweise illegaler) Einwanderer und eine gezielte Verstärkung der Rassenspaltung. Die Bürgerrechtsbewegung, die in Reaktion darauf entstand, konnte zwar vorübergehend dagegen steuern, scheiterte aber letztlich an der Mischung aus verstärkter Unterdrückung und der Flutung der schwarzen Ghettos mit Drogen; übrig blieb als Gewinner eine kleine Schicht schwarzer Aufsteiger, die in der Folge nur noch ihre eigenen Interessen vertraten, was von einem im Ansatz revolutionären Aufbegehren um Gleichheit nur noch die lächerliche Fassade der Identitätspolitik übrig ließ.

Nicht die legale, sondern die illegale Einwanderung war der entscheidende Faktor in dieser Strategie. Denn nur eine Gruppe völlig rechtloser Arbeitskräfte erzielte den Druck auf die Löhne, der gewünscht war; und weil das US-amerikanische Recht spätestens die zweite, im Lande geborene Generation legalisiert, muss beständiger Nachschub gesichert werden. Dass die sogenannte liberale Mittelschicht, deren Tätigkeiten genug Bildung voraussetzen, um sie der unmittelbaren Konkurrenz mit den neuen Migranten zu entheben, mit dieser Strategie kooperiert, wird dadurch gesichert, dass sie in Gestalt von günstigen Putzfrauen und Nannies an den Früchten teilhaben darf.

Ein weiterer, ökonomisch durchaus bedeutender Aspekt der US-Strategie ist der zielgerichtete ‚brain-drain‘ über die amerikanischen Universitäten und die Green-Cards. Hier geht es um die Abwerbung bereits ausgebildeter Kräfte aus anderen Ländern, faktisch weltweit. Die staatlich finanzierte Ausbildung wird dabei eingespart und die Kosten anderen, weit ärmeren Ländern auferlegt.

Der heutige Zustand der USA ähnelt jenem zu Beginn der dreißiger Jahre, allerdings ohne die damals starke Arbeiterbewegung – massenhafte Verelendung, Zeltstädte von Obdachlosen quer durch das Land, über vierzig Millionen Menschen, die nur mit Lebensmittelgutscheinen überleben. Dennoch herrscht relative Ruhe. Dafür spielt die hohe Kriminalität eine entscheidende Rolle. Sie nützt gleich mehrfach. Drogenkonsumenten sind als politische Kraft ruhig gestellt, ihre Nachbarschaft ist damit beschäftigt, sie abzuwehren, und die gigantische Sklaverei der Gefängnisindustrie erhält regelmäßigen Nachschub. Aus dem Blickwinkel des oberen Tausendstels der Gesellschaft ein idealer Zustand.

Die Migrationsgeschichte der Bundesrepublik

Die Migrationsgeschichte der Bundesrepublik beginnt schon vor ihrer Entstehung. Auf dem Gebiet der Westrepublik landeten mehrere Millionen Umsiedler aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten. Hier findet sich der erste Fall nicht gewollter Integration. Über viele Jahre hinweg blieben diese Menschen in Lagern. Erst, als klar war, dass man sie nicht unmittelbar in den nächsten Krieg schicken konnte und dass ihre politischen Loyalitäten in Frage standen – 1952 gab es eine von der KPD organisierte Demonstration für das Recht auf Wohnungen in Bonn, die ganz nebenbei die Bannmeile auslöste – begannen ernsthafte Bemühungen, ihnen vernünftige Behausungen und Arbeitsmöglichkeiten zu verschaffen. Gleichzeitig wurde bei dieser Gruppe aber alles dafür getan, dass sie ihre alte Identität behielten; über die Vertriebenenverbände und deren -öffentlich finanzierte – Brauchtumspflege wurde etwas aufrechterhalten, was man im migrationspolitischen Diskurs der Bundesrepublik eine ‚Parallelgesellschaft‘ nennt. Sie wurden bevorzugt in geschlossenen Gebieten angesiedelt, um zu verhindern, dass sie sich vor allem als Bürger des neuen Staates begreifen.

Die zweite Phase der Migrationsgeschichte folgt dem Muster des ‚Brain-Drains‘ und zielte auf die junge DDR. Es wurden gezielt ausgebildete Kräfte abgeworben, vorzugsweise Wissenschaftler und Mediziner. Solange diese Abwerbung möglich war, wurde wenig in den Ausbau der Universitäten im Westen investiert. Erst als der Mauerbau diesen Zufluss unterbrach, wurde für eine kurze Zeit der Zugang zu den Universitäten auch für Kinder aus Arbeiterfamilien ermöglicht – man könnte behaupten, die kurze demokratische Blüte der BRD Ende der 1960er bis Anfang der 1970er sei eine direkte Folge der Mauer gewesen. Zu keinem anderen Zeitpunkt der bundesdeutschen Geschichte findet sich eine vergleichbare Durchlässigkeit der Gesellschaft nach oben…

Parallel zur Öffnung der Universitäten für die Kinder der einheimischen Arbeiter fand der erste massive Import nichtdeutscher Arbeitskräfte statt. Italiener, Portugiesen, Spanier, Griechen, Jugoslawen kamen bis Anfang der 1970er. Als Abschluss dieser Welle, die zum Unwillen des deutschen Kapitals manchmal durchaus klassenbewusste Kräfte hereinspülte, folgten die Türken, die bereits gezielt aus den rückständigsten Regionen des Landes geholt wurden.

Diese Migrationswelle war das Ergebnis einer politischen Entscheidung. Es hätte die Möglichkeit bestanden, das Arbeitskräftepotential der Frauen zu nutzen, das zu diesen Zeitpunkt noch weitgehend brach lag; das hätte aber aus der Sicht des Kapitals zwei Nachteile mit sich gebracht. Zum einen hätte es öffentlicher Investitionen in die Kinderbetreuung bedurft, um diese Arbeitskräfte verfügbar zu machen; zum Anderen hätten diese Frauen zu diesem Zeitpunkt erfolgreich eine finanzielle Gleichstellung einfordern können (wie es im Nachbarland Frankreich, das genau diesen Schritt zu diesem Zeitpunkt unternahm, auch geschah). Damit wäre eine der grundlegenden Spaltungen der Arbeiterklasse in Frage gestellt worden. Das deutsche Kapital entschied sich für eine weitere zusätzliche Spaltung.

Zwischen dieser Migrationswelle und der letzten in Gestalt wirklicher und vermeintlicher Syrer liegen noch mehrere weitere; ‚Aussiedler‘ und Russlanddeutsche, Flüchtlinge aus dem vom deutschen Kapital betriebenen Krieg in Jugoslawien, legale und illegale Voll- und Teilzeitmigranten aus diversen osteuropäischen Ländern, nicht zu vergessen die ‚Binnenmigration‘ nach der Annektion der DDR. In manchen Momenten ist diese Strategie zumindest teilweise gescheitert – die Osteuropäer merkten sehr schnell, dass in anderen westeuropäischen Ländern besser gezahlt wird als in der Bundesrepublik und viele polnische Bauarbeiter zogen weiter nach Großbritannien oder Frankreich, statt hier dauerhaft den Niedriglohnsklaven zu geben. Aber es lässt sich festhalten, dass unabhängig vom Stand der Konjunktur das Wirtschaftsmodell des deutschen Kapitals auf regelmäßigen Zufluss möglichst sprachunkundiger, rechtloser und vor allem wehrloser Arbeitskräfte setzt und die Spanne zwischen einer Welle und der nächsten selten zehn Jahre überschreitet. Das amerikanische Modell wurde erfolgreich übernommen.

Die Bundesrepublik – ein Vielvölkerstaat?

Die erste Konsequenz, die man aus dieser Migrationsgeschichte ziehen muss, ist die, dass es sich bei jeder dieser Migrationswellen um einen gezielten Angriff des Kapitals auf die Arbeiterklasse handelt. Das ist kein subjektives Empfinden, sondern eine objektive Tatsache. Erst wenn man diesen Punkt klar erfasst hat, kann man in der Folge zu einer richtigen Strategie gelangen.

Betrachten wir also die Frage der Integration. Ist Integration gewünscht? Integration in dem Sinne, dass sich alle Beteiligten als Bestandteil ein und desselben Staatsvolks betrachten, als Bestandteile ein und derselben Arbeiterklasse, und als solche ihre gemeinsamen Interessen artikulieren und gegen die herrschende Klasse durchzusetzen versuchen? Sicher nicht. Was im Interesse des Kapitals gewünscht ist, ist in dem Wort ‚Betriebsfrieden‘ passend zusammengefasst und heisst praktisch: sie müssen sich weder mögen noch verstehen, sie sollen nur nicht aufeinander losgehen, solange sie auf dem Betriebsgelände sind. Mehr an Integration schadet den Kapitalinteressen.

Die politische Rhetorik schwatzt allerdings ständig von Integration, zumindest, seit sie die Vokabel der Assimilierung gestrichen hat. Es wird behauptet, dieses Land empfange Zuwanderer mit offenen Armen. Wie sieht nun aber die Praxis aus?

Praktisch leben wir längst in einem Vielvölkerstaat. In der Kinderkrippe, die meine Zwillinge besuchten, hatten die dort anwesenden etwa vierzig Kinder Wurzeln in zwanzig verschiedenen Ländern (meine Zwillinge mit ihrem nigerianischen Vater eingeschlossen). Auch in Kindergarten und Grundschule war das Deutsche die Lingua Franca eines weltumspannenden Gemischs aus Dutzenden Sprachen und Kulturen. Es gab eine umfassende ‚wir sind bunt‘-Rhetorik, die allerdings nichts daran änderte, dass Kinder, die wenig Deutsch sprachen, erbarmungslos unter die künftigen Hauptschüler aussortiert wurden; eine unvermeidliche Folge, wenn die Lehrkräfte keinerlei Kenntnisse in der Vermittlung des Deutschen als Zweitsprache mitbringen.

Damit ein Vielvölkerstaat funktioniert, und zwar in dem Sinne funktioniert, dass jeder Bürger gleiche Rechte besitzt, muss ein ziemlicher Aufwand getrieben werden. Das heißt, es müsste. Rechte bestehen hier nicht nur in Bezug auf den Umgang mit Behörden, der für jeden mit der gleichen, niedrigen Schwelle möglich sein muss; Rechte gibt es auch im kulturellen Leben. Bis heute ist ein fremdsprachiges Erläuterungsblatt zum Ausfüllen eines deutschen Formulars schon das höchste der Gefühle, und vielleicht ist ein deutsches Amt so gnädig, Sprachmittler zu stellen (also vielleicht minderqualifizierte, auf jeden Fall aber schlechter bezahlte Dolmetscher), aber eine gleichwertige Zugänglichkeit wurde noch an keinem Ort dieser Republik auch nur versucht. Sprachlosigkeit vieler hier lebender Menschen gegenüber den Verwaltungen wie gegenüber dem Gesundheits- und Bildungssystem wird schlicht hingenommen.

Wenn man sehen will, wie die Voraussetzungen wirklicher Integration seitens des Staates aussehen, muss man einen Blick zurück in die Sowjetunion werfen. In jeder Verwaltungseinheit, in der eine gesamtstaatliche Minderheit die Mehrheit stellte, musste jedes öffentliche Dokument zweisprachig erstellt werden. Ein Freund von mir war einmal in Karelien, einem überwiegend von Finnen bevölkerten Gebiet. Das dortige Theater spielte abwechselnd in Russisch und Karelisch; damit aber die jeweils anderen dem Stück folgen konnten, gab es an jedem Sitz Kopfhörer mit Simultanübersetzungen in die andere Sprache…

Man stelle sich einmal ein deutsches Stadttheater vor, das seine Aufführungen zu einem Drittel in Migrationssprachen hält. München hat über vierzig Bühnen, wenn man auch die kleinen Theaterprojekte mitzählt. Keine einzige davon spielt in einer Sprache einer der nationalen Minderheiten. Nur die Italiener können sich freuen, wenn sie in die Oper gehen; dort allerdings wird das Interesse des deutschen Publikums am Verstehen des Textes mittlerweile mit eingeblendeten Übersetzungen gestillt. Niemand ist auf den Gedanken gekommen, türkische, griechische, serbokroatische oder russische Untertitel zu liefern, ganz zu schweigen von einer Umkehrung. Die Münchner Kammerspiele spielen auch Stücke von Orhan Pamuk, aber auf Deutsch.

Hierzulande käme auf solche Überlegungen sofort der Einwand, das sei ja Luxus. Kultur ist aber kein Luxus, sondern ein notwendiges Mittel zur Selbstwahrnehmung des Menschen. Kultur ist, neben der Politik, die Technik, mit der eine Gesellschaft sich selbst wahrnimmt. Wenn Teilen der Gesellschaft Kultur verweigert wird, wird ihnen verweigert, sich selbst und ihre Position in dieser Gesellschaft wahrzunehmen und sich damit auseinanderzusetzen; damit ist aber Integration unmöglich.

Halten wir also provisorisch fest, dass die heutige Bundesrepublik zwar ein Vielvölkerstaat ist, sich aber nicht wie einer verhält.

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Die verweigerte Integration

Dass wir es hier nicht mit Unkenntnis, sondern mit Unwillen zu tun haben, lässt sich auf dem Sektor der Bildung am deutlichsten feststellen.

Über einen Zeitraum von mehr als zwanzig Jahren hinweg wurden die Kinder insbesondere der türkischen Migranten in großen Teilen der Bundesrepublik gar nicht ins normale Schulsystem integriert. Unter dem Vorwand, sie gingen ja wieder zurück in die ‚Heimat‘ wurden Sonderbeschulungsformen aufrechterhalten, in denen das Erlernen des Deutschen unwichtig war. Die Lehrpläne blieben unter Kontrolle der ‚Heimatregierungen‘, was bedeutet, dass das niedrigere Lernniveau der ärmeren Länder in der Bundesrepublik erhalten blieb. Auf diese Art und Weise wurde eine ganze Generation daran gehindert, einen gleichen Zugang zur Bildung zu erhalten.

Als dann endlich zumindest für einen großen Teil der Besuch der normalen deutschen Schulen üblich wurde, wurden an diesen aber keine Vorkehrungen getroffen, mit der geänderten Zusammensetzung der Schülerschaft umzugehen. Das Ergebnis ist eine weitere Generation mit mangelhaften Kenntnissen in zwei Sprachen (und womöglich noch mangelhafteren in Englisch als ‚erster Fremdsprache‘). Weder wurden Möglichkeiten geschaffen, die Muttersprache als Lernfach zu halten, noch wurde die Ausbildung der Lehrer an die Anforderungen angepasst. Unterricht von Deutsch als Zweitsprache ist bis heute kein verpflichtender Teil der Ausbildung zum Lehramt, obwohl es keine neue Erkenntnis ist, dass man eine zweite Sprache anders lernt als die erste. In ganz Bayern gibt es für die Lehrer aller staatlichen Schulen einen Weiterbildungskurs, um diese dringend nötige Qualifikation nachzuholen – ein zweijähriger Kurs mit 24 Plätzen pro Jahr. 24 Lehrer aus allen Grund- und Hauptschulen, aus allen staatlichen Realschulen und Gymnasien aus ganz Bayern… bei diesem Engagement bräuchte es Jahrtausende, bis tatsächlich diese dringend und grundlegend erforderlichen Kenntnisse vorhanden sind.

Wenn im Gefolge der letzten Migrationswelle durchgeknallte grüne Politiker herumgackern, man müsse arabisch als Sprache in den Schulen einführen, kann das vor diesem Hintergrund nur als besondere Form des Wahnsinns erscheinen. Die reale Konsequenz der veränderten Zusammensetzung der Schülerschaft war und ist eine andere – der Wortschatz der Lehrmaterialien wurde eingedampft, so dass selbst die deutschsprachigen Schüler nicht mehr als dreitausend Worte beherrschen müssen. Das produziert an manchen Stellen, im Qualfach Latein beispielsweise, oft wirklichen Unsinn, weil eine absolut identische und daher leicht merkbare Übersetzung einer nichtwörtlichen Platz machen muss, weil nur letztere in dem verringerten Wortschatz enthalten ist, aber es ist weitaus kostengünstiger als eine Anhebung des Deutschniveaus für alle.

Wenn jetzt manche warnen, dass die Migration zu einer Absenkung der Bildungsstandards führt, haben sie damit leider recht. Denn die Hauptvorgabe der Politik lautet, es darf nichts kosten. So wird selbst Inklusion schlicht behauptet, ohne dass zusätzliche Mittel dafür zur Verfügung gestellt werden. Auch das führt unmittelbar zu einer Verschlechterung der Bildung. Und komme mir keiner und erkläre, die Politiker wären alle so dumm, diese Konsequenz nicht erahnen zu können – so schlecht war das Bildungssystem der letzten Generation noch nicht.

Selbst jene Schritte, die als kulturelle Anerkennung verkauft werden, entpuppen sich oft als Sparmaßnahmen oder weitere Etappen der Entleerung. Wenn Schweinefleisch für alle vom Speiseplan gestrichen und durch Geflügel ersetzt wird, tritt schlicht das billigere Fleisch an die Stelle des teureren und der vermeintlich dadurch geäußerte kulturelle Respekt ist nichts als faule Ausrede, um der Kürzung ein freundliches Kränzchen umzuhängen. Nichts spricht dagegen, in den Kindergärten auch das Zuckerfest und Buddhas Geburtstag zu feiern, dafür muss man keine Martinsumzüge abschaffen. Aber gewählt wird in der Regel die lebensfeindlichere Version. Feiern wir gar nichts, dann fühlt sich auch niemand belästigt. Damit können sich dann alle als Verlierer fühlen…

Nein, das, was die Bildungspolitik treibt, gleich in welchem Bundesland, hat nichts damit zu tun, auch nur die Grundvoraussetzungen für Integration zu schaffen. Aber es gibt eine Ausnahme, eine einzige. Das System der beruflichen Bildung wurde angepasst. Der Unterricht wurde so weit verändert und konkretisiert, dass er selbst bei schlechteren sprachlichen Voraussetzungen die erforderlichen Kenntnisse vermittelt. Warum? Weil die berufliche Bildung der einzige Sektor ist, der nicht als Hauptziel die Reproduktion der Klassenverhältnisse hat. Das ganze System von der Grundschule bis zum Gymnasium folgt dem Hauptzweck, jene, die oben sind, oben, und jene, die unten sind, unten zu halten. Und wo jeweilige Migranten hingehören, ist darin fest verdrahtet – nach unten. Berufsschulen aber sollen im entsprechenden Sektor qualifizierte Arbeitskräfte auswerfen, und zwar genau so viele, wie ihnen geliefert werden. Einzig in diesem Sektor ist das Scheitern der Schüler das Scheitern der Schule. Weshalb einzig in diesem Sektor Bildung so vermittelt wird, dass sie integrativ funktioniert.

Der Fall der Berufsschulen belegt, dass das deutsche Bildungssystem an sich anpassungsfähig ist, also im Stande sein müsste, mit einer vielfältigen Schülerschar umzugehen. Dass dies nicht geschieht ist folglich ein Ergebnis politischen Willens. Der deutsche Staat verweigert die Integration.

Multikulti und ‚Parallelgesellschaft‘

Im deutschen Migrationsdiskurs gibt es zwei vorherrschende Positionen. Die eine ist am Stichwort ‚Multikulturalismus‘ zu erkennen, die andere an dem der ‚Leitkultur‘. Nüchtern gesprochen, ist die eine Version so bescheuert und menschenfeindlich wie die andere.

06_rubin_russian_pop_music_fig_01_no_downDer Multikulturalismus ist die Wiederkehr der Nationalitätenpolitik der Sowjetunion als Werbetafel. Eine wirkliche Wahrnehmung anderer Kulturen (was die Wahrnehmung möglicher Konflikte einschließt) ist nicht erwünscht, nur das Vorzeigen möglichst entleerter Attribute, eine Art Touristenfolklore ohne Notwendigkeit des Reisens. Die Ikonografie der ‚Wir sind bunt‘-Attitüde ist ganz und gar der sowjetischen Plakatkunst entlehnt, allerdings ohne je die rechtlichen und politischen Voraussetzungen auch nur ins Auge zu fassen. Das ist unter kapitalistischen Voraussetzungen auch schwierig. Der Fremde wird angeeignet wie der Sarottimohr, als dekorative Erweiterung, als Kolonialware; dass Migration ein gewaltsamer Prozess ist, der für Viele in schmerzhaftem Scheitern endet, wird vollständig verleugnet. Man schafft ein wenig sozialpädagogischen Betreuungsapparat und freut sich über die verlängerte Speisekarte, denkt vielleicht (welche Kühnheit) über ein kommunales Wahlrecht nach, aber der Aufwand für eine wirkliche rechtliche Gleichstellung könnte die eigene Komfortzone bedrohen. Nicht einmal die ehemalige Multikulti-Vorzeigestadt Frankfurt schaffte es auch nur bis zu einem migrationssprachlichen Theater. Das Ideal der Multikulti-Szene ist eine Anhäufung sogenannter ‚leerer Signifikanten‘, sprich, eine Aufhäufung von Symbolen, die ihren inhaltlichen Bezug und damit ihre kulturelle Kraft verloren haben.

Die andere Seite des Diskurses, die Gefolgschaft der ‚Leitkultur‘, steht immer noch auf dem Standpunkt der Debatte über die Judenemanzipation des 19. Jahrhunderts und fordert Unterwerfung unter die ‚Leitkultur‘. Darunter wird selbstverständlich einzig die Kultur der Herrschenden verstanden und ein bedeutender Teil der deutschen Kultur ausgeblendet, der sich im Widerstand zur jeweils herrschenden Klasse entwickelte. Die ‚Leitkultur‘ enthält selbstverständlich keinen Eisler und keinen Brecht (‚Multikulti‘ übrigens auch nicht), dafür viel Völkisches. Das Volk, sagte Brecht nicht zu Unrecht, ist nicht völkisch. Die größten Schätze bayrischer Volkskultur sind widerständig, widerborstig und ganz und gar nicht im Sinne der ‚Großkopferten‘. Weshalb auch hier eine Art Touristenfolklore übrig bleibt, in diesem Fall das, was gewitzte bayrische Bauern im vorvergangenen Jahrhundert zur Unterhaltung ihrer britischen Feriengäste entwickelten.

Lebendige Kultur entsteht immer mitten im gesellschaftlichen Widerspruch. Davon ist momentan wenig zu finden. Das muss auch nicht verwundern, wenn sich die Absolventen künstlerischer Ausbildungen fast vollständig aus den Kreisen der Oberschicht rekrutieren, die wenig an den herrschenden Verhältnissen auszusetzen hat; und spätestens seit der Einführung von Hartz IV und der damit einhergehenden Streichung der Sozialhilfe, die immer auch ein verborgenes Subventionssystem für Künste war, wenn auch auf niedrigen Niveau, ist sichergestellt, dass nicht ernsthaft wider den Stachel gelöckt wird. Man vergleiche einmal das Niveau der kulturellen Erzeugnisse des vergangenen deutschen Staates im Osten mit den aktuellen der vollverwesteten Republik. Welche Kultur soll da bitte leiten, und wohin?

Nihilismus des Rechts

Die Maßgabe der sowjetischen Politik war sehr simpel: Gewährleistung maximaler kultureller Freiheit und politischer Vertretung unter Maßgabe völliger Einhaltung der Gesetze.

Die bundesdeutsche Justiz ist inzwischen heiter auf dem Weg zum völligen Rechtsnihilismus. Die Großen lässt man mit freundlichem Lächeln laufen, verknackt Rentnerinnen wegen Mundraubs, praktiziert also Klassenjustiz in der Geschmacksrichtung Vormärz, offen und unverhohlen; in ganzen Bereichen wird permanentes Unrecht einfach dadurch abgesichert, dass Verwaltungen in jenen wenigen Fällen, in denen das Unrecht vor Gericht zu landen droht, dann einzelne Bescheide korrigieren, ohne zu rechtmäßiger Praxis zurückzukehren; die Strafverfolgung anglifiziert sich, indem die Ergebnisse ausgehandelt werden, um den Prozess zu sparen, und damit demjenigen, der die besseren Anwälte bestellen kann, von vorneherein den Sieg zusprechen; komplizierte Fälle werden nach Möglichkeit gar nicht erst verfolgt, aber die Gefängnisse mit Schwarzfahrern bis an die Füllgrenze vollgestopft. Man kann wieder die frühen Artikel von Marx über die Verfolgung des Holzsammelns in Fürstenwäldern lesen, ohne sich in die Vergangenheit versetzt zu fühlen; man ersetzte Holz durch Pfandflaschen oder Containern, und schon erstehen vor dem inneren Auge mehrere aktuelle Fälle…

Einige besonders bizarre Fälle finden sich im Umgang mit Migranten der neueren Welle. Ein islamistischer Tschetschene, der seine Frau erstochen hat, wird nur wegen Totschlags verurteilt, weil er ja erst seit drei Monaten hier sei und nicht habe wissen können, dass Ehefrauen erstechen in Deutschland nicht erlaubt sei. Früher einmal hätte ein deutscher Jurist sich kundig gemacht, wie denn die Rechtslage in Tschetschenien wäre, hätte erfahren, dass Ehefrauen erstechen auch dort nicht legal ist, und hätte entsprechend geurteilt. In Österreich (ich bitte um Entschuldigung, aber der Fall hätte hier auch so passieren können, und das Beispiel ist einfach zu deutlich) wurde ein Iraker freigesprochen, der einen zehnjährigen Jungen im öffentlichen Schwimmbad vergewaltigte, weil er das ‚Nein‘ nicht habe verstehen können.

Das ist eine besonders perfide Form des Rassismus, weil sie Migranten so behandelt, als seien sie frisch vom Baum herabgestiegene Idioten ohne jede Vorstellung menschlicher Moral. Wenn die Justiz so agiert, signalisiert sie dem Rest der Gesellschaft: das sind Idioten, und das dürfen auch Idioten sein. Eine Art Ausnahmerecht ist allerdings eine der besten Methoden, um Feindseligkeiten zwischen Bevölkerungsgruppen in einem Vielvölkerstaat zu schüren. Wie gesagt, maximale kulturelle Freiheit und politische Vertretung bei völliger Einhaltung der Gesetze, das ist die Richtlinie, nach der Integration tatsächlich gelingt. Die einzige Richtlinie, der das in der Geschichte der Menschheit derart gelungen ist.

Die Bundesrepublik verzichtet aber auf die Einhaltung der Gesetze; Kinderehen sind zulässig, Straftaten werden beurteilt, als gäbe es in den Herkunftsländern kein Strafrecht (und es gibt keinen einzigen Staat auf diesem Planeten, der kein Strafrecht besitzt), und dank der mit Schwarzfahrern und anderen Armen gefüllten Haftanstalten wird selbst in Fällen von Gewaltkriminalität kein Haftantrag mehr gestellt. Die Aufrechterhaltung der Klassenjustiz ist wichtiger als die Durchsetzung des Rechts gegenüber den neuen Migranten. Auch das macht Sinn, wenn man den Blickwinkel der oberen Zehntausend einnimmt, die ja von der alltäglichen Kriminalität nicht wirklich bedroht sind (und die nicht alltägliche, ganz große, gerne ausüben) – schließlich fehlen noch ein paar Bausteine bei der Errichtung des amerikanischen Paradieses, und eine hohe Kriminalität in den Bezirken der Armen ist ein ganz entscheidender. Einzelne Arme dann gleicher als gleich zu behandeln hebt das Misstrauen gegeneinander, und auch das ist nützlich im Sinne der Herrschaftsstabilisierung.

Die Kultivierung der Spaltung

Vielleicht sollte man die Bewertung einiger Handlungen des deutschen Staates verändern. Über Jahrzehnte hinweg wurde das Handeln deutscher Behörden bezogen auf die Gruppe der türkischen und kurdischen Migranten als Freundlichkeit gegenüber der türkischen Regierung betrachtet. Die Duldung offener Faschisten wie der grauen Wölfe, die Kontrolle deutscher Moscheen durch das türkische Religionsministerium, die Verfolgung linker türkischer Organisationen, all das wurde immer so betrachtet, als ginge es dabei um die Türkei. In Anbetracht der Hackordnung zwischen den Staaten ist eine solche Wahrnehmung absurd. Ein imperialistisches Kernland wie die Bundesrepublik erweist einer Halbkolonie wie der Türkei keine Gefallen. Der Herr poliert dem Knecht nicht die Stiefel.

Aber man kann diese ganzen Handlungen auch anders lesen. Was auf keinen Fall erwünscht war, war eine Orientierung dieser relativ großen Gruppe nach links. Die Regierung des deutschen Kapitals erwies nur sich selbst einen Gefallen, indem sie dafür sorgte, dass sich die türkischstämmigen Migranten vor allem als Türken, dann als Moslems, aber vor allem als anders als ihre deutschen Kollegen sahen. Die denkbar reaktionärste Ideologie kommt gerade recht, und dass sie sich in ethnischen Gehegen gut halten lässt, war schon aus den in Deutschland angesiedelten Gruppen der Nazikollaborateure bekannt (wer genaueres über die Verbindung zwischen Nazis und islamischen Faschisten wissen will, dem empfehle ich das Buch ‚Die vierte Moschee‘). Dass gegen kurdische Vereine vorgegangen wurde, dient in diesem Fall dem selben Zweck – hätte es hier mehr kulturelle Freiheiten gegeben als in der Türkei, hätten sich die Kurden womöglich bald als Deutsche gesehen; die Kopie der türkischen Repression folgte also wiederum dem Ziel der maximalen Spaltung.

Die Toleranz, die dem rechten Flügel des politischen Islam entgegengebracht wird (ich formuliere das so, weil es auch einen linken Flügel gibt, der nie und unter keinen Umständen toleriert wird), ist also nicht nur oder nicht einmal primär außenpolitisch begründet. Die langjährige Buhlschaft mit den Grauen Wölfen, die nicht nur die CSU unter Strauß praktizierte, folgte einem innenpolitischen Zweck. Kommerziell betrachtet hätten deutsche Pressekonzerne durchaus ein Interesse an der Produktion einer türkischsprachigen Zeitung für Deutschland haben können. Die Bindung der hier lebenden Türken an die Türkei durch dort gedruckte Zeitungen war aber politisch günstiger, weil es sie als Akteure in der deutschen Politik langfristig und gründlich vom Brett nahm.

Problematisch ist, dass auf der Linken diese Spaltungspolitik nicht gekontert wurde. Zu Zeiten der Komintern galt die Regel, dass Kommunisten immer Mitglied der Partei des Landes sind, in dem sie leben. Selbst die Interbrigadisten, die auf Seiten der Spanischen Republik kämpften, wurden Mitglieder der KP Spaniens. Fünfzig Jahre nach der jeweiligen Migrationswelle sind sowohl die türkischen als auch die griechischen Kommunisten immer noch einzig Mitglieder der Parteien ihrer Ursprungsländer, oft schon in der zweiten und dritten Generation.

Das führt dazu, dass die deutschen Kommunisten keine Ahnung haben, was Migration bedeutet, und die türkischen und griechischen Kommunisten ihre Kampfkraft von der eigentlich für sie aktuellen Front des Klassenkampfes abziehen und ihre Kenntnisse über den Migrationsprozess, seine Folgen und des Umgangs mit ihnen nicht teilen. Dass es außerdem noch eine Ost-West-Spaltung gibt, muss da nicht mehr überraschen. Allerdings lässt sich aus solcher vollendeter Ahnungslosigkeit keine sinnvolle Strategie entwickeln, die es ermöglicht, der Spaltung tatsächlich entgegenzutreten, statt nur wie in einer Sonntagspredigt eine Solidarität zu beschwören, die kaum jemand mehr erlebt hat.

Der Prozess der Migration

Ganz im Gegensatz zu dem, was die Multikulti-Anhänger behaupten, ist Migration kein Spaßevent. Im Regelfall kommen Migranten, gleich aus welchem Grund sie kommen, mit vielen Illusionen. Von außen ist nur ein numerisches Einkommen zu sehen, weder die Tatsache, dass zwei Drittel davon in der Miete verschwinden können, noch die Arbeitsverdichtung, die hier um Größenordnungen über jener eines Landes der Peripherie liegt. Auch der Zustand der Beziehungen zwischen Nachbarn, innerhalb von Familien, die sehr weit fortgeschrittene Individualisierung bzw. Vereinzelung sind aus der Ferne nicht wahrnehmbar und werden hier zur bösen Überraschung.

Woher immer man kommt und wohin immer man geht, man lässt ein ganzes Leben zurück und muss es schaffen, ein völlig neues zu beginnen. Die Zurückgebliebenen leben ihr Leben weiter, und nach nicht allzu langer Frist fühlt man sich bei Besuchen wie sein eigener Geist. Das gewesene Zuhause verflüchtigt sich und kann nicht wiedererlangt werden, bleibt nicht in Reserve. Der Ort, an dem man gelandet ist, versetzt einen in einen Zustand relativer Hilflosigkeit, einer künstlichen Kindheit, und die eingeschränkte Möglichkeit der Kommunikation engt auch die Möglichkeit der Selbstwahrnehmung ein. Diasporakulturen sind deshalb so konservativ, weil sie auf diese Weise versuchen, diese Einschränkungen zu umgehen.

Der Autonomieverlust, die Sprachlosigkeit und der Verlust des Kontakts zur Herkunftsfamilie (der oft zum vollständigen Bruch führt) enden oft in Depressionen. Die Illusionen, mit denen man den Prozess begonnen hat, lassen selbst halbwegs erfolgreiche Migrationen als Scheitern wahrnehmen. Es ist in jedem Fall eine große Lebenskrise, mindestens mit dem Tod eines nahen Angehörigen vergleichbar. Und für eine lange Zeit lässt jede größere Belastung die Sprachkenntnisse, die man mühsam erworben hat, wieder verschwinden; Menschen hüllen sich in ihre Sprachen wie in Zwiebelschalen, die äußeren fallen zuerst wieder ab und schon ganz gewöhnliche Müdigkeit kann auf die Muttersprache reduzieren.

Aus der Sicht der Mittelschichtkinder scheint das Alles ganz einfach. Ihre Welt ist überall mehr oder weniger gleich, sie essen überall die gleichen Burger von McDonalds und tragen die selben Adidas-Turnschuhe. Aber Übergänge zwischen zwei Kulturen sind nicht wirklich mit dem Kauf eines Flugtickets erledigt. Ein wirklicher Umgang mit dem Prozess der Migration setzt voraus, dass man um seinen gewaltsamen Charakter weiß, die Verluste kennt und weiß, wie mühsam Siege darin errungen werden müssen. Niemand, der dieses Wissen besitzt, hält Migration für einen einfachen Weg, Probleme zu lösen. Ganz zu schweigen davon, es zu bejubeln, wenn möglichst viele Menschen vom einen Ort an den anderen verpflanzt werden.

Einen Weg zu finden, eigene Interessen auszudrücken und durchzusetzen, setzt viel Wissen voraus. Große Teile dieses Wissens werden informell erworben. Man weiß einfach, dass man zum Arbeitsamt gehen muss, um Arbeitslosengeld zu beantragen. Man weiß, dass man Fahrkarten aus Automaten zieht. Man weiß, wann Läden geöffnet haben und wann nicht. Die Menge des informellen Wissens, das man sich bei einer Migration gezielt aneignen muss, ist groß. Das macht selbst den intelligentesten und gutwilligsten Migranten erst einmal zum relativ wehrlosen Objekt. Wenn er nicht wehrlos ist, also auf mögliche Konflikte reagiert, tut er das aller Wahrscheinlichkeit nach auf eine Art und Weise, die hier unüblich oder nicht akzeptiert ist.

Eine neue Qualität

Die letzte Migrationswelle und ihre Begleitumstände unterscheiden sich von den vorhergehenden an einigen entscheidenden Punkten. Die einzige Migration, die in annähernd vergleichbarer Weise zur Spaltung der Bevölkerung genutzt wurde, waren die ‚Vertriebenen‘. Die völlig gespaltene Wahrnehmung wurde, das lässt sich am Beispiel der Kölner Silvesternacht belegen, gezielt gefördert. Auch dass durch Nichteingreifen bei entsprechenden Vorfällen in den Flüchtlingsunterkünften sexuelle Übergriffe gefördert wurden, muss man als gezielte Maßnahme bewerten. Vieles von dem, was in den letzten zwei Jahren geschehen ist, hätte verhindert werden können. Bei einem solchen Ausmaß an Fehlleistungen muss man davon ausgehen, dass es sich um Absicht handelt.

Welchen Nutzen hat das Manöver? Nun, je prekärer und krisenhafter die Gesamtentwicklung ist, desto wichtiger sind die Spaltungsprozesse. Selbst wenn immer wieder von rosigen Wirtschaftsdaten für die Bundesrepublik die Rede ist, die Krise, die 2007 begann, hat nie geendet. Sie ist nach wie vor die Quelle der akuten Kriegsgefahr, und sie ist auch die Quelle für andere, extrem feindselige Strategien.

Der Umgang mit dieser Migrationswelle und die darauf folgende zweigleisige Propaganda (die auf der einen Seite alles weiß, auf der anderen alles schwarz zeichnete), das konsequente staatliche Nichthandeln an entscheidenden Punkten bzw. das staatliche Fehlhandeln (aktuelles Beispiel: der Berliner Senat findet keine Unterkünfte für Obdachlose, weil er da 15 Euro pro Person zahlt, für die Ganztagesunterbringung von Flüchtlingen aber 50) erzeugen innerhalb der deutschen Bevölkerung eine politische Spaltung, die den Charakter eines jederzeit zündbaren Bürgerkriegs annimmt. Unter den gegenwärtigen Globalbedingungen muss man eine solche Entwicklung ernst nehmen. Die deutsche Geschichte liefert Material genug, dem deutschen Kapital ein solches Manöver zuzutrauen; es gibt kaum ein Verbrechen, das es nicht bereits begangen hat. Dieser mögliche Bürgerkrieg ist die Front, die einen Angriff von den Herrschenden ablenkt, wenn der nächste akute Schub der globalen Krise einsetzt. So, wie binnen Stunden entschieden wurde, die Grenze zu öffnen, kann binnen Stunden entschieden werden, dass die importierten Billiglöhner geeignete Opferlämmer sind.

Verhindern lässt sich das nicht mit einem ‚Aufstehen gegen Rassismus‘-Eiteitei bar jeden politischen Inhalts. Verhindern lässt sich das auch nicht, indem man jeden, der Unbehagen angesichts dieser Welle verspürt, als Rassisten mit einem Kommunikationsbann belegt. Verhindern lässt sich das nur durch politische Arbeit auf beiden Seiten, indem man beiden Seiten offenlegt, welche Ziele verfolgt werden, und sich nach Kräften bemüht, die falsche Front durch die richtige zu ersetzen.

Wo ansetzen?

Vermittlung von grundlegenden Kenntnissen, in welcher Form und an welchen Fronten hier Klassenauseinandersetzungen verlaufen, wäre absolut notwendig. Es ist aber kaum davon auszugehen, dass all die vielen Flüchtlingshelfer, die so eifrig Zeit investiert haben, diese Zeit damit verbrachten, über Tarifverträge und Gewerkschaften aufzuklären, ganz zu schweigen von Fragen wie staatlicher Überwachung, demokratischen Rechten und Auseinandersetzungen um soziale Sicherheit. Darüber aufzuklären, dass man im globalen Krieg der Reichen gegen die Armen zwar das Schlachtfeld wechseln, dem Kampf aber nicht entkommen kann, das dürfte in den wenigsten Fällen geschehen.

Die deutsche Arbeiterbewegung ist derart auf den Hund gekommen, dass die Kraft dazu, eigene Maßstäbe, eine eigene Moral zu halten, nicht mehr vorhanden ist. Diese Kraft kann erst wieder errungen werden, wenn die vielfältigen Spaltungen zumindest ansatzweise überwunden sind. Dazu braucht es zuallererst Kenntnisse über den realen Zustand, die reale Lebenswirklichkeit in allen Teilen der deutschen Arbeiterklasse (und das meint dezidiert die in Deutschland vorhandenen Angehörigen dieser Klasse, nicht nur jene, die Inhaber eines deutschen Passes sind). Dazu gehört auch, die Feinde in den eigenen Reihen zu erkennen und zu benennen. Wie und wo Solidarität gefragt ist, sollte aus dieser Kenntnis folgen.

Um diese Kenntnis zu erlangen, bräuchte es eine Konferenz der deutschen Kommunisten gemeinsam mit Vertretern aller in der deutschen Wohnbevölkerung vertretenen kommunistischen Parteien anderer Länder, also der nordafrikanischen und arabischen Kommunisten, der türkischen, griechischen, afghanischen, pakistanischen – das ist leider ein fast globales Paket. Aber mit weniger ist diese Kenntnis nicht zu erlangen, und ist keine Basis für wirkliche politische Arbeit mit Migranten zu haben. Wenn es aber nicht gelingt, klare und detaillierte Positionen zu erreichen (und man sollte wirklich die syrischen Kommunisten fragen, was sie von Asyl für syrische Dschihadisten halten), gibt es keine Grundlage für eine Politik, die die Spaltung überwindet. Sollte aber eine solche Überwindung nicht wenigstens ansatzweise gelingen, gibt es keine Möglichkeit zur Gegenwehr gegen eine Strategie, die eine Eskalation bis hin zum Bürgerkrieg vorsieht.

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